Kapitel 21 – Versprechen im Dunkeln

9–14 Minuten
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Auffällig Unaufällig – ein Gemeinschaftsroman von Alexander WachterAnnika KemmeterArina MolchanIna MaschnerLydia WünschNina LischkeVerena Ullmann und Victoria Grader.

Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog

Die Hände hinter dem Rücken verschränkt schlenderte Ina über den Bauernmarkt. Weder Obst noch Gemüse zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich, ihr Interesse galt den regionalen Wurzeln und Kräutern. Einer der frühesten Besucher zu sein war ein Privileg, dass sie nur noch selten genoss, denn seitdem sie den Tempel verloren hatte, war sie zunehmend zur Nachteule und Langschläferin geworden. Bei allem Übel, das ihr in letzter Zeit widerfahren war, hatte sie nun zumindest den Vorteil mobil zu sein, was sie in solchen Gelegenheiten zweifellos ausschlachtete: Der rote, alte Zirkuswagen, in dem sie lebte, stand nur ein paar Meter weiter auf dem Händlerparkplatz, so war Ina schon nach dem Frühstück (zwei Rum-Pralinen) an Ort und Stelle gewesen.

Sie war konzentriert und hielt gerade nach schwarzem Rettich Ausschau, als sie über die Katze mit Hut stolperte. Schon eine Sekunde später war der spitze Schrei in ihren Kopf eingedrungen und prallte an den Wänden ihres Hirns hin und her. Dass Victoria Burana Opernsängerin war, hörte man sofort.  

„Fiorello, was machst du denn …!“ Buranas Katze quakte zurück und begann sofort um Inas Beine zu streichen. Natürlich. Victoria war meist schlaflos und stets früh unterwegs, um ihren Hut spazieren zu tragen. Heute hatte sie einen schlichten, schwarzen mit breiter Krempe ausgewählt. Wie immer hatte der Kater eine kleinere Version davon aufgeschnallt bekommen.  

„Victoria“, lachte Ina, als Victoria ihr schon dicke Schmatzer auf beide Wangen gedrückt hatte. Sie mochte keine stürmischen Begrüßungen und bekam von der Stimme Kopfschmerzen, aber freute sich trotzdem, dass sie Victoria traf. Irgendetwas mochte sie an dieser lauten Irren, die sich nur selber kritisieren durfte.  

„Der ganze Tag ist ein einziges Desaster“, legte Victoria los. „Die ganze Nacht habe ich kein Auge zugemacht, keine Minute Schlaf, mein Gott!“ Dann legte sie theatralisch die Hand an ihre Stirn und verdrehte die Augen. Plötzlich hob sie beide Hände, schüttelte sie wild in der Luft und rief, das Gesicht zur Grimasse des Entsetzen verzogen: „Aber Ina! Der Tempel! Warum zum Teufel hast du ihn verkauft?“  

Es war klar, dass diese Frage bei ihrer treusten Kundin aufkommen musste.  

„Nein“, sagte Ina und schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn nicht verkauft und … Er ist auch nicht für immer weg.“ Beim letzten Satz musste der Schmerz in ihren Augen gestanden haben, denn Victoria legte sofort die rotlackierte Kralle auf ihren Arm und begann ihn fest zu drücken. „Du hast ihn nicht verkauft? Hast du dein Schutzgeld nicht gezahlt?! Hat man ihn konfisziert?“ Das letzte Wort flüsterte sie Ina in verschwörerischem Ton ins Ohr. Ina hatte keine Ahnung wovon sie sprach, sie hatte weder von Schutzgeldern noch Beschlagnahmungen gehört und schüttelte nur den Kopf.  

Ein fragender Blick und Ina sah sich verstohlen um. Nun kam sie näher an Victorias Ohr heran. „Ich bin einen unheilbringenden Pakt eingegangen. Mit einer schrecklichen Person …“

– „Ja, die Pfuhlman! Ich weiß! Diese Person möchte im Tempel zu Jazzmusik tanzen! Und ich muss für sie singen. Jazz! Es ist grässlich, glaube mir. So grässlich wie die Pfuhlmann selbst.” 

