Kapitel 13 – Geheimnisse, Verbrechen und Intrigen

9–13 Minuten
Avatar von annikakemmeter

Ein Gemeinschaftsroman von Alexander WachterAnnika KemmeterArina MolchanIna MaschnerLydia WünschNina LischkeVerena Ullmann und Victoria Grader.

Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog

Mit einer eleganten Bewegung ihrer langgliedrigen Finger schloss Marina Molch die Tür zur Detektei Marty Trapington auf. Sie schaltete das Licht ein, legte die Post auf Martys Schreibtisch und ging in die Küche, um den Kaffee aufzusetzen. Dann setzte sie sich an ihren eigenen Schreibtisch, auf dem ihr iMac sie erwartete. Die Kaffeemaschine mahlte und brodelte im Hintergrund, als Marina zum ersten Mal einen genauen Blick auf ihren Arbeitsplatz warf. Etwas stimmte nicht. Jemand hatte sich in ihrer Abwesenheit an ihrem Schreibtisch und an ihrem Rechner zu schaffen gemacht. Marina kannte ihren Arbeitsplatz zu gut, als dass ihr nicht selbst die kleinsten Veränderungen daran auffallen würden. Es waren winzige Details: Die Tastatur stand ein wenig schief, und Marina hielt sie immer exakt parallel zum Bildschirm. Sie war überdiese zu geschickt, um sie versehentlich verdreht zu haben. Das Levitationsobjekt, das sie sich selbst als wohlwollendes Zeichen der Anerkennung ihrer Leistungen aus der Firmenkasse zum 40. Geburtstag geschenkt hatte, schaute in die falsche Richtung. 

Es war eindeutig: Jemand war hier gewesen. Aber wer? Marty? Es kam durchaus vor, dass Marty spät nachts noch in die Detektei kam, um etwas zu erledigen. Nur würden dann üblicherweise Notizzettel mit neuen Erkenntnissen auf seinem Schreibtisch liegen und neue Post-its mit Anweisungen an ihrem Monitor kleben. Marty hatte keinen Grund, in seiner eigenen Detektei verstohlen zu sein. Und warum sollte er an ihrem Arbeitsplatz an ihren Sachen herumnesteln?  

Sie eilte in Martys Büro. Auf Martys Schreibtisch befand sich weder ein Computer noch irgendetwas anderes, das den Eindruck erweckte, dass man sich im 21. Jahrhundert befand. Von Martys Brille einmal abgesehen, könnte überhaupt alles an ihm aus einem 50er-Jahre-Krimi entsprungen sein. Forschend sah sich Marina um. Nein, hier war alles noch in demselben Zustand wie gestern Abend, als sie das Büro verlassen hatte. Sollte etwa jemand in die Detektei eingebrochen sein? Möglich war es. Ihr Chef hatte zwar viele zufriedene Kunden, aber nicht alle waren immer glücklich mit dem, was er herausfand. Marina sah sich genauer in den Räumen der Detektei um. Sie überprüfte alle Türen, alle Fenster, alle Aktenschränke – keine Anzeichen dafür, dass sich jemand mit Gewalt Zugriff verschafft hatte. Der Boden war jedoch ein gutes Stück schmutziger, als er noch am Abend zuvor gewesen war. Die Seife im Badezimmer war beinahe ganz aufgebraucht. Marty war hier gewesen.Marina setzte sich zurück an ihren iMac, ohne etwas zu berühren. Die USB-Slots waren nicht belegt, doch einer davon war leicht zerkratzt. Sie musste genau hinsehen, wusste jedoch sofort, dass die Kratzer nicht von ihr stammten. Diesen USB-Slot verwendete sie selbst am häufigsten, meistens, um Martys Brille anzuschließen und die von ihm geschossenen Fotos direkt auf den Rechner zu kopieren. In fünf Jahren hatte sie dabei keinen einzigen Kratzer verursacht. Das musste also Marty gewesen sein, der ungeschickt mit einem USB-Kabel am Rechner hantiert hatte.  

