von Arina Molchan
Der Älteste ist der Stolz der Familie. Drei Medaillen im Tae Kwon Do hat er in regionalen Wettbewerben holen können. Die Mittlere ist in Ordnung, sie ist ein braves Mädchen. Aber der Jüngste … der Jüngste mag kein Fleisch und das verzeiht ihm die Mutter nicht.
Es ist Abend. Der Vater hat das Bier offen. Die Mittlere sitzt neben ihm auf dem Sofa und kämmt ihrer Puppe das Haar. Der Fernseher läuft. Es singt Gabriella Engelhart, in einem dunkelrotem Kostüm, mit ausladenden Federn um den Hals. Künstlicher Nebel umschlingt ihre Beine. Im Hintergrund glitzert die Leinwand. Dann wird die Sendung unterbrochen. Eine Eilmeldung des Ministeriums. Es erscheint das Gesicht von Lämmermann, dem Obersten Minister für kulturell-historische Angelegenheiten.
„Sieht ein bisschen gruselig aus“, sagt die Mittlere. Lämmermann hat ein Gesicht wie eine Scheibe Lyonerwurst. Fettaugen und alles. Dem Vater gefällt er. Ist schon in Ordnung, so einer. Lyoner kann man vertrauen.
„Meine Freunde, liebe Landsmänner, liebe Mütter. Seit Jahren findet ein unsichtbarer Krieg statt. Unbemerkt hat sich der Feind in unsere Haushalte geschlichen, hat den Verstand unserer Kinder vergiftet, hat sie verführt und sie gezwungen, unsere tiefsten kulturellen Werte zu verneinen. Der Feind hat unsere Kinder zu Fleischverweigerern gemacht!“
Der Vater und die Mittlere nicken. Die Mutter kommt aus der Küche ins Wohnzimmer, um die Rede mit anzuhören. Alle wissen, wen der Oberste Minister meint. Sie haben schließlich selbst ein Opfer der Fleischverweigererpropaganda in der Familie: den Jüngsten.
Der Lämmermann hat viel zu sagen und alle hören gebannt zu. Über die Norm-angleichende Umerziehung! Deveganisierung! „ … um den Anschluss aller Fleischverweigerer an das omnivore Volk durchzuführen, muss – und ich betone nochmal – MUSS eine Fleischabgabe stattfinden“, schließt Lämmermann. „Liebe Freunde, liebe Fleischkonsumenten, halten Sie für morgen, 22 Uhr, ihre Fleischreserven für die hiermit ausgerufene Teil-Fleischabgabe bereit!“
Es ist kurz still. Dann fängt Gabriella Engelhart wieder an zu singen. Die Mutter wirft die Arme hoch. „Unsere Reserven? Aber die aus der Kühltruhe doch nicht!“ Der Vater flucht: „Schweinerei! Verdammte Veganier!“
Aber am nächsten Tag, um 22 Uhr, steht alles bereit: auf den Treppen vor der Haustür ein Karton, darin allerlei Wurst, zwei Dosen Leberaufstrich, Speckwürfel in Plastikverpackung, sogar eine Kalbslende vom Metzger.
Die Mutter ist schlecht gelaunt. Sie rüttelt mit Töpfen und Pfannen in der Küche. Es wird Hackbraten geben. Der Älteste hat die Tür zu. Er müsse in Ruhe trainieren, hat er gesagt. Die Mittlere bügelt ihrer Puppe die Kleider. Der Vater sitzt vor dem Fernseher und schaut eine Sendung. „Unsere Nation der Lebensfreude“ heißt sie. Gabriella Engelhart moderiert in einem fleischroten Kleid, während ihre Gäste darüber streiten, wieviele Wurstsorten es im Land gibt. Die Gemüter sind erhitzt. Über zweihundertzweiundvierzig allein aus Pute, weiß einer. In der Werbepause verspricht Lämmermann: „Jedes Schwein wird früher oder später Hackfleisch sein!“ Die nächste Fleischabgabe ist für den Folgetag um 22 Uhr angesetzt.
Mutter ruft aus der Küche: „Wieviel wollen sie denn noch?“ Der Vater ist aufgebracht. Die verweichlichten Weltverbesserer seien Schuld! Die Verräter der Tradition! Die Undankbaren! Sie haben den Kindern das Gehirn gewaschen! Kein Fleisch essen?! Vollstopfen müsse man sie mit Fleisch! Umerziehen! Alle Veganier gehören gemästet wie Gänse!