Soso. Victoria sang Jazz im Tempel. Es war eine Zeit des Niedergangs. Ina spürte die Wut in sich hochkochen. Schon sprudelte es aus ihr heraus: „Es lief nicht fair! Sie hat mich verkohlt! Sie hat den Tempel zu Unrecht! Ich bin mir sicher, dass sie keinen einzigen Tropfen Absinth getrunken hat, sondern irgendetwas anderes …! Niemand trinkt mich unter den Tisch …“, sie presste ein Tränchen aus ihrem Augenwinkel. „Ahhh…“, machte Victoria und tätschelte ihre Wange. „Nein, nein, niemand, niemand … Nicht mal ich, meine Güte …“  

Ina schniefte und schluckte, dann schwang ihre Betrübtheit ruckartig in Überzeugung um.  

„Aber ich hole ihn mir wieder, da kannst du Gift drauf nehmen!“  

„Und ich werde dir helfen!“, stimmte Victoria ein. „Ich habe auch ein paar wichtige Infos für dich. Aber bis dahin … Also, du weißt schon.“ Ein fast flehender Ausdruck trat in ihre Augen. „Mir geht es zur Zeit überhaupt nicht gut und mir fehlt der Durchblick …“ 

„Schon gut. Du kannst zu mir in den Wohnwagen kommen. Abends. Und bring einen guten Tropfen mit. Damit der Blutfluss in Gang bleibt. Du weißt schon.“  

Noch am selben Abend klopfte es gegen das Fenster über Inas Küchenzeile. Der Wagen war mittlerweile wieder am Waldrand geparkt, weil am nächsten Tag eine Pilzsuche geplant war. Ohne eine Antwort abzuwarten, steckte Victoria ihren Kopf durch die offene Eingangstür. Sobald sie das Innere des Wagons erblickt hatte, verwandelte sich ihr Ausdruck in  sprachloses Staunen.  

„Hall – Oooh!“, sagte sie und starrte erstmal die Decke an. Ina lächelte zufrieden.  

Es war doch nichts anderes als Magie, die dafür sorgte, dass der Wohnwagen von innen erheblich größer wirkte als von außen. Sie hatte den Wagen bis nach oben mit ungarischem Veloursamt gekleidet, wobei im Dunkeln auf der Decke sogar einige Sterne auftauchten. Heute Nacht schien der ganze Raum zu funkeln.  

Victoria war mit offenem Mund weiter in die Mitte gekommen und drehte sich einmal im Kreis. Ihr Blick wanderte von den Sitzkissen zur Eckbank über den Bücherschrank, um dann die zahlreichen Regale an den Wänden zu begutachten. Sie waren bis obenhin vollgestopft mit Dingen, die früher im Tempel gestanden hatten. Ina räusperte sich.  

Erst jetzt schien Victoria sie überhaupt wahrzunehmen. Sie hauchte ein „Wow“, ließ sich auf eines der Sitzkissen sinken. Sofort wanderten ihre Augen nach oben zum Baldachin, welcher über der Sitzecke aus Inas Lieblingstüchern aufgespannt war.  

Wenn sie erstaunt ist, hält sie wenigstens den Mund, dachte Ina und schämte sich gleich für den gehässigen Gedanken. Dann nahm sie zwei Gläser aus dem Küchenschrank und stellte sie auf den halbhohen Kaffeetisch aus Zedernholz, bevor sie sich selbst auf ein Kissen setzte.  

„Das ist momentan mein Zuhause“, kommentierte sie in die Stille hinein.  

„Wow.“  

Ina wartete noch eine Minute, bis sie Victoria mit einem Nicken auf die leeren Gläser hinwies.  

„Ach so, ja“, stammelte sie und fischte aus der teuer aussehenden Handtasche eine nicht ganz so teure Flasche Vodka. Sobald das erste Glas gefüllt war, sprang Fiorello auf den Tisch. Natürlich war er auch dabei und hatte wie immer einen Hut aufgesetzt bekommen, der ihn unweigerlich lachhaft machte und das Gegenstück zu Victorias Hut darstellte: Ein rot-schwarzer Fascinator war seitlich an ihrer Hochsteckfrisur angebracht, von dem ein paar Federn wegstanden, während der Hut ihres Katers eine breitere Krempe hatte, aber ebenfalls mit Federn gespickt war. „Schöner Hut“, warf sie dem Kater zu, der zuerst die Flüssigkeit beschnuppert und sich dann wachsam auf den Tisch gesetzt hatte. Er begann zu schnurren.  

