Kapitel 12 – Zwischen Observation und Lust

8–13 Minuten
Avatar von annikakemmeter

Ein Gemeinschaftsroman von Alexander WachterAnnika KemmeterArina MolchanIna MaschnerLydia WünschNina LischkeVerena Ullmann und Victoria Grader.

Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog

Detektiv Marty Trapington berührte unauffällig die Innenseite seines linken Brillenbügels. Ein paar Fotos von dem ungewöhnlichen Leberfleck brauchte er, dann konnte er hier wieder raus. Doch sein Observationsobjekt drehte sich gerade in dem Augenblick um, als Marty Trapington den Auslöser der Spionagekamera in seiner Brille betätigte: Marty Trapington war noch nicht erlöst. Konzentriert kniff er seine Augen zusammen, um den richtigen Moment zu erwischen, als er den klatschenden Schmerz einer Hand auf seiner nackten Pobacke fühlte. Die Hand blieb liegen, fuhr dann über seine Seite zu seinem runden, behaarten Bauch, weiter hinauf zu seiner Brust, wo sie mit seiner Brustwarze spielte. Zu der Hand gehörte, wie Marty im Schummerlicht erkannte, eine Dame, die wie er einen roten Mankini trug, und deren obere Gesichtshälfte durch eine Maske aus roten Federn verdeckt war. Sie nahm nun sein Gesicht in beide Hände und drückte ihre Lippen auf die seinen. Es musste die fünfzehnte oder zwanzigste Person sein, die ihn heute Abend küsste, ohne dass sie zuvor auch nur ein Wort gewechselt hätten.  

Frau Molch, seine Sekretärin, hatte ihn darauf vorbereitet: Die Inhaberin des “Tempels” war in kleinen aber erlesenen Kreisen für ihre lustvollen, psychologisch-künstlerischen Experimente  bekannt, die nur einem exquisiten und von ihr selbst ausgewähltem Publikum zuteilwurden. Wie Frau Molch ihm Zugang zu diesem geheimen Event verschafft hatte, konnte sich Marty Trapington nicht erklären. Sie hatte ihm auf diese Frage, wie üblich, nur mit einem Zwinkern geantwortet. „Machen Sie bei allem mit, Marty“, hatte sie ihm geraten. „Wer sich in diesen Kreisen zurückhält, fällt auf!“  

Die Dame, die sich gerade an ihn schmiegte, würde gleich weiterziehen, so war es bis jetzt immer gewesen. In der Zwischenzeit hieß es, den mutmaßlich Gesuchten im Auge zu behalten. Er war gerade mit jenem jungen Mann zugange, der zu Beginn der Show auf einem Podest gestanden und sich mit lebendigen Katzen hatte streicheln lassen. Der junge Mann zog Martys Zielperson in die Mitte des Raumes und drehte sich mit ihm zu psychedelischen Klängen im Kreis. Die Nebelmaschine würde gleich wieder anspringen, aber gerade im Augenblick könnte eine Aufnahme gelingen. Jetzt war eine gute Chance. Gleich würde das Observationsobjekt ihm seine Rückseite zuwenden. Der Leberfleck sollte die Form einer Taube haben und unterhalb der rechten Pobacke sitzen. Marty zog die Dame, die ihm gerade in die Lippe biss, an sich heran und führte sie näher zu dem tanzenden Herrenpaar. Dann glitt er an ihr herab und betätigte, links an ihren Schenkeln vorbeilugend, den Auslöser. Die Dame ließ einen lustvollen Laut hören und stieß Martys Gesicht in ihren Schoß. Wenn Marty sich nicht geirrt hatte, und das kam selten vor, hatte er das taubenförmige Muttermal großformatig in Full-HD eingefangen. Marty schob die Beine vor sich auseinander, duckte sich und krabbelte zwischen ihnen hindurch. In dieser Position drängte der String-Tanga noch tiefer in die Ritze zwischen seinen Backen. Er hoffte, dass die Inhaberin des “Tempels”, Verenea Pfuhlmann, reich genug war, die leicht öligen Tierfelle, über die er gerade krabbelte, nach jedem dieser “Abende” reinigen zu lassen. Er sah sich um. Nichts, woran er seine Hände abwischen konnte. Da erschien Frau Pfuhlmann, schimmernd wie ein Tabernakel. Golden war ihre gigantische, venezianische Maske, die in eleganten Schwüngen an den Wangenregionen ansetzte. Wo der Haaransatz wäre, umrahmten einer Corona gleich goldgetünchte Pfauenfedern ihr Gesicht. Auch ihr leichter Mantel bestand aus goldenem, durchscheinenden Material, unter der jedermann ihren nackten Körper erkennen konnte. Das Haar wurde mit einem schwarzen Spitzenhaarband zusammengehalten. Daran, hatte Frau Molch ihn eingewiesen, konnte er sie erkennen. Sie bändigte ihr schwarzes, lockiges Haar offenbar immer mit solch einem Kniff. An ihrer goldschimmernden Hand führte sie einen noch sehr jungen Mann die Treppe hinab in das sogenannte Innere Sanktum, den Kellerraum unter ihrer Bar, in dem sich Marty nun schon seit zwei Stunden aufhielt. Bis sein Observationsobjekt endlich die Treppe heruntergestolpert war, musste Marty unzählige Küsse und Streicheleien von völlig Fremden über sich ergehen lassen. Zum Glück gab es hochprozentigen Alkohol, mit dem man sich den Rachen ab und zu ausspülen konnte.  Damit ließen sich hoffentlich die meisten Keime abtöten. Und er musste zugeben, dass sich die Strapazen tatsächlich gelohnt hatten: Er hatte, was er wollte, und konnte den Auftrag schon morgen zum Abschluss bringen. Das Foto von dem Tauben-Leberfleck musste ihm gelungen sein und es war das nötige Beweismittel dafür, dass es sich bei dem hier befindlichen jungen Mann tatsächlich um den Gesuchten handelte. Nun gut. Frau Pfuhlmann war also beschäftigt, außerdem augenscheinlich betrunken und zugedröhnt. Sie würde Martys Verschwinden höchstwahrscheinlich nicht bemerkten. Er musste nur noch an ihr und dem Jungen vorbei, die Treppe hinauf und durch die Falltür wieder zurück in die Herrentoilette, wo er in einem ihm zugewiesenen Fach seine Kleidung deponiert hatte. Er krabbelte über rutschige Seidentücher und klebrige Wattebäusche in Richtung Treppe, die Inhaberin im Blick. Gerade nahm sie ihre Maske ab und begann den jungen Mann an ihrer Hand höchst frivol zu küssen. Erst in diesem Augenblick erkannte Marty ihn. Nichts, was an diesem Abend passiert war, schockierte Marty mehr als dieser Anblick: Es war Frank. Der minderjährige Sohn seiner Sekretärin! 

