Kapitel 4 – Vor dem Höhenflug

10–15 Minuten
Avatar von Arina Molchan

Ein Gemeinschaftsroman von Alexander WachterAnnika KemmeterArina MolchanIna MaschnerLydia WünschNina LischkeVerena Ullmann und Victoria Grader.

Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog

Annika kniete auf der Tatamimatte, vor sich ein Durcheinander aus Blättern mit Skizzen, Gedanken, Zitaten, Stoffproben, Fotos, darauf teilweise als Briefbeschwerer japanische Onigiri auf kleinen Tellern, alle einmal angeknabbert und wieder zurück gelegt.  

Sie hatte den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Auf Yumis Frage, ob nicht alles großartig liefe, musste sie breit grinsen. Großartig war gar kein Ausdruck! „Es läuft nicht schlecht”, antwortete sie. Als Japankennerin wusste Annika, dass Yumi ihren Tonfall verstehen würde: Der große Durchbruch stand kurz bevor! Während sie mit der Schere ein Noriblatt in Streifen schnitt, fuhr Annika fort: „In Berlin kamen die Hüte so gut an! Und für München mache ich zwar das alles viel kleiner, nicht so wie die Show in Kyoto, aber ich will hier was aufmachen …” 

Sie stapelte die Algenstreifen aufeinander und überprüfte die Dicke. Dann tastete sie nach dem Briefmarkenbefeuchter.   

„Auf jeden Fall, ich bin so gespannt! Du müsstest meinen Terminplan sehen – alles voll! Jeden Abend ein Event, am Wochenende kommt eine sogar für ein Exklusivinterview …”  

Sie drückte die Noristreifen auf den orangefarbenen Schwamm und wartete bis sie feucht und biegsam wurden. Dann tunkte sie sie in das bereitgestellte Schälchen mit Eiweis und fügte die Streifen so zusammen, dass sie sich minimal überlappten, und legte sie zum Trocknen auf das vorher angefertigte Hutmodel. Annika musste aufpassen, dass sie nicht rissen. Die fransige Schleife soll schließlich das i-Tüpfelchen auf dem Sushi-Hut werden.  

Noch nie hat jemand einen Hut aus Sushi gemacht – und Annika war entschlossen, dass es ein Erfolg sein würde!

Es war schwer, sich in der Hutkunst selbst zu übertreffen, aber nachdem ihr Hut aus präpariertem Hackfleisch bei den Grammys für Furore gesorgt hatte, hatte sie einen richtigen Kreativitätsschub bekommen. 

Ihre neue Kollektion hieß „Drei Sommer mit Yumi” und war gewissermaßen ein Erinnerungsalbum für den Kopf. Alles hatte Annika versucht, einzubauen: das unvergleichlich laute Zirp-Konzert der Zikaden im Sommer, Schnorcheln im seichten Meer mit den noch kleinen und daher ungiftigen Quallen, die Glühwürmchen-Suche nach einem heißen Onsen-Bad unter freiem Himmel, den Eiskaffee, der einfach nur schwarzer Kaffee mit Eiswürfeln war. Die Läden voller dezentrosa bis glitzernd-pinken Girly-Haarbändern, -Schleifen, -Haarreifen, -Haargummis und Aufsteckhütchen für erwachsene Frauen. Die Konzerte japanischer Pop-Bands auf koreanischem Boden, wo alles günstiger war, als in Japan. Die falschen Wimpern, die ihr als Geschenk entgegengefallen waren, nachdem sie mit Yumi-Chan im Diskolicht und zu Pop-Musik Bilder in einem Purikura-Automaten aufgenommen hatte. Im Nachhinein betrachtet war die glücklichste Fügung ihres Lebens der zweite Tag an der Kaiserlichen Universität Kyushu, an dem sie von Yumi angesprochen wurde. Sie hatten sich seitdem die verrücktesten Sachen ausgedacht, manche davon umgesetzt.  

„Weißt du, was ich für den Hut geplant habe? Echte Fische, ja lebend, das werden so zwei durchsichtige Plastikscheiben mit etwas Platz dazwischen – in rot, ja, und die Fische schwarz, nein, ganz flach … also, gerade so breit, dass die Fische hineinpassen. Die schwimmen dann, naja, natürlich nicht so gut, aber breiter hätte ich es nicht machen können, sonst wäre der Hut zu schwer. Da ist ja auch noch der ganze Reis drauf … warte, ich schicke dir später eine Skizze …” 

In diesem Moment klingelte das Festnetztelefon. Annika setzte sich auf, steckte die Nadel, die sie gerade gegriffen hatte in eines der Onigiri und rutschte auf den Knien zu der Ladebasis. Sie hatte noch keine Zeit gehabt, sich Möbel zu kaufen – deshalb stand alles auf dem Boden.  