Marina wusste, dass Marty gestern Nacht im Inneren Sanktum nach diskreditierendem Bildmaterial gesucht und es vermutlich auch gefunden hatte, denn schon die Gerüchte rund um Verena Pfuhlmann hatten ausgereicht, um ein buntes Bild in Marinas Kopf entstehen zu lassen: Masken, Sex und pseudo-religiöse Rituale. Nur, warum sollte Marty es so eilig gehabt haben, dass er direkt nach dem Ritual in die Detektei gekommen war und die Bilder selbst auf den PC kopiert hatte? 

Marina entsperrte den Rechner und startete ihre selbst programmierte Recherchesoftware: Arilux. Darauf war sie besonders stolz. Arilux durchsuchte die gängigen Social-Media-Plattformen, glich die Ergebnisse miteinander ab und präsentierte sie ihr bei Abfrage. Außerdem durchsuchte sie automatisch die Datenbanken der großen Detekteien, der Polizeiserver und den Server der Staatsanwaltschaft, sowie natürlich die Dateien ihres lokalen Rechners. Das erleichterte ihre Arbeit ungemein. Sie startete einen Suchlauf durch ihre Festplatte nach kürzlich hinzugefügten Dateien. Fehlanzeige. Marty hatte die Fotos nicht auf den PC kopiert. Was hatte er dann an ihrem Rechner gemacht? Sie sah sich noch einmal in ihrem Büro um. Der Drucker! Marty hatte den Drucker angelassen. Sie schmunzelte. Vielleicht hatte er gar nicht versucht, seinen nächtlichen Besuch zu verheimlichen. Manchmal spielte der Beruf einem Streiche und Marina sah überall Geheimnisse, Verbrechen und Intrigen. 

 “Dann wollen wir doch mal sehen, was Marty hier so dringend noch ausdrucken musste“, murmelte sie, während sie die Liste der abgeschlossenen Druckaufträge öffnete. Sie fand genau eine jpg-Datei, gedruckt um 4:24 Uhr. Wenn das ein Foto vom taubenförmigen Leberfleck war, hatte sich der ganze Aufwand mit dem Inneren Sanktum gelohnt! Sie rollte auf ihrem Bürostuhl zum Image Runner. Geschickt tippte sie auf dem Display des Druckers herum, bis es die Datei anzeigte, die zuletzt gedruckt worden war. Dann runzelte sie die Stirn. Sie vergrößerte die Druckansicht. Ihr erster Eindruck hatte sie nicht getäuscht. Das Foto wurde in einem merkwürdigen Orange-Stich angezeigt, und zwar so, als sei es wie ein Puzzlestück zerschnitten und falsch wieder zusammengesetzt worden. Die Datei war kaputt? Wie ärgerlich! Sie beugte sich über die Anzeige. Wer auf dem Bild abgebildet war, war kaum noch zu erkennen. Teile fehlten auch. “Aber”, entfuhr es Marina, und sie beugte sich näher zum Display, immerhin eine Person auf dem Bild schien sie zu erkennen. “Das ist doch die Pfuhlmann …” Marina drückte auf den Drucken-Knopf. Dann noch einmal. Und ein letztes Mal. Der Drucker reagierte nicht. Sie rollte zurück zu ihrer Handtasche, zückte ihr Handy und machte damit ein Foto vom Druckerdisplay. Sicher war sicher. Sie wollte Marty nur ungern noch einmal ins Innere Sanktum schicken müssen.    

Als Marty mit dunklen Ringen unter den Augen in die Detektei kam, reichte er Marina die digitale Brille, noch bevor er sich einen Kaffee machte. “Das letzte Foto müsste das Relevante sein. Bitte löschen Sie alle übrigen”, sagte er mit seiner mürrischen Stimme.  

Schade, dachte Marina. Marty ist schlecht drauf. Das bedeutete, er würde wohl wenig gewillt sein, ihr vom gestrigen Abend zu erzählen.  

“Können Sie das Beweisfoto bitte ausdrucken, Frau Molch?”  

