Systemfehler

von Lydia Wünsch

Als Daniel geboren wurde, hörte ich zum ersten Mal in meinem Leben von einem Systemfehler. Die Hebamme schlug die Augen nieder, als sie das Wort verwendete. „So etwas kommt äußerst selten vor. Die Wahrscheinlichkeit geht gegen Null. Und dann gerade bei Ihnen. Mir ist absolut schleierhaft, wie wir das so lange übersehen konnten.“

Ich verstand nicht. Ich hatte ihn doch gesehen. Für einen Moment. Er war perfekt.

Wenige Wochen nach Daniels Geburt und seinem Verschwinden, fing Ben davon an, dass wir es erneut versuchen sollten. „Wir dürfen uns nicht von unserem Kurs abbringen lassen und müssen den Blick auf unser Ziel gerichtet halten.“ Er lehnte sich gegen den Türrahmen von Daniels Zimmer, in dem ich gerade Staub wischte. „Wir sollten nicht zurückschauen. Systemfehler seien äußert selten, sagte der Arzt. Und die Wahrscheinlichkeit, dass es ein zweites Mal passiert, ist sehr gering.“

„Aber wieso hat uns niemand davor gewarnt, dass so etwas passieren könnte?“, fragte ich und strich die hellblaue Tagesdecke in Daniels Wiege glatt. „Ich war darauf nicht vorbereitet.“

„Wir lassen uns ein neues machen, das genau wie Daniel sein wird“, sagte Ben. „Du wirst keinen Unterschied bemerken.“

Ich begann die Kleidung in Daniels Schrank erneut nach Farben und Alter zu sortieren. Wir hatten sie bereits für die kommenden zwei Jahre besorgt. Wir waren perfekt vorbereitet. „Es ist nur so, dass er doch so aussah als würde er leben. Er hat geschrien und sich bewegt. Er sah nicht aus wie ein Fehler.“

Ben stieß sich vom Türrahmen ab und wandte sich um. Ich folgte ihm in die Küche wo er sich an den Tresen setzte. Sein Tablet stand darauf, in der elegant geschwungene Halterung aus Holz, die wir kürzlich gekauft hatten. Er sah mich nicht mehr an, sondern fing an, darauf herum zu tippen. Ich stand einen Moment lang unschlüssig herum. Es war noch zu früh, um das Mittagessen vorzubereiten. Die Nachbarn würden sich wundern. Also nahm ich einen Schwamm und wischte über die Arbeitsfläche.

„Natürlich sehen wir den Fehler nicht“, sagte Ben nach einer Weile ohne von seinem Tablet aufzusehen. „Wir sind keine Ärzte. Die werden bei Ihren Untersuchungen etwas Gravierendes gefunden haben. Mach dir doch keinen Kopf darüber. Es ist nicht deine Aufgabe, so etwas zu erkennen. Ich gebe zu, es wirft unseren Plan durcheinander. Aber wir liegen doch immer noch gut in der Zeit. Wir sollten nur bald den Termin machen. Dann können wir die Sache erneut angehen. Der Arzt sagt doch, du bist topfit und dein Körper bald wieder stark genug für eine erneute Schwangerschaft.“ Beim letzten Satz sah er kurz auf und zwinkerte mir zu.

„Ich wüsste nur gerne, wo man ihn hingebracht hat … Was mit ihm passiert ist.“

Die Kaumuskeln von Bens Kiefer spannten sich an. Er wirkte irritiert. „Was meinst du?“

Ich wischte weiter über den sauberen Tresen und dachte an Daniels Matrosenanzug im Schrank. Beim Sortieren hatte ich Falten entdeckt. Ich würde ihn bügeln müssen. Daniel hätte ihn mit einem Jahr tragen sollen. Damit hätte er ausgesehen wie die Puppe, die ich als Achtjährige zu Weihnachten bekommen hatte. Hellbraune Locken, dunkelgrüne Augen und pfirsichfarbene Wangen. Das sollte mein Baby sein. Das hatte ich Ben bei unserem ersten Treffen im Café der Partnerbörse gesagt. Warum auch nicht? Wir waren kompatibel. Unsere Gene passten perfekt zueinander. Das hatte der Algorithmus errechnet.