„Yumi, bleib mal kurz dran …” Sie wechselte den Hörer. „Aniko Senchi am Apparat, brauchen Sie einen Hut?” Während sie das sagte, verzog sie auch schon den Mund. Nein, das klang noch nicht so gut. Sie brauchte einen kreativeren Rangehspruch. Die Stimme am anderen Ende lachte kurz verwirrt, sprach dann distanziert und betont höflich.  

„Hm”, sagte Annika als die Frau fertig geredet hatte. „Ich verstehe nicht, was Sie meinen. Verschoben? Auf wann? Warum?” Die Antworten klangen wie abgelesen. Eine Floskel nach der anderen.  

„Ihre Chefin … die Frau, Frau … ach, ich habe die Unterlagen gerade nicht zur Hand – sie  hat mir den Termin schriftlich bestätigt! Es ist alles fertig, ich verstehe gar nicht, wo das Problem liegt?! … Ja, das haben sie mir schon gesagt …” Die Frau am anderen Ende der Leitung wiederholte sich.  

„Ach, wissen sie was?”, Annika schob sich verärgert ihre Haare hinter das linke Ohr. „Wenn Sie meine Hüte nicht ausstellen möchten, will ich Sie nicht zwingen. Ich habe genug Anfragen – die  Leute stehen bei mir Schlange! Schönen Tag noch!” 

Annika knallte den Hörer auf die Ladestation und blies sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Sie hatte sich immer noch nicht an die neue Frisur gewöhnt. Ein scharf geschnittener, platinblonder Bob sollte ein Teil ihres neuen Künstlerimages sein. Er sollte zu ihrem neuen Künstlernamen passen: Aniko Senchi. Aber sie hatte nicht bedacht, dass ihr die Haare bei der Arbeit ständig in die Augen fallen würden.  

Annika starrte zu der halbfertigen Algenschleife. Dann fiel ihr wieder ein, dass sie Japan am Handy hängen hatte. Sie hob es wieder auf.  

„Yumi-Chan.” Sie versuchte, den Ärger aus ihrer Stimme raus zu halten. „Bin wieder da. War nur kurz was – ein Kunde. Ne, alles gut.” Sie versuchte zu lächeln. „Wo waren wir? Ach so, ja. Ich glaube, die Fische werden eine richtige Sensationswelle auslösen, oder zumindest genug Kontroversen.” 

Wieder klingelte das Festnetztelefon. Das war bestimmt die Frau von vorhin nochmal. „Yumi-Chan, warte noch mal kurz.”  

Annika hob das Handy weg vom Ohr und drückte den Hörer an das andere.  

„Aniko Senchi, hutvolle Kunst für den Kopf, am Apparat. Haben Sie es sich anders überlegt? … Oh, hallo.” Es war nicht die Frau von vorhin, sondern eine andere. Ihr Anliegen klang aber ähnlich.  

„Wie, Sie können Ihre Räumlichkeiten nicht für die Show zur Verfügung stellen? Sie haben doch … hm … natürlich sind meine Hüte Kunst! Kontroverse Kunst sogar! Also, ich finde das jetzt komisch. Vor paar Wochen klangen Sie noch ganz anders.” 

Das konnte jetzt doch nicht sein. „Aber … aber … ja, auf Wiedersehen.”  

Annika starrte den tutenden Hörer in ihrer Hand an. Das brachte ihre komplette Planung durcheinander!  

Sie hatte das Telefon nicht einmal zurück in die Basis gestellt, als es wieder klingelte.  

„Aniko Senchi … Irgendwas mit Hüten!” Das war jetzt die Journalistin, mit der sie am Wochenende ein Interview haben sollte. Sie wolle die Richtung des Artikels etwas ändern, da ja heute diese große Kritik von der Pfuhlmann erschienen sei …  

„Pfuhlmann? Verena Pfuhlmann?”  

Etwas in Annika sank wie eine bleischwere Kugel.  

„Wo ist der Artikel erschienen?” 

Sie stand auf, schob sich die Haare hinter das Ohr, sah sich um. Ihre Arbeitsfläche sah aus, als hätte ein Kindergarten darauf gewütet. Was hatte Verena über sie geschrieben?  

