Ein Gemeinschaftsroman von Alexander Wachter, Annika Kemmeter, Arina Molchan, Ina Maschner, Lydia Wünsch, Nina Lischke, Verena Ullmann und Victoria Grader.
Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog
Ina
An einem lauen Sommerabend schloss Ina Násowasz das letzte Mal die schwere Stucktür des Tempels auf. Sie lehnte einen Stapel Umzugskisten gegen die Wand, schaltete das Licht ein und sah schweren Herzens, wie die orientalischen Hängeleuchten den Raum bis in die hinterste Ecke in dunkelrotes Licht tauchten. Dann riss sie sich ihr buntes Tuch aus dem zerzausten Haar. Es landete in der Ecke neben Diwanen und Sitzpolstern, welche den Tempel Stück für Stück zu ihrem Refugium gemacht hatten. Sollte die Pfuhlmann sich doch darum kümmern, wie auch um die anderen Möbel. Ina hatte weder Platz noch Verwendung für ihre liebevoll zusammengestellte Einrichtung.
Bevor sie hinter die Ladentheke ging, blieb sie einen Moment im Raum stehen und inhalierte den schweren, süßlichen Duft, der wie immer in der Luft hing. Als ob nichts wäre. So, als ob die Türen immer noch offen stünden. Wie konnte alles nur so schiefgelaufen sein?
Ina atmete tief ein und aus. Es wird ein gutes Ende nehmen! Mit der Hand fuhr sie über das Teeregal. Alle Suchenden, kamen sie auch mit den ungewöhnlichsten Wünschen, hatten den Laden zufrieden und meist mit einem liebevoll verknoteten Teesäckchen in den Händen verlassen. Ina wusste genau, welche Teeblätter spirituelle Prozesse förderten und welche Mischung das innere Gleichgewicht wiederherstellen konnte. Und nicht nur so hatte Ina geholfen! Es gab zahlreiche Methoden, um den Weg eines Menschen vorherzusagen: Tarot, Handlesen und die Aurenverbindung waren nur ein paar ihrer Fähigkeiten. Oftmals genügte schon ein Blick in die Teetasse, um das Problem der Kunden zu benennen, der sie geleert hatte. Sie seufzte und begann die duftenden Schachteln im ersten Umzugskarton zu stapeln. Kurz darauf brauchte sie den zweiten.
Hinter der Theke streichelte sie ihre Teeblumen, das Weihrauchfass und die Räuchermischungen. Dann nestelte sie an ihrem Lederbeutel herum. Immer, wenn sie Substanzen darin transportierte, die nicht unbedingt Aufmerksamkeit erregen sollten, trug sie ihn verdeckt unter ihrem Überrock. Der frische Liebstöckel aus ihrem Garten, die Süßholzraspel und getrockneten Muskatblüten waren weniger problematisch als der blaue Pfeffer und die Chalipongawurzel, für die sie letztes Jahr nach Brasilien gereist war. Niemals hätte sie vermutet, dass sie die Wurzel für diesen Zweck einsetzen würde. Immerhin war die Gitarre mit doppeltem Boden gerechtfertigt. Sie hatte sie sich eigens bauen lassen, um die verbotene Wurzel über den Zoll zu schmuggeln. Ein paar Kardamomkapseln aus ihrer Gewürztruhe fehlten noch, um den Schutzwall zu verstärken.
Sie stieg auf einen Bronzeschemel, weil sie bei ihrer Körpergröße sonst niemals bis zum höchsten Regal gekommen wäre, und zog dann vorsichtig an einer Schachtel, hinter der sie die Truhe aufbewahrte. Schon schlitterte der Pappkarton aus dem Regal und landete mit einem Knall am Boden, wo sich der gesamte Inhalt verteilte: ein paar Tücher, ungewöhnliche Münzen und etwas Nähzeug. Sie tastete mit der Hand im Leeren und versuchte, die Truhe zu erfühlen. Als sie endlich eine Ecke erwischt hatte, stieg sie vom Schemel, balancierte dabei die Gewürztruhe über ihrem Kopf und setzte sie ächzend auf dem Boden ab.
Sobald der Deckel nach oben klappte, breiteten sich die Aromen aller Gewürze im Raum aus, die in der Truhe in vielen weiteren kleinen Schachteln und Säckchen verstaut waren: Zimt, Sternanis, Kurkuma, Bockshornklee, Fenchel, Rosmarin, Bohnenkraut, Kapuzinerkresse, Engelwurz, Kerbel, Cumin und auch Kardamom.