Ben erhob sich vom Barhocker und kam auf mich zu. Mit beiden Händen umfasste er meine Schultern und drehte mich zu ihm hin, sodass ich nicht mehr weiterwischen konnte. „Ich finde, du solltest dir langsam eine andere Tätigkeit suchen“, sagte er. „Meinst du wirklich, die Nachbarn glauben, dass die Arbeitsfläche immer noch schmutzig ist?“ Er lächelte zwar, sah aber plötzlich müde aus. Ich sah hoch zu ihm.

„Fragst du dich denn nie, wo er jetzt ist?“

„Das ist nicht unser Job, Schatz.“

„Ich weiß, aber er war doch mein Baby.“

„Er war ein Systemfehler.“

Er fuhr meine Schultern herab bis zu meinen Händen und hielt sie noch einen Moment lang fest. Zu fest. Es tat weh. „Autsch“, sagte ich.

Ben ließ mich sofort los, als hätte er eine heiße Herdplatte berührt. Er hatte mich noch nie grob angefasst. Für einen Moment ballte er seine Hände zu Fäusten. Er holte tief Luft, dann lächelte er mich wieder an. „Wir wollen nicht streiten, ja? Schon gar nicht bei geöffnetem Fenster.“

Er setzte sich wieder auf den Barhocker während er weiterredete. „Du bekommst alles, was du dir wünschst, wie ich es dir versprochen hatte. Unser Vertrag gilt nach wie vor.“

Es war das erste Mal, dass Ben unseren Vertrag erwähnte. So unromantisch war er sonst nicht. „Hast du etwa Angst, dass ich dich verklage? Das würde ich doch nie tun … Ich will … Ich will doch nur wissen, was mit ihm ist. Ich will wissen, was mit den Systemfehlern passiert. Ist das so verwerflich?“

Ben sah aus den mannshohen Küchenfenstern heraus, die den Blick auf die Straßen und vorbeigehenden Passanten freigaben. „Ich denke, du kannst langsam mit dem Mittagessen beginnen“, sagte er.

Ich holte ein Schneidebrett und ein besonders scharfes Messer aus der obersten Schublade. Anschließend wählte ich eine rot glänzende Paprika aus dem Gemüsefach und fing an, sie zu zerteilen. Ben tippte wieder auf seinem Tablet herum. Eine Weile war es still.

„Verzeih, wenn ich dich mit meiner Frage beunruhigt habe. Aber ich hatte ihn neun Monate in meinem Bauch. Und … ich will doch nur Informationen.“

„Und was willst du mit den Informationen machen, wenn du sie hast?“ Er klang, als würde er sich über mich lustig machen.

Für einen Moment ließ ich das Messer sinken. „Das weiß ich dann, wenn es soweit ist.“

Ben biss sich auf die Unterlippe. „Du denkst schon länger darüber nach. Hab‘ ich recht? Wieso verheimlichst du mir das?“

„Ich musste das erstmal für mich selbst sortieren.“

„Für dich selbst? Wir entscheiden doch immer alles gemeinsam.“

„Ich rede doch jetzt mit dir.“

„Nachdem du bereits eine Entscheidung getroffen hast. Du hast mich glauben lassen, wir würden darüber reden, aber du hast längst beschlossen, dir die Informationen zu beschaffen. Nicht wahr?“

„Ja, und hilfst du mir?“

Ben straffte den Rücken. Sein Gesichtsausdruck war jetzt sehr ernst. Zu ernst für meinen Geschmack.

„Denk an die Nachbarn, Schatz“, sagte ich.

„Ich darf doch wohl noch über ein Problem nachdenken“, gab er beleidigt zurück.

„Wir haben kein Problem. Nichts, das uns nachts schlecht schlafen lassen würde. Wir holen uns nur Informationen.“

„Und weißt du schon, wo du mit der Recherche beginnen willst?“ Ben stützte seine Ellbogen am Tresen ab, und knackte mit den Fingern – ein Zeichen, dafür, dass er aufgewühlt war. Verstohlen sah er sich um.

Ich hatte die Paprika mittlerweile in so kleine Stücke zerteilt, dass sie unbrauchbar geworden war. „Die Sonne ist heute besonders grell“, sagte ich. „Ich denke, wir können die Rollläden guten Gewissens herunterlassen.“  

Fortsetzung folgt …

Bildquelle: Dieses Bild wurde von einer KI generiert

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