Ein Gemeinschaftsroman von Alexander Wachter, Annika Kemmeter, Arina Molchan, Ina Maschner, Lydia Wünsch, Nina Lischke, Verena Ullmann und Victoria Grader.
Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog
Aeneas
Aeneas beobachtete eine einzelne Schweißperle, wie sie von Lydias neonpinken BH-Verschluss ihre Wirbelsäule hinunterrann. Ihr makelloser Rücken beugte sich in einem Bogen, ihre Brüste sowie ihr Gesicht waren der Zimmerdecke zugewandt. Die Hände hielten ihren Oberkörper in Position, während ihre Beine durchgestreckt auf dem verzierten Kaschmirteppich der Flitterwochensuite lagen. „Immer daran denken!“, sagte sie zu ihm. „Das Schambein fest in Richtung Boden schieben.“ Aeneas murmelte zustimmend. Er hatte keinen blassen Schimmer, wo sich sein Schambein befand. Im Gesicht vielleicht. Schließlich sah man es einer Person im Gesicht an, wenn ihr etwas peinlich war. Hieß ja nicht umsonst Schamesröte. Lydia hatte ihr Gesicht allerdings meilenweit vom Boden entfernt, also lag er mit seiner Vermutung daneben.
Sie schien Aeneas Verwirrung zu spüren. „Schau, so!“ Er sah, wie Lydia ihr Becken einen Moment lockerte und danach wieder anspannte, um es fester gegen den Boden zu pressen. Ihr perfekt geformter Po war dabei das Einzige, das Aeneas auffiel. Der Po sah in den schwarzen, hautengen Leggings zum Anbeißen aus. Aeneas konnte eine aufkommende Erektion spüren, sich aber beim besten Willen nicht vorstellen, dass das der Sinn dieser Übung sein sollte. „Verstanden?“, erkundigte Lydia sich.
„Na logo.“ Aeneas wischte sich seine verschwitzten Haare aus der Stirn.
“Prima. Dann können wir ja in die nächste Asana gehen.” In einer fließenden Bewegung manövrierte Lydia ihren Körper in eine Position, die Aeneas zum letzten Mal bei Günthers Kind in der Krabbelecke gesehen hatte. „Der herabschauende Hund.“ Aeneas schluckte und Blut stieg in sein Schambein. Nein, falsch, das lag ja nicht im Gesicht, sondern in der Leistengegend. Wobei, dachte er , dann stimmte es ja doch. Lydias Po bildete die Spitze eines Dreiecks, ihre Beine waren leicht gespreizt und ausgestreckt. Konzentriert sah sie zu Boden und atmete hörbar ein und aus.
„Machst du schon mit?“, fragte sie ohne nach ihm zu schauen.
„Na logo.“ Aeneas bugsierte seinen Po in die Luft und versuchte, keinen vollkommenen Idioten aus sich zu machen. In der Hektik ließ zumindest seine Erektion nach.
Lydia warf ihm einen Blick zu. „Darauf achten, die Fersen in den Boden zu drücken.“
Aeneas verzweifelte. Genauso hätte man ihm sagen können, er solle den Wert des Strikes eines Knock-out-Zertifikats nach dessen Erwerb verändern.
„Fersen in den Boden“, wiederholte Lydia.
Aeneas strengte sich mehr an. Da entfleuchte ihm ein Furz. Aeneas wünschte sich in diesem Moment, dass die mannshohen Rundbogenfenster den Tumult der New Yorker Straßen nicht so erfolgreich aussperrten. Ein nervöses Glucksen drang aus seiner Kehle und er ließ sich auf den Boden fallen.
