Ein Gemeinschaftsroman von Alexander Wachter, Annika Kemmeter, Arina Molchan, Ina Maschner, Lydia Wünsch, Nina Lischke, Verena Ullmann und Victoria Grader.
Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog
5 Jahre zuvor
Ina
Ina schob den großen Knopf aus Mammutelfenbein durch das Loch ihres Strickmantels und erinnerte sich plötzlich an ihren Traum. Sie sah die Schlange vor sich, Trägerin tiefster energievoller Seelenkräfte, und ihren Paketlieferanten, der ihr das Tier in einer Schüssel darreichte. Deshalb also flossen ihre Schwingungen heute in so ungewöhnlich ruhigen Bahnen. Sie hatte nur mit den Schultern gezuckt, als sie durch das Fenster den Raureif auf ihrem Patschulibeet gesehen hatte. Auch als ihr Glas bei einer unachtsamen Drehung vom Küchentisch gefallen war, hatte sie nur gedacht: Das Glas war eh schon stumpf. Sie hatte die kleine Pfütze aus Wodka, den sie morgens trank, um ihren Blutfluss in Gang zu halten, aufgewischt und die Scherben gut gelaunt aufgefegt. Ihr Paketlieferant … Ina runzelte ihre Stirn. Wie war sein Erscheinen im Traum zu deuten? Wenn sie ihn sich vors innere Auge holte, sah sie einen kraftvollen Mann mit positiver Präsenz. Offensichtlich hatte sich eine Verbindung zwischen ihrer und seiner Seele hergestellt, sonst hätte sie nicht von ihm geträumt. Ach, Männer… Sicher, einen Seelenverwandten zu finden, das wäre nicht schlecht. Wer weiß, dachte Ina, was das Heute bringt?
Beschwingt warf sie das Gartentor hinter sich ins Schloss und trat auf die Straße. Sie sog die herbstlich kühle Luft ein, den Duft nach welken Blättern und feuchtem Gras. Die kleine schwarze Nachbarskatze lugte unter dem Zaun hervor. Sie war so ein wildes Ding, sicherlich hasste sie es, bei Menschen wohnen zu müssen. Ina hatte nicht viel übrig für Haustiere. Aber heute ging sie in die Hocke und versuchte die Katze anzulocken. Diese kroch tatsächlich näher, sprang dann mit einem merkwürdigen Satz zur Seite, huschte vor Ina über die Straße und verschwand im Garten von Inas linken Nachbarn. Ina sah ihr hinterher. Dummes Tier! Aber ihr konnte es egal sein. Ihre Stimmung konnte heute nichts versauen.
Die U-Bahn war vollgestopft wie immer im Herbst. Das Rattern und Rumpeln: ohrenbetäubend. Ina fragte sich manchmal, ob die Mitfahrenden es wirklich nicht hörten? Ein plötzliches Mitgefühl für all die Menschen, die nicht im Hier und Jetzt lebten, überkam sie. Sie dachte an Madame Velola, der sie so viel ihrer Weisheit zu verdanken hatte. Ina schloss die Augen und begann zu summen: „Om mani padme hum. Om mani padme hum. Om mani padme hum.“ Sie spürte den Frieden sich als gelbes Licht in ihr ausbreiten bis in die Zehen und die Fingerspitzen hinein. Und dabei tat sie auch noch etwas Gutes für die anderen, die Unwissenden um sie herum, indem sie die sechs Vollkommenheiten heraufbeschwor, die Inas Mitmenschen aus dem ewigen Kreislauf der Wiedergeburten befreien würden.
An der Haltestelle war noch immer eine Baustelle. Ina zeigte ihren Mitmenschen, dass man sich auch rücksichtvoll verhalten konnte, indem sie einem Studenten den Vortritt ließ und erst mit respektvollem Abstand hinter ihm unter der Leiter durchging. Das Drängen der Menschenmenge hinter sich ignorierte sie voll Gnade.
Im Tempel war es heute ruhig. Ein guter Tag, um die Unterlagen für die Steuer zusammen zu suchen. Das Türglöckchen läutete und eine altbekannte Kundin trat ein.
„Ach, Frau Nászowas! Wissen Sie, ich brauche heute etwas gegen Kopf…“
Die Kundin hatte das Wort Kopfschmerzen noch nicht ausgesprochen, da hielt ihr Ina schon ein Kräutersäckchen entgegen. „Weidenrinde, Melisse, Mädesüß und Lindenblüten“, sagte sie. „Und, Moment, ich habe hier auch noch frischgetrocknete Pestwurz. Schmerzlindernd und beruhigend. Ich lege mir oft ein frisches Blättchen zu meinem Tee, wenn ich mich etwas unruhig fühle.“ Ina reichte es mit zwei Händen über den Tresen und verneigte sich dabei leicht. Sie wusste genau, welche Teeblätter spirituelle Prozesse förderten und welche Mischung das innere Gleichgewicht wiederherstellen konnte.