Ina suchte sich drei große Kapseln aus, die schon trocken waren, legte sie in ihren Lederbeutel, klappte die Kiste wieder zu und schleppte sie zu der nächsten Umzugskiste. Sie warf dazu, was eh schon auf dem Boden lag und machte sich dann daran, ein Räuchergefäß zu finden, das ihr für den Anlass geeignet erschien. Es ging dabei weniger um Ästhetik als um die Rauchqualität: Es musste etwas sein, dass den Rauch lange konservierte und ihn durch eine schmale Öffnung gleichmäßig entließ. Sie betastete verschiedene Weihrauchfässer und entschied sich für ein silbernes, kannenartiges Ding, das sie an einen rundbäuchigen Flaschenkorb erinnerte.
Für oben sollte ein Drittel aller Zutaten genügen, dachte sie sich und begann ein paar Weihrauchblätter mit etwas Liebstöckel und blauem Pfeffer zu vermischen. Danach gab sie Süßholzraspel, Muskatblüten und ein Stück von der Chalipongawurzel hinzu, welches sie zwischen ihren Fingern zerrieb. Zu guter Letzt öffnete sie eine Kardamomkapsel und ließ sie in den Behälter fallen.
Bevor sie ein Streichholz anzündete, sprach sie die Formel: „मिश्रण – Vermischt euch!“ Dieses Mantra sollte der Entfaltung des Rauchs zugutekommen. Hindi, die erste der drei mächtigsten Sprachen, hatte sie in ihrer achtjährigen Ausbildung bei Madame Velola neben dem Hebräischen und Fulani gelernt. Und nun, wo der Tempel verloren war, brauchte sie alle möglichen Mächte der Welt: Wenn die alte Velola noch gelebt hätte, hätte Ina sie längst um Hilfe gebeten.
Doch sie musste es allein schaffen – wenn der Tempel schon an die niveauloseste und ordinärste Person ging, die Ina bisher in ihrem Leben kennen gelernt hatte, so sollte wenigstens die Energie aller Gegenstände erhalten bleiben, so dass sie, wenn sie den Tempel wieder hatte, so tun konnte, als ob die verabscheuungswürdige Verena Pfuhlmann ihr Heiligtum nie entweiht hätte. Sofern Verena den Wert der Gegenstände zu schätzen wusste. Ina hoffte nur, dass dieses Miststück so viel Verstand besaß, um die Beziehung zwischen Aschera und den Gegenständen zu begreifen. Wahrscheinlicher war, dass die Pfuhlmann nichts kapierte und alles wegwarf. Ina wünschte, sie hätte Platz, alles sicher unterzustellen. Doch ohne die Einnahmen aus dem Tempel konnte sie nicht mal mehr ihre Miete bezahlen. Zum Glück hatte sie als Übergangslösung einen Wohnwagen in den Kleinanzeigen ergattert.
Seufzend warf sie ein brennendes Streichholz in die Räucherkanne und klappte schnell den Deckel zu. Sie schob die profanen Alltagsgedanken beiseite und begann, sich auf das größte Energiefeld im Raum zu konzentrieren, indem sie die Augen schloss und sich auf ihren Standort fokussierte. Das Ausloten von Kraftfeldern war eine Kleinigkeit für sie, auch wenn es Jahre gedauert hatte, sich diese Fähigkeit anzutrainieren. Die meisten Menschen zogen wie Schafe an ihnen vorbei und merkten nicht mehr als plötzliche Trübsal oder leichte Kopfschmerzen. Nach ein paar Sekunden hatte sie das Energiezentrum ausgemacht: Es befand sich wie so oft bei abnehmendem Mond direkt vor dem tiefen, goldenen Teetisch.
Ina stellte sich direkt davor. Dann hob sie ihr Rauchgefäß und begann zu singen. Weil ihr im Moment kein indisches Mantra einfiel, summte sie ein ungarisches Lied, das ihr aus Kindertagen im Kopf geblieben war. Sie machte ihre Runde durch dem Raum, folgte dem Energiefluss und beobachtete, wie sich eine Rauchschnur bildete, die ungewöhnlich lange erhalten blieb. Am Ende hatte sie einen Stern aus bläulichem Rauch im Raum stehen und ließ sich in der Mitte in einen Schneidersitz sinken.