„Ernsthaft, Aeneas?“ Lydia rümpfte die Nase. „Du weißt, dass ich sowas pietätlos finde.“
„Tut mir leid, Schatz.“ Dass sich ausgerechnet jetzt Aeneas rebellierender Magen bemerkbar machen musste! Das morgendliche Müsli bestehend aus Granatapfel- und Sonnenblumenkernen, Sesam, Chia- und Leinsamen bekam seinem Magen-Darm-Trakt nicht sonderlich. Lydia hatte ihm versprochen, dass seine Verdauung sich bald an die vegane Ernährung gewöhnen würde. „Das ist der Entgiftungsprozess, Liebling. Der zieht sich bei dir nur so in die Länge, weil du ständig anderes Scheißzeug in dich reinstopfst.“ Lydia spielte damit auf den Beefburger an, den Aeneas sich gegönnt hatte. Er versprach Lydia, nicht mehr so oft zu sündigen. Doch der Gedanke an einen saftigen, mit Cocktailtomaten, Salatblättern und knusprig gebratenen Speck belegten und mit zartschmelzendem Schweizer Almkäse überbackenen Rinderfiletburger, der in zwei leicht getoasteten Brothälften neben goldenen Pommes perfekt angerichtet da lag, ließ ihn augenblicklich an seinem Versprechen zweifeln. Wer konnte bei einem solchen Leckerbissen stark bleiben?
Aber nein, für Lydia würde er es versuchen. Er musste sich nur besser unter Kontrolle bringen. Er würde gesünder essen, mehr Sport treiben, mehr Meditieren und Yoga machen, dann würde dieses Verlangen bald verfliegen. So hatte Lydia es ihm erklärt und so würde es sein. Ganz bestimmt.
Aeneas stemmte sich auf die Beine. „Stört es dich, wenn ich die restlichen Ananasse auslasse? Ich glaube, das reicht für heute.“
Lydia atmete tief ein. „Asanas, Liebling. Ja klar, ich mach noch acht Durchgänge und dann können wir zusammen baden, wenn du möchtest.“ Sie grinste unter ihrem Arm zu ihm hoch.
Seine Frau wusste, wie leicht es war, Aeneas glücklich zu machen.
Im Badezimmer drehte er an den vier Chromstahlventilen und verschieden dicke Wasserstrahle ergossen sich in die Badewanne. Sein T-Shirt klebte ihm am Rücken, als er es ausziehen wollte. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie er bei den Übungen geschwitzt hatte. Während die Badewanne sich allmählich mit Wasser füllte, entschied Aeneas sich für einen von Lydias Badeschäumen. Kokos-Rosmarin. Nachdem er einen Schuss davon in die blubbernden Wogen geschüttet und die Wassertemperatur genauer angepasst hatte, ließ er sich vorsichtig hineingleiten.
An manch anstrengenden Tagen war der Gedanke an ein heißes Bad zur Belohnung am Abend das einzige gewesen, das ihn durchhalten ließ. Wasser war schon immer sein Element gewesen. Damals war es eine mickrige Einzelwanne, in die Aeneas mit seinen fast zwei Metern nur zur Hälfte hineingepasst hatte – aber wie im siebten Himmel hatte er sich darin trotzdem gefühlt. Als Aeneas sich nun in seiner vollen Länge ausstreckte und einen Wasserengel machte, ohne dabei an die Ränder zu stoßen, empfand er Glück darüber, sich nie wieder Sorgen wegen Geld machen zu müssen. Er konnte Lydia nicht nur jeden Wunsch von den Augen ablesen, er konnte diese auch erfüllen. Ob Kaviar oder Hummer, Prada oder Gucci, Marokko oder Korsika. Er bot ihr alles, was ihr Herz begehrte. Die Flitterwochensuite im Waldorf-Astoria, in der sie sich zurzeit befanden, umfasste genügend Räume, dass die gesamte Familie mit in die Flitterwochen hätte kommen können, ohne dass sie einander unbedingt begegnet wären. Die Badewanne allein war größer als das gesamte Badezimmer aus Aeneas Kindheit. Sieben verschiedene Düsen und drei Massagebrauseköpfe neben einem Wasserfallkopf. Hier hätte Kleinkind-Aeneas liebend gern die Stunden totgeschlagen, bis seine Eltern von der Arbeit nach Hause kamen.
