Kapitel 10 – Black, black, black … Burana

5–7 Minuten
Avatar von Arina Molchan

Ein Gemeinschaftsroman von Alexander WachterAnnika KemmeterArina MolchanIna MaschnerLydia WünschNina LischkeVerena Ullmann und Victoria Grader.

Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog

Annika liebte es, die Nachmittage bei den Pfuhlmanns zu verbringen. Verenas Eltern hatten einen großen Garten mit Kirschbäumen und einem Teich voller dicker Karpfen. Im Zwinger hielt Leopold Pfuhlmann seine zwei Jagddackel, Wolf und Ida. Sie waren mürrisch und keiften gerne. Anders als Sturm. Sturm war der einzige Hund, den Annika einigermaßen mochte. Er war ein übergewichtiger, schwarzer Labrador, der schon so alt war, dass sein Fell grau schimmerte.  Sie konnte sich noch an den Kindergeburtstag erinnern, an dem Verena Sturm geschenkt bekam. Alle Kinder waren neidisch auf sie gewesen. Leni hatte sogar angefangen zu weinen. Annika war nur darauf neidisch, dass der Hund die volle Aufmerksamkeit ihrer besten Freundin hatte. Irgendwann gewöhnte sie sich aber an das Tier und als er dann älter und ruhiger wurde, konnte Annika ganz gut mit Sturm leben.  

Sie klingelte am Tor und wartete, bis der Buzzer sie in den Vorgarten ließ. Sie hatte eine große Schwarzwälder Kirschtorte aus der Kramerl-Bäckerei mitgebracht, als Dankeschön für die Rettung während der Prüfung. 

An der großen, schweren Haustüre klingelte Annika noch einmal. Sie trug ihren Lieblingsschlapphut, dessen Krempe ihr immer wieder vor die Augen rutschte. Sie stellte kurz den Kuchen ab und rückte den Hut zurecht. Dann klingelte sie erneut und sah besorgt durch die Gitterstäbe des Einfahrtstors. Hinter dem Haus hörte sie Ida und Wolf kläffen. Sie wartete. 

Der Schuss kam so plötzlich und laut, dass sie fast den Kuchen fallen ließ und den Buzzer nicht hörte, der fast zeitgleich das Schloss für sie öffnete. 

„Komm rein“, krächzte die Sprechanlage. Annika schob sich die Hutkrempe aus dem Gesicht und öffnete das Tor. Ida und Wolf fingen hinter dem Haus wieder an zu bellen. 

Die Wände der Eingangshalle der Pfuhlmanns waren vollbehangen mit Steinbockschädeln auf hübschen Holzplatten, mit Jahreszahlen auf goldenen Plättchen darunter. Den Mittelpunkt, genau gegenüber der Eingangstür, bildete ein ausgestopfter Elchkopf. Er hatte sehr lange Wimpern.  

Annika stellte die Torte in der Küche ab und machte sich auf den Weg, Verena im Haus zu suchen. Sie war nicht in ihrem Zimmer, nicht auf der Galerie, nicht im Musiksalon. Wieder unten traf sie Leopold Pfuhlmann, der gerade aus dem Garten hereinstiefelte, mit seinem Gewehr auf dem Rücken und einem großen Karton in den Händen.  

„Na? Lasst de du a amoi wieder seng, Freindin? D’Verena is im Gortn draußd und woant.“  

„Warum?“ 

Zur Antwort stellte er den Karton auf die weißen Fließen und öffnete ihn. 

Drinnen lag Sturm und schlief.  

„Krebs“, sagte Leopold und ging in die Küche, um sich etwas zu trinken einzuschenken. 

Annika starrte auf das schwarze Fell. Auf die Schlappohren, auf das entblößte Gebiss, auf den stillen Brustkorb. 

„Oje“, sagte sie und trat näher. Es roch nach Hund und Papier. Dann sah sie das dunkle Glitzern auf der Schnauze und beugte sich etwas tiefer, um die Farbe auszumachen. Es sah einfach nur aus, als ob das Fell nass wäre, leicht verklebt. 

„Mei, der war scho doud, no bevor a an Schuss hearn hat kinna.“ Leopold stellte sich neben Annika, ein volles Glas auf seinen runden Bauch gestützt und blickte mit ihr zusammen zum Sturm im Karton. 