Annika wühlte ihre Füße in die Holzsandalen, warf sich ihr Yukata über und verabschiedete sich von der Journalistin. Sie hatte eh nur noch mit halbem Ohr zuhören können. Verena. Vreni. Die Sturm-Vreni. Der Name beschwor Erinnerungen herauf, an eine Zeit, die ihr wie aus einem anderen Leben vorkam. Lange vor Japan. Und bevor sie die Hutkünstlerin Aniko Senchi war, sondern Annika Zentmayer, ein einfaches Mädchen vom Land, das kurz vor ihrem Abiball stand – und dessen beste Freundin Vreni Pfuhlmann war.  


„Und was soll das darstellen? Einen Topflappen?” 

Annika erstarrte bei den Worten. Die Sonne knallte, und die Schiffe auf dem Starnberger See knarzten mit ihren Yachtmasten. Der selbstgemachte Hut auf Annikas Kopf rutschte ihr vom Scheitel herunter. Sie hatte ihn aus alten Feinstrumpfhosenbeinen geknüpft, und nach dem letzten Knoten zur Anprobe auf dem Kopf drapiert. 

Verena hatte währenddessen neben ihr mit geschlossenen Augen in der Sonne gebadet, drei Schulbücher als Kissen unterm Kopf, die Zehen im Gras, die Haut perlmuttbleich.  

Annika schob den Hut zurecht.Wie findest den?”, fragte sie Verena. Diese bemühte ein Auge auf und hielt die Hand gegen die Sonne, um besser sehen zu können. 

„Sieht aus wie eine Flunder mit Hautausschlag”, sagte sie. 

Annika nahm den Hut vom Kopf und betrachtete ihn. Er ließ lustlos die Ränder hängen.Annika hatte die Idee zu diesem Hut schon länger und hatte dafür Feinstrumpfhosen in verschiedenen Schattierungen und Dicken über ein halbes Jahr lang gesammelt. Die farblichen Übergänge zwischen den einzelnen Knoten sollten so fließend sein, wie nur möglich. Das Ergebnis war viel besser geworden, als sie es sich erhofft hatte. 

„Aber die Grundidee …” 

Verena zog ihren Bikini zurecht und sagte: „Hast du dein Abiball-Kleid schon kürzen lassen?” 

„Nein.” Annika drehte den Hut hin und her und lies die unförmige Krempe ein bisschen flappen. „Dafür wollte ich auch noch was fürs Haar machen”, sagte sie nachdenklich. 

„Einen farblich passenden Topflappen?” 

„Du bist die schrecklichste Freundin, die man sich vorstellen kann.” Annika warf den Hut auf die Schulbücher. 

Verenas Mundwinkel zuckten kurz nach oben. „Ich weiß. Bin schrecklich ehrlich.” 

Annika legte sich hin, das Gesicht zur Sonne, die Augen geschlossen. 

„Nylon elektrisiert die Haare”, murmelte sie nach einer Weile mehr zu sich selbst. Verena grunzte bestätigend. 

„Wir sollten noch Mathe üben”, sagte Annika. Die Sonne blendete selbst durch die geschlossenen Augenlider und das Ächzen des Sees lullte sie ein in einen Traum über riesige Hüte mit Durchmessern von mehreren Metern, über Hutkrempen in allen geometrischen Formen, aus Stoffen leicht wie Funktionen und schwer wie Algorithmen. 


Verena stand auf dem kleinen Hocker und stemmte ungeduldig ihre Fingerknöchel in die Seiten. Auf dem Boden vor ihr rutschte die Schneiderin herum und passte den Saum des schwarzen Abiball-Kleides an. 

Annika beobachtete fasziniert die Arbeit der Frau: Wie schnell ihre Finger die Stecknadeln in den Stoff reihten, wie sie nur nach Augenmaß einen geraden Saum kreieren konnte. 

Während Verena sich umgezogen hatte, war Annika im Atelier herumgegangen und hatte alles betrachtet. Sie nahm jeden Gegenstand einmal in die Finger: die Federn und Fäden, Paillettenbänder, Perlenschnüre, Knöpfe und Satinbänder. Sie wünschte sich, vier derart ausgestattete Zimmer zu besitzen, in denen sie sich austoben könnte. Plötzlich wurde ihr klar: Mehr würde sie im Leben nicht brauchen, um glücklich zu sein. 