Es ist ein anderer Abend.
Seit geraumer Zeit geht es schon so. „Unsere Nation der Lebensfreude“ hat einen aufgelösten Vegetarier zu gast, der unter Tränen darüber berichtet, wie er Dank der Fleischabgaben an die Umerziehungsanstalten endlich die Wahrheit über seinen Fehlglauben erkannt hat. Gabriella Engelhart weint mit und umarmt den Bekehrten vor laufender Kamera.
Vater schreit den Fernseher an, die Gemüsenazis nähmen doch alle das Volk aus! Man solle doch die Veganier selbst verschnitzeln! Mutter bereitet das Fleischpaket für die morgige Abgabe vor. Die Mittlere fragt: „Und was essen wir, wenn Mama alles abgibt?“ Der Vater winkt ab. Was verstehe man schon von Politik? Die da oben werden’s schon richtig wissen.
Es ist ein anderer Abend.
Engelhart singt von des Fleisches Lust. Dem Vater juckt der Hoden. Der Ältere trainiert in seinem Zimmer. Die Mittlere malt mit einem Filzstift ihrer Puppe Strähnchen in das Haar. Die Mutter kocht möglichst leise, im Dunkeln, ohne Dunstabzug. Es soll niemand, der draußen zufällig vorbeiläuft, mitbekommen, dass sie noch Hühnerallerlei gefunden hat zum Braten.
Im Wohnzimmer klopft es an die Fensterscheibe. Ein nackenhaaresträubendes Geräusch.
Der Vater steht auf und lässt die Rollladen herunter. Es ist eine Weile still. Sogar die Engelhart hält endlich mal den Mund, weil die Mittlere vor Schreck den Knopf auf der Fernbedienung gedrückt hat. Dann hört man im Bad das Fenster splittern. Vater, Mutter, die Mittlere rennen hin. Der Lämmermann kriecht durch die zerborstene Fensterscheibe und sagt: „Guten Abend“, lächelt, sagt: „Ich möchte bitte mehr Fleisch.“ Seine Haut ist glitschig, rot gesprenkelt. Er hat einen großen, schwarzen Restmüllsack dabei. Es tropft aus ihm auf die weißen Fliesen.
Die Mutter stammelt: „Vielleicht hab ich paar Thüringer im Kühlschrank.“ Der Vater hebt die Hände und sagt nichts.
Lämmermann schaut langsam vom einen zum anderen. „Ist nicht genug. Mehr Fleisch!“, sagt er. Er sieht den Ältesten aus seinem Zimmer kommen und zeigt auf ihn.
„Nein!“, sagt die Mutter. „Den Ältesten geb ich nicht her! Er hat drei Medaillen in Tae Kwon Do in der regionalen Meisterschaft gewonnen.“
Lämmermann sperrt seinen Mund auf und fordert: „Mehr Fleisch!“
Der Jüngste tappt verschlafen ins Badezimmer, sein Haar verstrubbelt, die Augen noch klein vom zu hellen Licht. Er blinzelt. Da packt der Vater ihn. „Den da!“, sagt die Mutter „nehmen Sie den, Herr Oberster Minister, den können wir entbehren.“
Der Lämmermann macht den großen, schwarzen Plastiksack auf, packt den Jüngsten an den Beinen und steckt ihn, mit dem Kopf voran, hinein. Der Kleine ist noch so verwirrt, dass er erst im Sack anfängt, sich zu winden, zu strampeln, zu schreien. Lämmermann hat aber alles fest im Griff. Er zieht den Sack zu. „Vielen Dank. Das reicht vorerst vermutlich.“ Er schlägt den Sack ein paar Mal auf die Fliesen, damit dieser Ruhe gibt. Dann wünscht er höflich einen Guten Abend und steigt durchs Fenster wieder aus.
Die Glasscherben auf dem Boden sind alle nass. Es pfeift kalt von draußen in das Zimmer.
Der Älteste bricht das Schweigen: „Mams, ich geh trainieren.“ Er zieht sich seine Kopfhörer auf und verschwindet, um zu zocken.
Die Mutter wirft die Hände hoch und sagt: „Oh, weh! Ich hab‘ ja die Pfanne auf dem Herd vergessen!“
Der Vater schließt die Tür zum Badezimmer, setzt sich vor den Fernseher. „Scheiß Veganier!“ Die Mittlere nickt und glättet ihrer Puppe die Rüschen am weißen Kleid.
Gabriella Engelhart singt.