Er war noch nicht mal ganz sechszehn Jahre alt und hatte hier nichts verloren! Ein unschuldiges Kind, das hier und jetzt seinem Verderben entgegenlief. Am liebsten hätte er ihn am Arm gepackt und hinausgeführt. Wie Frank die Inhaberin da küsste, das war widerlich und sah nicht im Geringsten unschuldig aus. Marty konnte es sich natürlich nicht leisten, einen der geladenen Gäste hinauszukatapultieren. Unauffälligkeit war das oberste Prinzip der Detektivarbeit. Verärgert drückte Marty auf den Auslöser. Ein einziges Mal. Dann kroch er weiter, stieg die Treppe hinauf, durch die Falltür und in die Herrentoilette.  

Ein paar Minuten verharrte Marty Trapington hinter einem dunkelblauen Passat und beobachtete von diesem Posten aus seine Detektei. Als er sich sicher war, dass Frau Molch nicht mehr am Arbeitsplatz war – alles war dunkel und er hatte keine Bewegungen wahrgenommen – ging er zielstrebig über die Straße und huschte die Holztreppen des Altbaus hinauf. Er lauschte an der Tür. Nichts! Dann öffnete er sie und schlich ohne Licht zu machen, ins Badezimmer, um endlich die Schmiere an seinen Händen los zu werden. Im “Tempel” war die Seife aufgebraucht gewesen. Es wunderte Marty nicht! Nun kam der schwierige Teil. Er musste zum Computer seiner Sekretärin. Er selbst hatte keinen. Er war für alles Analoge, Digitales stieß ihn ab wie kalte Hühnerbrühe. Diese Geräte und ihre Programme, sie waren kühl und unbeherrschbar. Die einzigen digitalen Geräte, auf die er sich einließ, waren sein Handy – ein altes Modell, aber es erfüllte seinen Zweck: Man konnte ihn unterwegs telefonisch erreichen – und seine digitale Brillenkamera mit Diktierfunktion. Er hatte Frau Molch allerdings schon oft dabei zugesehen, wie sie die Fotos in den Computer eingespeist hatte und er hatte ein bemerkenswert gutes Gedächtnis, deswegen traute er es sich selbst zu. Dieses eine Mal. Frau Molch würde ihn morgen für verrückt erklären, falls sie es bemerkte. Aber er sah sich gezwungen, sie zu hintergehen. Zu ihrem eigenen Schutz.  

