Kapitel 3 – Vor dem Untergang

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Ein Gemeinschaftsroman von Alexander WachterAnnika KemmeterArina MolchanIna MaschnerLydia WünschNina LischkeVerena Ullmann und Victoria Grader.

Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog

„Stupido! Sie verstehen nicht. Ich will rotes Toilettenpapier! Es muss rot sein! Und wenn Victoria Burana „Sing!“ sagt, dann trällern Sie gefälligst. Und wenn sie sagt, sie will rotes Toilettenpapier, dann laufen Sie los und servieren es ihr auf einem Silbertablett. Sonst singe ich nicht! Haben Sie das jetzt verstanden, Stronzo?“

Victoria Buranas Stimme donnerte durch das Foyer der Pariser Oper. Ihr Stimmorgan war zu einer außerordentlichen Leistung fähig, ihr Körper der ideale Resonanzboden dafür. 

Sie spürte die Blicke all der Leute, die sich im Foyer befanden. Die der Mitarbeiter und der Touristen. Und sie genoss es. Sie wusste genau, welch eine besondere Erscheinung sie war. Betrat sie einen Raum, füllte ihre Präsenz ihn komplett aus. Und ihre Stimme klang wohlgefällig in den Ohren aller. Victoria Burana wusste beides gekonnt einzusetzen. Die historische Architektur des Palais Garnier spielte ihr dahingehend zu. Die Kronleuchter erstrahlten in warmem Licht und tauchten das Foyer in einen goldenen Glanz. Victoria fühlte sich hier wie eine Göttin in ihrem Palast. Als Kind hatte sie Bilder der Oper gesehen und davon geträumt, eines Tages hier zu singen.  

Den kleinen Knirps von Intendantenlakeien – wie hieß er? Jean-Pierre? – hatte sie mit ihrer Ansprache schon unangespitzt in den Boden gerammt und er wagte nicht, gegen sie aufzubegehren. Er nickte nur verängstigt, was sie gefällig zur Kenntnis nahm. Die Macht der Frau eben. Sie ging einige Stufen der Foyertreppe aus weißem Marmor hinauf, ihren schwarzen Thaikater Fiorello im Arm. Dann blieb sie abrupt auf dem obersten Absatz stehen, der die Treppe nach rechts und nach links aufteilte. Sie richtete das Diamanthalsband ihres Katers, dann den kleinen Dreispitz, den Fiorello auf dem Kopf trug, und schließlich ihren eigenen, der eine größere Variante des Katzenhutes war. Langsam drehte sie sich zu dem Lakaien um und blickte ihn von oben bis unten an. Auf diesen Blick hatte sie Patent. Sie hatte schon in jungen Jahren gelernt, dass man als Frau im Theater ein starkes Auftreten brauchte. Sonst trampelte man auf ihr herum. Und sie hatte schon einige brillante Darstellerinnen untergehen sehen. Damit zog sie weiter und lief in Richtung ihrer Ankleideräume. 

Als sie die große Tür zu ihren Räumen öffnete, tauchte sie in ein Blumenmeer ein. Wie sie es seit Jahren forderte, wurden auch diesmal die Räumlichkeiten mit riesigen Bouquets geschmückt: Tulpen, Lilien, Rosen, Chrysantheme, Gerbera und Calla. Neben den Türen standen große Hortensiengewächse. Victoria sog den Duft genussvoll ein. Das war doch mal ein Empfang. Einer Primadonna wie ihr würdig! 

Denn sie war es, die seit einigen Jahren alle Opernhäuser füllte. Ihr Talent zog die Menschen in die Opern. Ihm war es zu verdanken, dass die Opernhäuser wieder schwarze Zahlen schrieben. Sie war der Star, der Anna Netrebko und Maria Callas, mit der man sie wegen ihres Aussehens oft verglich, in den Schatten stellte. Allerding war die Oper nicht mehr dasselbe wie vor zwanzig Jahren. Die Inszenierungen wurden immer moderner, die Kostüme immer billiger, wenn überhaupt vorhanden. Fehlte nur noch, dass sie nackt auf die Bühne sollte.  

Sie ließ Fiorello von ihrem Arm springen und sah ihm nach, wie er die für ihn unbekannten Räume erkundete. Victoria selbst legte sich auf eine bunt gemusterte Chaise longue und seufzte den Stress der letzten Tage hinaus. Sie hatte sich ja auf ihre Rolle hier einspielen müssen. Hoffmanns Erzählungen sollten aufgeführt werden und Victoria spielte die Olympia, Giulietta, Antonia und Stella in einem. Eine Herausforderung, aber nichts, was sie nicht schaffen würde. 