So blieb sie ein paar Minuten mit dem Raum verbunden und als sie ihre Augen öffnete, war der Rauch verflogen. Allerdings blieb ein blau-violetter Dampf in der Luft hängen, von dem sie hüsteln musste. Dann sprang ihr wieder der Teetisch ins Auge. Ina meinte, die Kratzspuren von Verenas Fingernägeln zu erkennen.
Das verfluchte Ding…, dachte sie und öffnete das Rauchgefäß. Sie schüttete die Asche auf den Tisch und begann, ihn mit bloßen Händen einzureiben. Warum wusste sie nicht genau, aber sie stellte sich vor, wie der Schutzzauber vom Tisch aufgesaugt wurde und, vielleicht mit etwas Glück im entscheidenden Moment, zuschlug.
Der erste Schritt war getan: Der Besucherraum war auf eine kurzzeitige, feindliche Übernahme vorbereitet und Ina konnte sich endlich dem Herzen des Tempels widmen. Sie stand vor der von einem Wandteppich verdeckten Tür. Den Teppich hatte sie damals gemeinsam mit einem sufistischen Einsiedler in der Wüste Nefud angefertigt. Ein letztes Mal hob sie ihn an, und fuhr mit ihren Fingerspitzen über die Tür. Dann gab sie den Zahlencode in das kleine metallische Kästchen an der Wand ein und wartete auf das Klacken.
Die Tür sprang auf. Sie trat in die Kammer, die wie ein Abstellraum wirken sollte, schob die eigens für diesen Anschein angeschafften Putzeimer, Besen und Staubsauger zur Seite und rollte den kleinen roten Teppich weg, den sie vor vielen Jahren in Ägypten für diesen Zweck gekauft hatte: Die Falltür zu verstecken, den Zugang zum Inneren Sanktum. Als sie die Luke anhob, fühlte Ina plötzlich Tränen in ihre Augen aufsteigen, die sie entschlossen herunter schluckte.
„Das ist nicht das letzte Mal”, sagte sie sich, blinzelte ein paar Mal und zwang ihre Beine zum Gehorsam. Schritt für Schritt begab sie sich ins Innere Sanktum, von dem der Puls des Tempels ausging. Je näher sie kam, desto stärker pochte ihr Herz – so als wollte es aus ihrer Brust herausspringen und auf dem Steinboden liegen bleiben. Hier unten war Elektrizität verboten, aber ewig brennende Kerzen aus Weidenharz tauchten die Wände in flackerndes Licht und halfen Ina bei ihrem Weg hinunter. Dann stand sie schließlich vor Aschera.
Sie befand sich im größten Energiefeld des Raumes, dem stärksten Energiefeld des Tempels und wahrscheinlich dem absoluten Energiezentrum des ganzen Landes. Die Bahnen verliefen rund um die Statue, denn sonst war nichts und gleichzeitig alles im Inneren Sanktum des Tempels. Ihre Lippen bebten als sie Aschera ansah, doch sie riss sich weiter zusammen und legte alle restlichen Zutaten in die Räucherkanne, sprach feierlich ihr Mantra, lichtete ein Streichholz und hob die Kanne dann hoch über ihren Kopf.
Mit all ihrer Kraft segnete sie ihr Heiligtum, bis sie schwach wurde und vor der Statue auf die Knie sank. „Pass gut auf meinen Tempel auf”, flüsterte sie Aschera zu. „Ich bin bald wieder da.” Dann schloss sie die Augen, stellte sich den Einzug bei ihrer Wiederkehr in den Tempel vor und atmete noch ein paar Mal ruhig, bevor sie aufstand und das Sanktum verließ, ohne zurückzublicken.
Erst nachdem die wichtigsten Dinge gepackt, der Tempel zugeschlossen und Ina mit Kisten beladen auf dem Weg zu ihrem Wohnwagen war, entfuhr ihr ein Schluchzen. Und ihr war, als ob es aus dem Herzen des Tempels zurückgeworfen wurde.
Wie geht die Geschichte weiter?
Lies gleich das nächste Kapitel und finde es heraus: Kapitel 7 – Munich-City-Queen
Was ist Auffällig Unauffällig?
Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.
Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?
Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede(r) Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Ina wurde von Victoria Grader verfasst.


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