von Annika Kemmeter und Ina Nádasdy
Die anfängliche Aufregung verwandelte sich mit jeder Minute, die Katinka wartete, in genervte Ungeduld. Sie hatte sich ausgemalt, wie sie Marek überraschen würde, was sie sagen und wie er schauen würde. Sie hatte sich nicht ausgemalt, dass sie eine Ewigkeit auf der Treppe vor dem gräulichgrünen Mietshaus sitzen würde, das sie ihr Zuhause nannte. Ihr Blick wanderte immer wieder zu dem Weg, auf dem Marek jeden Augenblick erscheinen konnte, und immer wieder zurück auf ihr Handy. Manchmal, wenn ihr langweilig war, sah sie nach, was andere Leute im Moment so googelten. Doch was auch immer sie auf dem Handy antippte, sie war doch nicht bei der Sache. Wann kam Marek endlich? Sie schaltete das Handy aus und wartete. Da! Marek! Er kam mit seinem schwarzen Rucksack um die Ecke, hob eine Hand und schlurfte gemütlich weiter. Wenn Marek auf mich wartet, renne ich immer zu ihm, dachte Katinka. Warum tut er es nicht? Ist er zu cool? Oder zu schüchtern? Oder bin ich ihm nicht wichtig? Endlich stand er vor ihr. Katinka war längst aufgesprungen: „Ich habe eine Überraschung! Komm mit!“
Katinka zog Marek an der Hand um das Haus. Dann sah sie ihn an, gespannt auf seine Miene.
Er reagierte nicht, wie sie erwartet hatte: Er starrte nur auf das Ding vor sich und sein Mund öffnete sich langsam und schloss sich wieder, nur um dann wieder aufzugehen.
„Nicht dein Ernst“, sagte er und sah dann zu Katinka hinüber. Er deutete auf das Wesen, das an einem Baum angekettet vor ihm stand und die Zähne fletschte. Es war hundeähnlich. Der Kopf des Tieres erinnerte an den einer Hyäne. Der vordere Teil des Körpers war massig, der hintere Teil zwar muskulös, aber nicht so wuchtig. Das Tier war groß, seine Pranken riesig. Es hatte goldenes Fell, an den Flanken dunkle Flecken und Streifen. Der Schwanz war buschig und lag dicht an seinen Hinterläufen an.
„Was, wenn es jemand gesehen hat?“, fragte Marek böse.
„Niemand hat es gesehen. Keiner der Leute, die in diesem Haus wohnen, schauen je aus dem Fenster. Geschweige denn, dass sie in diesen Garten gehen.“
Das Tier fauchte und zerrte an seiner Kette, so dass die Äste des Baumes zitterten.
„Wir wissen doch nicht einmal, was es ist. Es ist bestimmt gefährlich“, sagte Marek.
„Vielleicht hat es nur Angst“, erwiderte Katinka. „Vielleicht hat es Schmerzen.“
Marek rieb sich seinen Nacken, wo sich seine Haare aufgestellt hatten. Was hatte sich Katinka nur dabei gedacht?
„Es saß ja auch lange im Lieferwagen…“, plapperte Katinka besorgt weiter. „Es hat da drin ziemlich gerumpelt, bevor der Lieferant es rausgezogen hat.“
Sie sah zu Marek. Sonst wirkte er immer so überlegen und cool. Jetzt wischte er sich fahrig seine Hände an der Hose ab und sah sich um. Hatte er etwa wirklich Angst? Angst vor dem Tier? Oder davor, was die Nachbarn sagen würden?
„Ich dachte, du freust dich“, sagte sie. Waren seine zu Schau gestellte Stärke und sein ständig behaupteter Wagemut nur Fassade gewesen? Trotz ihrer Enttäuschung erklärte Katinka: „Eigentlich solltest du es erst zum Geburtstag bekommen, aber bei bestien.de konnte man den Lieferzeitpunkt nur ungefähr einschrenken. Dann also so: Alles Gute zum Geburtstag vorträglich.“
Mareks Augen weiteten sich. „Halt, halt, halt! Nein! Ich nehme das Vieh nicht an! Katinka, bist du …“
Weiter kam er nicht. Die Bestie hatte sich mit einem ohrenbetäubenden Jaulen von der Kette losgerissen. Sie senkte sich bedrohlich angespannt über den Boden und knurrte sie an, die Augen zu Schlitzen geformt und die Reißzähne gebleckt. Die Bestie setzte zum Sprung an, ihre Muskeln angespannt, die Augen wild. Geifer lief aus ihrem Maul. Dann sprang sie. Katinka und Marek schrien auf. Beide hatten die Augen fest zusammen gekniffen und harrten der Dinge, die da kamen. Sie hatten sich fest an den Händen gepackt und hörten nur noch das schwere Schnaufen der Bestie.
„Hörst du wohl auf damit!“, rief da eine alte Stimme hinter ihnen. Sie war rau, wie eine Stimme, die von Zigarettenrauch und starkem Alkohol angegriffen war. Und sie zitterte. „Du dummes Ding, du!“
Marek und Katinka öffneten langsam die Augen und drehten sich zu der Stimme um. Eine alte Frau stand hinter ihnen. Sie musste um die neunzig Jahre alt sein, ihr Rücken war krumm, ihre Beine kurz und ihre beiden Hände waren auf einen alten Holzgehstock gestützt. Dann sahen Marek und Katinka wieder zu der Bestie. Diese war nun ganz ruhig geworden und blickte die alte Frau mit großen Augen an. Den Schwanz hatte sie fest zwischen ihre Beine gepresst und sowohl die großen aufgestellten Ohren als auch die Mundwinkel waren nach hinten gerichtet.