Es klopfte, und auf ihr „Herein“ betrat ein junges Mädchen den Raum. „Madame“, begann sie höflich, „Madame, die Probe beginnt.“ 

„Ich gehe nie zu einer Probe“, erklärte Victoria ruhig. „Nur zur Generalprobe, wenn die anderen so weit sind.“ 

„Aber, Madame, der Regisseur …“ 

„Ich wurde an der Met ausgebildet, ich habe in allen großen Opernhäusern gesungen. Von Mozart bis Vivaldi habe ich alles gesungen! Ich. Muss. Nicht. Proben.“ Noch immer sprach sie in ruhigem, aber bestimmten Duktus.  

„Madame …“ 

Ein Räuspern erklang. In der offenstehenden Tür war ein junger Mann aufgetaucht.  

„Sie sehen“, sagte Victoria zu dem Mädchen, „ich habe Besuch. Bitte gehen Sie jetzt.“  

Das Mädchen nickte hektisch und verschwand so schnell sie konnte. Der Mann schloss die Tür. Dann kam er auf Victoria zu und gab ihr einen Kuss.  

Victoria war dafür bekannt, immer von jungen Männern umgeben zu sein. Das aktuelle Modell hieß Noah und hatte ein anziehendes, wölfisches Aussehen. Hohlwangig und ausgehungert sah er aus, hatte aber ein verschmitztes Lächeln. Und genau dieses breitete sich auf seinem Gesicht aus, dann blinzelte er ihr zu, ehe er sie zu sich hoch- und in seine Arme zog. 


Wenn Victoria sich dem Genuss der Liebe hingegeben hatte, lief sie immer zu Höchstformen auf. Das bekam Jean-Pierre zwei Stunden später erneut zu spüren.  

„WAS SOLL DAS SEIN?“, schrie Victoria und wedelte vor Jean-Pierres Gesicht mit einem Stück weißem Toilettenpapier herum. „ICH WOLLTE ROTES!“   

„Aber, Madame …“ 

„Ich will rotes Toilettenpapier. Was war daran nicht zu verstehen? Muss ich mich deutlicher ausdrücken?“ Sie nahm einen goldenen Teller vom Tisch neben sich, der prall gefüllt mit Obst war, und warf ihn an die Wand. Jean-Pierre duckte sich vor Schreck. Sehr gut, so musste das sein. Sie musste Stärke zeigen! Niemand durfte auf ihr herumtrappeln. Man hatte ihre Wünsche ernst zu nehmen!  

„Noch nicht deutlich genug?“, fragte sie nochmal und fegte dabei die Swarovski-Kristallgläser vom Tisch. 

Jean-Pierre nickte und stotterte: „Doch … Ma … Madame! Ich … kümm … kümmere mich so … sofort darum.“ Eilig legte er den Stapel Fan-Post auf dem Beistelltisch ab. Dann flüchtete er aus ihren Räumlichkeiten. 

Noah saß derweilen entspannt auf der Couch und streichelte Fiorello. Behutsam nahm er den Kater auf den Arm, in den dieser sich vertrauensvoll schmiegte. Dann stand er auf und ließ Fiorello zu Boden springen. Er beäugte Victoria wie ein Jäger seine Beute und schlich auf sie zu. Von hinten schlang er seine Arme um sie und schnurrte in ihr Ohr: „Ganz ruhig, mein Kätzchen.“  

Er liebkoste ihren Hals. Ihr Zorn löste sich langsam, während seine Hände auf dem seidigen Stoff ihres weinroten Kimonos über ihre Seiten tiefer wanderten. Wenn er sie berührte, machte er es mit einer federleichten Zärtlichkeit. 

Aber gerade merkte Victoria nichts davon. Ihr Blick ging nur starr nach vorne, in den Spiegel an der Wand. Sie sah sich und Noah. Wie jung er war! Wie alt sie neben ihm aussah. Waren da neue Falten um ihre Augen? Mechanisch betastete sie ihre Augenlider und mühsam unterdrückte sie ihre Tränen. Nein, sie durfte keine Schwäche zeigen. Sie durfte nicht, sonst war ihr Untergang sicher.

Wie geht die Geschichte weiter?

Lies gleich das nächste Kapitel und finde es heraus: Kapitel 4 – Vor dem Höhenflug

Was ist Auffällig Unauffällig?

Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.

Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?

Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede(r) Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Victoria wurde von Ina Maschner verfasst.

(Bild von hollywut (Kathrin) auf Pixabay)


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