Marina stutzte. Noch einmal?“ Leider nicht”, sagte Marina. “Der Drucker ist über Nacht kaputt gegangen.” Vielleicht war der Drucker ja auch erst kaputtgegangen, bevor Marty das Foto drucken konnte? 

 
“Wie bitte?” Marty zwinkerte ungläubig. Als hätte er davon keine Ahnung. 

 
Marina lachte laut auf. “Keine Sorge, Marty”, sagte sie dann. “Ich denke, in der Abstellkammer müssten wir noch das Vorgängermodell haben. Ich werde es noch heute Vormittag anschließen und das Foto ausdrucken.“ 

 
Zurück am Schreibtisch fiel ihr auf, dass auch der Micro-USB-Anschluss im Bügel der Brille verkratzt war. Innerlich schüttelte sie ihren Kopf. Einmal versucht sich Marty selbst an der Technik und prompt sind alle Geräte zerkratzt oder völlig im Eimer. Wie hatte er den Drucker zerstört? Ach natürlich, mit ihrer Mondlampe. Offensichtlich hatte er damit herumgespielt, sonst wäre sie nicht schief gestanden. Vielleicht hatte er sie auf dem Drucker abgestellt und der Magnet hatte die Einstellungen durcheinandergebracht. Marina seufzte. Er war wie ein kleines Kind, was diese Dinge anging. Man durfte ihn nicht unbeaufsichtigt in ihr Büro lassen …  

Rund dreißig Fotos lud sie von seiner Brille. Zu sehen waren halbnackte Gestalten mit bunt dekorierten Masken, lebendige Aktstatuen, alles überraschend stilvoll. Marina war zu erfahren, um von dem, was sie sah, schockiert zu sein. Doch es gefiel ihr nicht. Sie hatte nichts gegen sexuelle Freizügigkeit, aber in diesen Ritualen schien das Individuum hinter dem Körper, hinter den sexuellen Begierden, komplett zu verschwinden. Es blieb nur noch die nackte Lust. Manch einer fand diese Enthumanisierung der Sexualität wohl erregend, vielleicht sogar befreiend, doch Marina wusste, dass eine solche Praxis zu nichts Gutem führte. Und Marty war mitten hinein marschiert.  

Marina hatte schon während des Gesprächs mit der Pfuhlmann kein gutes Gefühl gehabt, so beunruhigend war allein der Versuch gewesen, sich ihr Vertrauen zu erschleichen. Es war Marina zwar gelungen, das Passwort zu bekommen, doch sie hatte trotzdem versucht, Marty die ganze Sache auszureden – obwohl sie wusste, wie aussichtslos ein solcher Versuch war. Martys Prinzipien waren zu tief in ihm verankert. An erste Stelle stand für ihn die Maxime, einen Job, wenn er ihn erst angenommen hatte, auch zu Ende zu bringen. In diesem Aspekt bewunderte sie seine Professionalität. Sie selbst fand es schwierig, ihren moralischen Kompass abzuschalten. Und unmoralische Personen verurteilte sie. 

Marina ging in Marty’s Büro, wo er an seinem Schreibtisch saß. Er schrieb wie üblich mit einem Kugelschreiber auf Papier, und nur das leichte Zittern seiner Schreibhand verriet, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. 

„Frau Molch, wann ist das Treffen mit dem nächsten Klienten??“, fragte Marty, ohne von seinem Papier aufzublicken. 

„Zwölf Uhr, im Alter-Nativ.“ 

„Das ist doch gegenüber vom Tempel?“ 

„Genau.“ 

„Oje“, stöhnte Marty, „wenn ich den Laden im Leben nicht wiedersehen müsste, wäre ich dankbar.“ 

„Was ist dort denn gestern Nacht passiert?“, fragte Marina betont beiläufig. 