„Na, komm“, sagte die alte Frau und ließ ihren Stock dreimal auf den Boden aufschlagen.
Sofort kam das Tier angerannt und blieb brav vor ihr sitzen. Es sah sie erwartungsvoll an. Die Alte hielt dem Tier ihre Hände hin, dann zupfte sie es liebevoll am Ohr. „Du brauchst dich doch nicht so aufzuführen.“
Marek fand als erstes seine Sprache wieder, nachdem sich seine Zunge nicht mehr wie gelähmt anfühlte und sein Mund nach mehrmaligem Schlucken nicht mehr so trocken war. „Wer sind Sie?“, fragte er. „Und … wie haben Sie das gemacht?“
Die alte Frau gab ein gurgelndes Geräusch von sich. Es sollte wohl ein Lachen sein, dachte Marek. Dann sagte sie: „Wer ich bin, ist nicht so wichtig. Die Frage ist eher, was ihr mit einem Animavore hier macht.“
„Einem was?“, fragte Katinka.
„Einem Animavore. Einem Seelenfresser.“
Seelenfresser! Marek sprang auf. Er sah von der Alten zu der Bestie und zurück.
„Das kann kein Animavore sei! Ich habe eine Goldmorphe bestellt. Moment …“ Katinka rappelte sich auf. Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche und tippte wild darauf herum. Die Alte ließ ihren Stock fallen und machte mit beiden Armen seltsame Bewegungen. Die Bestie beobachtete sie, dann legte sie sich mit einem kurzen Jaulen auf den Boden. Die Alte streichelte und tätschelte sie.
„Hier, sehen Sie? Goldmorphe!“, sagte Katinka. Sie wischte auf ihrem Handy herum, während sie zu der Alten stapfte und ihr das Handy zeigte. Katinka stand jetzt gefährlich nah an der Bestie, die ihre Augen schon wieder zu Schlitzen formte. Die Alte gab wieder das gurgendle Geräusch von sich. Marek trat einen Schritt zurück.
„Morphe von was, Mädchen?“, raunte sie, ohne einen Blick auf das Handy zu werfen. „Es gibt verschiedene Seelenfresser. Das hier ist ein goldenes Exemplar. Ein sehr schönes, übrigens. Man sollte nur wissen, worauf man sich da einlässt. Der Name kommt ja nicht von ungefähr, nicht wahr?“
Marek und Katinka sahen einander, dann den Seelenfresser und schließlich die alte Frau an. Sie waren ratlos. Zwar wussten sie jetzt, womit sie es zu tun hatten, aber wie sollte es weitergehen?
„Komm her, Bursche“, sagte die Alte und winkte Marek zu sich. Nur zögerlich bewegte Marek sich zu ihr hin. Jeder Schritt war anstrengend, als ob er durch kniehohes Wasser waten würde.
„Na, jetzt zier dich nicht so. Komm her“, sagte sie wieder und packte ihn, als er in ihrer Nähe war, am Arm. Sie hatte enorme Kraft. Das hatte Marek ihr kaum zugetraut. Sie zog ihn mit sich zu dem Tier, das noch auf dem Boden lag. Es knurrte und fletschte seine Zähne.
„So“, begann die Alte, „Knie dich hin, ganz langsam.“
Marek schaute sie schockiert an. Auch Katinka schnappte hörbar nach Luft.
Zu der Bestie sprach die alte Frau: „Du sei jetzt schön brav. Sonst gibt’s keine Seelen für dich!“
Dann bedeutete sie Marek, dass er das Tier streicheln könnte. Aber er traute sich nicht. Hilfesuchend sah er zu Katinka. Die Alte gab wieder ihr gurgelndes Lachen von sich und winkte Katinka hinzu. „Ist schon gut, du kannst auch kommen. Aber langsam. Sonst weckst du seinen Jagdtrieb.“
Katinka bemühte sich, langsam, aber doch auch zügig zu Marek zu gelangen. Neben ihm ging sie auf die Knie und nahm seine Hand. So ruhig sie konnte, legte sie schließlich ihre und seine Hand auf das Fell des Tieres. Es war unglaublich weich. Die Bestie schien sichtlich ruhiger zu werden.
„Kommt“, sagte die Alte. „Wir gehen zu mir auf eine Tasse Tee. Dann erzähle ich euch alles, was ihr über euren Seelenfresser wissen müsst. Habt ihr schon einen Namen für ihn?“
Marek überlegte kurz, lächelte Katinka an und drückte ihre Hand. Dann sah er zu der alten Frau und sagte: „Gmork.“
Die Goldmorphe gibt es auch als Autorenlesung unter diesem Link.
Image by S. Hermann & F. Richter from Pixabay
Der Text ist aus einer Art Schreibspiel entstanden: Ina und ich haben im Wechsel drei Absätze geschrieben. Es war auch beim Schreiben sehr spannend abzuwarten, wo die Geschichte hingeht!
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Spannend 😊
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