„Danke Ihnen! Und heute Morgen habe ich mich im Spiegel gesehen. Sie denken ja nicht, das Alter …“ Dabei fuhr ihre freie Hand unglücklich vom Hals übers Dekolleté zum Oberarm und dann zur Bauchgegend.
Ina nickte. Victoria Burana, die hochkarätige Opernsängerin hatte sie erst gestern wegen derselben Probleme aufgesucht. „Dann nehmen Sie am besten ein Bad mit meinem Himalaya-Badesalz. Dabei werden der Haut beim Bad weniger Salze entzogen. Das macht sie frisch. Und lassen Sie Ihren Mann auch ruhig ein Salzbad ein.“ Ina lächelte vielsagend. „Wieviel darf ich Ihnen denn einfüllen? Zweihundert Gramm?“ Sie nahm das Holzschäufelchen und wog auf der Messingwaage das Salz ab.
Die Türglocke läutete erneut und Ina sah auf. Mit rabenschwarzem Haar und bleichem Gesicht stand eine junge, sehr große und schlanke Person in der Tür. Sie sog den Duft der Räucherstäbchen ein und verzog ihr Gesicht. Gekünstelt hustend sagte sie: „Ich lasse die Tür offen, bei dem Gestank bekommt man ja keine Luft!“
Der Anblick der jungen Frau erschreckte Ina. Sie konnte nicht sagen, warum. Aber ein Zucken war durch ihren Körper gefahren. Sie zog das Säckchen oben zu, band eine Schleife, und reichte es der Kundin. Diese begann nun, sich in Beschwerden über die heutigen Zeiten zu ergehen, aber Ina hörte nicht zu. Ihr drittes Auge erkannte sofort, dass die junge Frau eine Krähe war. Mit pikiertem Finger fuhr sie über Inas Tuben und Döschen. Dann wuchtete sie ihre Handtasche barbarisch auf den goldenen Teetisch, der sich in der Mitte des Tempels befand, und begann den Raum mit ihren Augen zu bemessen. Als die ältere Kundin merkte, dass Ina nicht bei der Sache war, verließ sie den Laden mit einem letzten Verweis auf ihre Kopfschmerzen.
„Ich will den Tempel“, sagte die Krähe unvermittelt.
Ina meinte sich verhört zu haben. „Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie.
„Verkaufen Sie mir den Tempel.“
Ina lachte. Dann atmete sie tief durch. „Der Tempel ist unverkäuflich. Sehen Sie, er ist ein Teil von mir. Und ich bin auch nicht käuflich.“ Ina dachte an Aschera. Ihr hatte Ina einen Tempel geweiht, auf heiliger Erde. Die wenigsten wussten über die Vergangenheit dieses Ortes Bescheid. Kaum einer konnte begreifen, dass Wasser ein Gedächtnis hatte, aber dass Erde eines hat, das musste doch wohl jedem einleuchten. Ihr Laden stand auf heiliger Erde, deshalb hatte sie ihn gekauft, und ja, auch den Schuldenberg in Kauf genommen, nicht des Ladens wegen, sondern um ihr zu huldigen. Mit ihr, die kräftigend in Inas Rücken stand, hatte Ina nichts zu befürchten. Sie richtete ihre Schultern auf.
„Jeder ist käuflich“, antwortete die Krähe unbeeindruckt.
„Ich nicht.“
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wir überlassen es dem Glück. Spielen wir um den Laden.“
Ina lachte wieder. Fortuna! Die junge Frau hatte ja keine Ahnung, mit wem sie es zu tun hatte. Aber Ina würde es trotzdem nicht tun. Sie hasste Spielkasinos, wo alles nur um den Schein ging, im doppelten Sinne des Wortes. Es stieß sie ab, all der Pomp und die Eitelkeiten der profanen Menschen, die ihr schnödes Leben vergeudeten, ohne je eine Beziehung zum Göttlichen herzustellen.
„Sie fürchten wohl“, sagte die Krähe und kam dabei auf den Tresen zu, „dass Sie kein Glück haben werden.“
Dann umrundete sie den Tresen und stellte sich neben Ina hinter die Kasse. Ina beobachtete, wie die Krähe den Eingang musterte. Wahrscheinlich dekorierte sie den Raum in ihrer Fantasie bereits nach ihren Wünschen um. Mit keinem Blick würdigte sie den goldenen Teetisch, was Ina nicht überraschte.