Marty setzte die Spionagebrille ab, nahm seine private Brille aus der Mantelinnentasche und atmete tief durch. Beinahe hätte er ohne nachzudenken den Lichtschalter betätigt. Konzentration! Aber Licht braucht er. Frau Molchs Büro ging in den Innenhof hinaus und lag in völliger Dunkelheit. Frau Molch hatte doch … Marty klatschte und tatsächlich; Die Levitationslampe in Form eines Mondes begann zu leuchten und sich zu drehen. Unnützer Schnickschnack, natürlich, aber doch auch faszinierend, wie der Mond da zwischen zwei Magnetfeldern schwebte. Und sein sanft leuchtendes Licht war gerade hell genug, um Marty bei seiner Aufgabe zu helfen und gedämpft genug, um von draußen nicht bemerkt zu werden. Im künstlichen Mondlicht navigierte Marty sicher durch Frau Molchs Büro. In der obersten Schublade des Schreibtischs fand er das Kabel, das seine Sekretärin benutzte, um Brille und Computer zu verbinden. Er steckte es in die dafür vorgesehene Buchsen an Brille und Bildschirm. “Touch-ID”, forderte der Computer ihn auf. Wo legte man noch gleich seinen Finger hin? Richtig, oben rechts auf der Klaviatur. “Herr Trapington, Sie am Computer?”, fragte der Computer in einem Textfeld. Marty bekam einen Schreck. Konnte es sein, dass Frau Molch von zu Hause aus Zugriff auf sein Konto hatte und ihn mitten in der Nacht ansprach? Doch dann erlosch der Satz und ein Kästchen poppte auf, das die geschossenen Fotos der Digitalbrille anzeigte. Hm. Der Satz vorhin war wohl bloß die Begrüßungsformel, die Frau Molch für ihn erstellt hatte. Marty sah sich sicherheitshalber um, dann wählte er das Foto aus, auf dem Frank und Frau Pfuhlmann zu sehen waren, und gab den Druckbefehl. “Drucker offline”, behauptete der Computer. Marty begann zu summen, hörte aber sofort damit auf, als er es bemerkte. Der Drucker. Das war auch so ein Wahnsinnsgerät. Für Frau Molch musste es immer das Beste von Besten und Neuste vom Neusten sein. Nun gut. Er fand den Knopf. Sofort begann der Drucker komische Geräusche zu machen, doch das Foto ließ auf sich warten. Marty beobachtete, wie der elektromagnetische Schwebemond seine Runden drehte. Er fuhr mit der Hand am Innenrand des schwarzen Cs entlang, in dessen Mitte der Mond rotierte. Es störte den Mond nicht im Geringsten. Marty nahm das ganze Ding in die Hand. Es war so schwer, wie er erwartet hatte. Dann drehte er es auf den Kopf. Der Mond drehte sich ebenfalls auf den Kopf, als wäre er an einer Stange an dem C befestigt und drehte sich unbeirrt weiter. Faszinierendes Ding. Magnete, damit hatte er als Kind auch gerne gespielt …  Da, endlich surrte der Drucker. Das Foto erschien im Ausgabefach. Marty legte den Schwebemond vorsichtig auf den Drucker, nahm das Foto zu Hand und betrachtete es im Licht des Mondes, der sich nun, da er auf dem Drucker auflag, freilich nicht mehr drehte. Das Beweismittel in der Hand zu halten, war abscheulich. Oh, Mann! Frank! Er steckte das Foto in die Innentasche seines Mantels. Seine Arbeit brachte es mit sich, dass er verstörende und schlüpfrige Szenen sah, die ihm im Kopf hängenblieben wie Nudeln im Nudelsieb. Diese Szene würde er nicht nur in seinem Gedächtnis bewahren, sondern über seinem Herzen, in der linken Innentasche. Überall anders war es zu unsicher. Dort hatte er das Bild zu verstecken, bis ihm einfiel, wie er Frank konfrontieren sollte. Aber der Junge war impulsiv und wenn seine Mutter von Franks Eskapaden erfuhr, würde es ihr das Herz brechen. Wie war ihm beizukommen? Marty würde sich auf dem Rückweg etwas überlegen. Und am besten handelte er schnell. Denn als Detektiv hatte er viele Geheimnisse, aber er hatte keine vor Frau Molch. Bis jetzt. Und obzwar er wusste, wie gut er darin war, Geheimes für sich zu behalten, so kannte er auch die Fähigkeiten von Frau Molch, Geheimnisse zu erschnüffeln und auszugraben. Mit aller Vorsicht nahm er den Schwebemond wieder auf und stellte ihn exakt auf die Stelle, wo er vorher gestanden hatte.  Er löschte das Foto aus dem Ordner seiner digitalen Brille. Dann meldete er sich nach ein paar Fehlversuchen erfolgreich von seinem Konto ab. Er knöpfte seinen Mantel zu, klatschte, um den Mond auszuschalten, und verließ das Büro.  

Wie geht die Geschichte weiter?

Lies gleich das nächste Kapitel und finde es heraus: Kapitel 13 – Geheimnisse, Verbrechen und Intrigen

Was ist Auffällig Unauffällig?

Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.

Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?

Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede(r) Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Marty wurde von Annika Kemmeter verfasst.

Bild von Nicolae Baltatescu auf Pixabay


Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..