Denn sie waren immer erst nach Hause gekommen, als ihm vor Müdigkeit die Augen zugefallen waren. Verarmter Adel. Aeneas erinnerte sich an schwielige Hände und erschöpfte Gesichter. Während seine Mutter sich abends mit Aeneas in ihre Wolldecke eingerollt hatte, kümmerte sich sein Vater um das Essen. Sie aßen in dieser Zeit oft im Bett, obwohl sie bereits einen Tisch von Opa besaßen. Manchmal spielte Aeneas‘ Vater ihnen vor dem Schlafengehen auf der Gitarre vor.
Die schlechten Zeiten lagen nicht weit zurück, dennoch kam es Aeneas vor, als würden die Erinnerungen aus einem anderen Leben stammen. Sein Vater hatte ihm immer gesagt, dass er einmal Erfolg haben und reich werden würde. „So ein schlauer Bursche wie du, da mach’ ich mir gar keine Sorgen“, pflegte er immer zu sagen. „Du wirst der Familie wieder zu ihrem alten Glanz verhelfen.“ Beim Gedanken an seinen Vater spürte Aeneas einen vertrauten Druck auf seiner Brust. Er zwang sich tief einzuatmen und seinen Puls ruhig zu halten. Ohne seinen Vater hätte er nie an seine eigenen Fähigkeiten geglaubt. Ohne ihn hätte er nie den Mut aufgebracht, eine Firma zu übernehmen und von Grund auf neu aufzubauen.
Die angelehnte Badezimmertür öffnete sich. „Ich spring gleich zu dir rein. Muss noch schnell meine Follower updaten.“ Lydia wischte und klickte mit ihren manikürten Fingernägeln auf dem Smartphone herum.
„Beeil dich, Schatz“, sagte Aeneas.
Sie zwinkerte ihm zu. „Ich mach am besten gleich zwei, drei Bilder, die ich nachher hochladen kann.“ Sie stellte sich vor den Spiegel und posierte für eine gefühlte Ewigkeit, bis ihr ein Bild gefiel. Dann zog Lydia sich endlich aus und stieg zu Aeneas in die Badewanne. „Du bist ja schon ganz schrumpelig. Oh, das ist aber kalt. Lass mal mehr warmes Wasser rein.“ Aeneas drehte die Wasserhähne bis zum Anschlag nach links. „Viel besser.“ Lydia lehnte sich an seine Brust.
„Wieso hast du so lange für die Bilder gebraucht? Du siehst doch auf jedem Bild gut aus.“ Er gab ihr einen Kuss auf den Hinterkopf.
„Ja, gut schon, aber ich will sehr gut aussehen. Da gibt es einen kleinen, aber feinen Unterschied.“
„Für mich bist du immer die Schönste von allen.“
Lydia lachte. „Ach, du Spruchbeutel. Das ist ja mal überhaupt nicht wahr. Aber danke, süß von dir.“ Ihr Smartphone vibrierte. Lydia streckte sich aus dem Wasser, um das Display erkennen zu können.
„Wer ruft an?“, fragte Aeneas, während er die Wasserhähne zudrehte.
„Niemand. Mein Post kommt gut an.“ Mit einem süffisanten Grinsen ließ sich Lydia wieder neben Aeneas ins Wasser gleiten. Selbst unter Wasser spürte er jede ihrer Berührungen mit einem elektrisierenden Wohlergehen.
Lydia drückte ihre Lippen auf seine. „Sag mir nochmal, wie hübsch du mich findest.“
Aeneas küsste sie zurück und drehte sie über sich. Das Wasser schwappte über den Rand und prasselte auf die Fliesen des Badezimmerbodens. „Du bist unglaublich heiß und verführerisch.“ Er küsste ihren Nacken entlang bis zu ihrem Schlüsselbein. „Und darüber hinaus so knackig.”
Lydias Atmung beschleunigte sich.
Wie geht die Geschichte weiter?
Lies gleich das nächste Kapitel und finde es heraus: Kapitel 3 – Vor dem Untergang
Was ist Auffällig Unauffällig?
Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.
Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?
Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede(r) Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Aeneas wurde von Alexander Wachter verfasst.
(Bild von Trang Pham auf Pixabay)


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