„Das fürchte ich nicht. Aber ich sehe auch keinen Anlass, meinen Laden aufs Spiel zu setzen.“
„Ich dachte mir schon, dass Sie feige sind. Deshalb halten Sie auch das Innere Sanktum geheim. Sie schließen Aschera ein wie einen geschlagenen Hund, der im Keller bleiben muss, wenn Gäste kommen.“ Ein spöttisches Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Dann sagte sie kalt: „Mit mir wird sie es besser haben.“
Inas Hals schnürte sich zu. Woher wusste die Krähe vom Inneren Sanktum? Nur sehr wenige, ausgewählte und mit Kraft der Karten überprüfte Personen hatten Kenntnis davon. Jemand musste geplaudert haben.
„Verlassen Sie sofort meinen Laden!“
Die Krähe schlenderte zurück zum Teetisch. Für einen Augenblick hoffte Ina, sie würde ihre Tasche nehmen und gehen. Stattdessen fuhr die Krähe mit ihren Krallen über die Tischoberfläche und erzeugte ein Geräusch, das im Laden alles zum Vibrieren brachte. „Sie haben Angst, sich zu ihr zu bekennen, deshalb sind Sie hier oben und verkaufen alberne Tüten voll Salz. Glauben Sie wirklich, Sie sind die Dienerin, die sich die Göttin ausgewählt hätte. Nein, ihr steht jemand zu, der Schneid hat, der sie versteht und ihr dient, statt sie unter einem Laden für Tant und Krimskrams zu verstecken und mit dem pestilenzartigen Gestank von Räucherstäbchen zu belästigen.“
Ina ahnte, dass sich rote Flecken auf ihrem Gesicht und auf ihrem Hals bildeten. „Was wissen Sie schon!“
„Ich weiß, dass Sie tief in Ihrem Innern glauben, dass der Rückhalt Ihrer Götter nur Ihre eigene Einbildung ist.“
„Das ist nicht wahr!“
„Nein? Dann zeigen Sie es mir. Zeigen Sie mir, dass Fortuna wirklich hinter Ihnen steht. Heute Abend. Im Kamari. Das kennen Sie doch, oder wollen Sie das auch leugnen?“
Die Krähe wusste sehr gut Bescheid.
„Ich kenne es“, zischte Ina. Es stimmte, manchmal stellte sie ihr Glück nämlich doch auf die Probe. Natürlich nur, wenn ihr Teesatz Erfolg versprach. Und natürlich nur im Kamari, das ebenfalls auf geweihtem Boden stand. Der Besitzer, ein alter Bekannter von Madame Velola hatte es ihr erzählt. Ina konnte sich nicht erinnern, die Krähe jemals dort gesehen zu haben. Diese anmaßende Ignorantin! Sie konnte die Anwesenheit dieser hochmütigen, Unfriede verbreitenden Vogelscheuche mit ihren spitzen Krallen nicht mehr ertragen. Sollte sie doch bekommen, was sie wollte: eine unappetitliche Lektion in Scham und Demut. „Ich kenne es“, wiederholte Ina, „und ich werde da sein.“
„Zehn Uhr. Hintereingang. Fragen Sie nach Verena Pfuhlmann!“ Damit nahm die Pfuhlmann ihre Handtasche auf, warf noch einen letzten, siegessicheren Blick in Inas Laden und ging endlich.
Ina schloss die Tür. Sie fröstelte, deshalb stellte sie ihre Tasse unter den Samowar und ließ heißes Wasser ein. Wie in Trance warf sie Fenchelsamen, Pestwurz und Zitronenmelisse hinein. Nach kurzem Zögern hob sie eine für fremde Augen unsichtbare Klappe in ihrem Tresen an. Sie entnahm ihr einen Tiegel, kratzte mit einem dafür vorgesehenen Löffelchen etwas von der schwarz-braunen Masse ab und rührte das Rohopium unter die schwimmenden Kräuter im Glas. Sie nahm einen Schluck, schickte ein Gebet zu Aschera und atmete tief durch.
Trotz der Entspannung, die sofort einsetzte, lag alle Verachtung, zu der Ina fähig war, in dem Namen, den sie förmlich ausspuckte: “Pfuhlmann! Du wirst dich noch wundern!“ Inas Mund verbog sich zu einem breiten Grinsen.
Wie geht die Geschichte weiter?
Lies gleich das nächste Kapitel und finde es heraus: Kapitel 2 – Verwirrungen in den Flitterwochen
Was ist Auffällig Unauffällig?
Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.
Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?
Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede(r) Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Ina wurde von Victoria Grader und Annika Kemmeter verfasst.


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