„Mir passt es so nicht”, sagte Verena. Die Schneiderin war fertig mit dem Saumstecken und gab ihrer Kundin die Möglichkeit, sich im Spiegel zu betrachten. Diese zog die Augenbrauen zusammen. „Ich hätte gerne hier noch so einen Schlitz.” 

„Das geht wahrscheinlich wegen des Unterrocks nicht”, warf Annika ein und spürte ihr Herz klopfen, als die Schneiderin zustimmend nickte. Verena verzog den Mund. 

„Irgendwas fehlt auf jeden Fall noch. So ist es ziemlich fad”, sagte sie. 

Annika musste nicht lange überlegen. Die Sache war klar: „Dir fehlt ein passender Hut.” 

Das Lachen ihrer besten Freundin und der Schneiderin registrierte sie nicht mehr. Ihr Kopf entwarf schon etwas Skandalöses für Verenas Lockenpracht – aus Rabenfedern, Perlbändern und Samt. 


Annika konnte schwören, dass der Uhr neben der Tafel gerade zehn Minuten einfach abhandengekommen waren. Das letzte Mal, als sie aufgeschaut hatte, war es noch zwanzig nach gewesen. Jetzt stand der Zeiger auf der siebenunddreißigsten Minute und auf Annikas Prüfungsbogen hat sich nichts verändert. Nur ihre Finger waren voller Tintenflecken. Noch zehn Minuten bis zur Abgabe und ihr fehlten die Nummer sechs und die Hälfte der Nummer fünf und weiter vorne, bei der eins, hatte sie noch vier Lücken.  

Ihr Unterarm klebte an der Schulbank, die Luft stand im Raum und der Uhrzeiger übersprang schon wieder ein paar Minuten. Annika trommelte mit der Füllerspitze auf das Schmierblatt. 

Verena saß vor ihr, die schwarzen Locken lässig auf dem Kopf aufgetürmt, und blätterte gelangweilt durch ihre Bögen. Die Äderchen unter der Haut ihres Nackens schimmerten kühlviolett. Verena drehte kaum merklich den Kopf und hob ihr Blatt an. Und tat so, als würde sie ihre Antworten noch einmal durchgehen.  

Annika setzte sich auf. Ihr Blick huschte zum Lehrer, zur Uhr, dann auf das Drittel von Verenas Blatt, das sie jetzt sehen konnte. Die Nummer eins! Annika kniff leicht die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Hektisch begann sie zu schreiben.  


Mit diesen Erinnerungen im Kopf klackerte Annika nun die Stockwerke herunter, das Holz ihrer Schuhe echote unglaublich laut auf dem Marmorboden.  

Draußen wehte ihr Baustellenstaub in die Augen, sie blieb stehen, Maschinenlärm in den Ohren. Sie musste erst überlegen, wo sie eine Zeitung in die Hände bekommen könnte. Den Kimono eng an den Körper gepresst, klapperte sie um den Block zum nächsten Lottoshop.  

Sie hatte die Zeitung geöffnet, noch bevor sie sie zahlte. Mit zitternden Händen las sie: „Hüte sind keine Kunst”, bis die Frau an der Kasse sie anschnauzte, ob sie jetzt zahlen wolle oder nicht – sie  mache normalerweise um diese Zeit ihre Raucherpause.  

Annika tastete nach ihrem Geldbeutel, aber ihr Überwurf hatte keine Taschen, schob sich ihre Haare hinter die roten Ohren und setzte sich auf die Zeitschriftenauslage, trotz der lauten Einwände der Verkäuferin. Vreni Pfuhlmann. Annika schwitzten die Hände. Vreni musste das mit Absicht gemacht haben. „Undankbare, hinterf…” 

Die Frau tippte Annika unsanft auf die Schulter: „Erst kaufen, dann den Hintern draufdrücken“, sagte sie.  

Annikas Ohren wurden noch röter. Sie stand auf und tastete nochmal nach ihrem Geldbeutel. Sie hatte ihn wohl in der Wohnung liegen gelassen. Sie tastete nach ihrem Schlüssel, tastete, sah an sich herab, sah die Frau an und setzte sich wieder auf die Auslage. Ihr Kimono hatte keine Taschen, sie hatte keinen Schlüssel und oben in der Wohnung lag noch das Handy und Yumi war dran.

Wie geht die Geschichte weiter?

Lies gleich das nächste Kapitel und finde es heraus: Kapitel 5 – Glamour und Abgrund

Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.

Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?

Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede(r) Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Annika wurde von Arina Molchan verfasst.

(Bild von Anil sharma auf Pixabay)


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