„Eine High-Society-Dekadenz, wie Sie sie sich nicht vorstellen können, Frau Molch.“ 

„Ich weiß nicht“, meinte Marina, „ich kann mir eine ganze Menge vorstellen.“ 

„Maskierte Menschen, Körper eng ineinander verschlungen, kultische Rituale“, zählte Marty auf. „Eine regelrechte Sekte sage ich Ihnen.“  

Marina entging dabei nicht, dass er konsequent direkten Augenkontakt mit ihr vermied. 

„Das überrascht mich nicht“, sagte Marina abschätzig. „Nach dem Gespräch mit der Pfuhlmann hatte ich das dringende Bedürfnis nach einer Dusche.“ 

„Dann können Sie sich ja denken, wie es mir nach einer ganzen Nacht mitten in diesem Sumpf ging. Die reiben sich dort gegenseitig mit so einem merkwürdigen Öl ein! Ich konnte es kaum erwarten, das wieder von mir abzuwaschen.“ 

„Das kann nicht einfach für Sie gewesen sein,“, sagte Marina, „ich weiß ja, wie ungern Sie so etwas an sich haben.“ 

„Verrückt, ich weiß“, sagte Marty, und die Nervosität in seiner Stimme begann durchzusickern. 

„War denn alles, was Sie dort gesehen haben, legal?“ 

„Bitte, was?“ Marty schreckte auf und blickte Marina an, nur um direkt wieder verschämt wegzuschauen. 

„Alle, die dort waren, waren doch freiwillig dort und bereits volljährig?“, fragte Marina weiter. „Wenn nicht, könnte man die Pfuhlmann damit drankriegen.“ 

„Mir ist nichts aufgefallen, was rechtlich angreifbar wäre. Und so oder so war ich nicht dort, um die Chefin zu fotografieren.“ Sein Gesicht wurde hart und verschlossen. 

„Und doch haben Sie sie zufällig erwischt.“ 

„Erwischt? Wie meinen Sie das? Wobei?” Marty begann allmählich zu stottern. 

„Na, mit der Brille, Marty.” Manchmal war Marty einfach zu süß. Immer wenn er vor Schüchternheit so unsicher wurde wie jetzt, hatte Marina das dringende Bedürfnis, ihn zu beschützen. 

 
“Da müssen Sie sich irren. Ich denke ich wüsste das.” Vor Aufregung ließ er den Stift fallen, den er in seinen Fingern gedreht hatte und stieß sich beim Aufheben den Kopf an der Schreibtischplatte. 

„Verzeihen Sie, Marty”, sagte Marina und widerstand dem Drang, ihrem Chef über den Kopf zu streicheln. Und doch konnte sie es nicht lassen, ihn ein wenig aufzuziehen. “Ich weiß auch nicht, wo mir der Kopf steht heute. Diese Bilder und diese Praktiken …“ Während sie sprach, spielte sie mit einer Haarlocke. 

„Schon in Ordnung, Frau Molch“, stammelte Marty, „entschuldigen Sie mich.“ Marty stand auf, suchte hastig seine Notizen zusammen und steckte sie in seine Umhängetasche. „Ich habe noch einen Fall, für den ich recherchieren muss, wir sehen uns dann um zwölf.“ Er warf sich die Tasche über die Schulter, schnappte seine Jacke und flüchtete mit einem „Bis nachher, Frau Molch!“ aus der Detektei.  

Marina schaute ihm nachdenklich hinterher. Zurück in ihrem Büro öffnete Marina noch einmal die Fotos, die sie, wie gewünscht, in den Papierkorb verschoben hatte. Es stimmte. Das Foto von der Pfuhlmann, das sie heute Morgen vom Druckerbildschirm abfotografiert hatte, war nicht dabei. Marina kratzte sich mit ihren langen, manikürten Fingernägeln an der Schläfe. Irgendwie wurde sie das ungute Gefühl nicht los, dass hier etwas faul war.   

Wie geht die Geschichte weiter?

Lies gleich das nächste Kapitel und finde es heraus: Kapitel 14 – Luxus und Leere

Was ist Auffällig Unauffällig?

Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.

Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?

Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede(r) Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Marina wurde von Annika Kemmeter verfasst.

Bild von Pixabay


Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..