„Der soit ned endn, wiar a Stodthund, woaßt“, erklärte er, „mid Spritzn. Aber geh liaba amoi zur Vreni. Des nimmts etz scho gscheid mid.“  

Annika fand Verena unweit des Karpfenteichs auf der Bank. Sie saß völlig aufgelöst da, ihr Dutt hing schief, ein paar Strähnen klebten ihr an den Wangen, sie schien kaum Luft zu bekommen. Ihre Schultern zuckten bei jedem Schluchzer, und zitterten, wenn ihr die Stimme ausblieb. 

Annika wusste nicht, wohin mit ihren Händen. Sie versuchte, Verenas eckige Schultern zu umarmen, aber die Hutkrempe knickte ab oder war im Weg. 

„Nicht weinen“, flüsterte Annika und zog sich den Hut vom Kopf. „Ich habe Torte mitgebracht.“ 

Verena schluchzte auf. Annika streichelte ihr den Oberarm. 

„Wie kann ich dich aufmuntern?“, fragte sie nach einer Weile und bekam keine Antwort. 


Aniko stand am Fenster und sah dem Münchner Himmel beim Weinen zu. Die Wolken waren fahlorange, dunkelgraublau wie dichter Rauch. Die Regentropfen an der Fensterscheibe bündelten das Licht der Straßenlaternen, des Feierabendverkehrs, der Hausfront gegenüber zu vielen kleinen Welten, gefangen im Wasser. Aniko nippte an ihrem Tee, und dachte nach.  

Sie hatte das Zimmer dunkel gelassen, in der Hoffnung, später besser einschlafen zu können. Der Besuch der Burana ging ihr nicht aus dem Kopf. Im Vergleich zu ihrem letzten Besuch hatte sie sich verändert. Es waren Kleinigkeiten. Der verzweifelte Stolz hinter jedem Bissen in die Windbeutel; die Fingernägel, die sich in das Katzenfell krallten, als wäre es ihre letzte Rettung. Die Veränderung in ihren Augen, als sie den Schleier des Florentiners herunterzog – der Blick einer Witwe, die vor dem ausgehobenen Grab ihrer großen Liebe stand. Ein letzter Blick, eine letzte Blume und ein Tränendamm aus letzter Selbstbeherrschung.  

„Die gefallene Diva“, flüsterte Aniko der verregneten Stadt zu und nahm noch einen Schluck Tee. „Ein schwarzes Lied. Carmina Burana in Black.“  

Sie drehte dem Fenster den Rücken zu und spähte in das nächtliche Zimmer. Das Fenster zeichnete verzerrte Vierecke auf den Parkettboden und leise, ganz leise, als wäre es nur eine Erinnerung, prasselte der Regen auf den blechernen Fenstersims.  

Aniko schloss die Augen. Black Burana. Black, black, black …  

Sie trank den letzten Schluck, überquerte in wenigen Schritten das Zimmer, riss die Tür auf, rannte zum Tisch. Mit einer Hand schaltete sie die Lampe an, mit der anderen kramte sie bereits nach einem Block und Bleistift.  

Black Burana. Sie skizzierte eine Idee nach der anderen. Draußen rauschte der Morgenverkehr vorbei, dann nochmal ein Regen. Das Telefon klingelte – vier Mal. Ein Magen knurrte.   

Als Aniko vom Tisch aufstand, war es draußen bereits wieder dunkel und der Regen prasselte an die Fensterscheibe, als wäre keine Sekunde vergangen. Black Burana – die neue Kollektion.  

Aniko legte alle Entwürfe aus, knickte Ecken, damit sie nebeneinander passten wie Mosaiksteine. Dann holte sie das letzte leere Blatt und schrieb darauf mit einem dicken Kohlestift: „im Tempel“.  

Es war an der Zeit, alte Rechnungen zu begleichen. 

Wie geht die Geschichte weiter?

Lies gleich das nächste Kapitel und finde es heraus: Kapitel 11 – Abschied im Sand

Was ist Auffällig Unauffällig?

Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.

Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?

Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede(r) Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Aniko wurde von Arina Molchan verfasst.

Bild von Anil sharma auf Pixabay


Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..