Victoria hatte sich mittlerweile wieder gefangen.  

„Ich bräuchte einen Rat … in Liebesdingen“, sagte sie charmant und füllte das zweite Glas auf. Ina nickte, aber ließ die Flasche nicht aus den Augen.  

„Es geht um Noah. Wir haben, naja, so eine Art Liaison. On-off, gerade mehr off.“ 

„Und du willst wissen ob er dich wirklich liebt?“  

Victoria lachte amüsiert. „Nein, mein Gott, er liebt mich wirklich, das weiß ich schon …“  

„Egészségedre“, prostete Ina ihr zu, die das Glas schon an die Lippen gesetzt hatte.  

„Cin Cin“, gab Victoria zurück und nahm auch einen Schluck. „Ich will wissen, ob er mich betrügt.“ Ein finsterer Ausdruck trat auf ihr Gesicht.  

Ina schüttelte den Kopf. Sie hatte die Schnauze voll von solchen Fragen. Liebe, Liebe, Liebe. Es war eine idiotische, menschliche Angewohnheit, bei Projektion und hormonellen Verirrungen von Liebe zu sprechen. Sie gab sich trotzdem Mühe, verständnisvoll zu klingen, als sie fragte: „Aber wird diese Frage nicht irrelevant, wenn du weißt, dass er dich wirklich liebt …“ 

„Nur weil er mich liebt, muss er doch nicht zwingend treu sein!“, plusterte sich Victoria auf. „Er ist ein junger, schöner Mann, reihenweise andere junge Dinger himmeln ihn an.“ Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen.  

Ina, die bereits das halbe Glas geleert hatte, legte ihr die Hand auf die Schulter. „Kaffeesatz, oder Tarot?“, kam sie nüchtern zur Sache.  

Victoria warf ihr einen leidenden Blick durch die gespreizten Finger zu und sagte „Tarot. Vom Kaffee werd’ ich nüchtern.“  

Nach je zwei Gläsern und vier gelegten Decks aus Crows Figurensätzen konnte Ina mit Sicherheit sagen, dass Noah treu war und auch immer treu bleiben würde, dass die Beziehung aber zerbrechen würde, weil Victoria sie mit Misstrauen vergiftete. Der Junge würde schon bald von ihr dahin geschickt werden, wo der Pfeffer wuchs und seine Karriere konnte er vergessen, nachdem sie mit ihm fertig war. Ersteres sprach sie aus, doch das bittere Ende musste Ina verschweigen. Sonst würde sie Victoria nie wiedersehen.  

Victoria war schon merklich betrunken. „Manchmal, frag ich mich …“, sie hickste, „warum sind die Guten eigentlich immer die, die nichts vom Leben geschenkt bekommen?“ Wegen des stärker werdenden Schluckaufs legte sie die Hand auf den Mund und griff mit der freien nach der Flasche.  

Ina, die in eben diesem Moment ebenfalls nach der Flasche gegriffen hatte und sie deshalb verfehlte, prustete los. „Was, und du bist eine von denen, den’ man nich’s schenkt?“, nuschelte sie.

„Jaaaa!“, sagte Victoria und funkelte sie aufgebracht an. Fiorello maunzte unterstützend. „Dass ich heute an dem Punkt bin, an dem ich mich hier und jetzt befinde … hicks. Das ist harte Arbeit gewesen, cazzo’, vaffanculo, hicks, scheiße.“  

Ina nickte und versuchte dabei ernst zu bleiben, was ihr aber zunehmend schwer fiel. Mit jedem Glas spürte sie eine Leichtigkeit in sich aufkommen, die sich in einem leisen Glucksen Ausdruck verschaffte. 

„Mein Papa hat mir immer schon gesagt, dass ich nichts tauge“, kicherte Victoria und Ina quittierte das, indem sie mit der flachen Hand auf den Tisch schlug.  

„Meiner auuuuuch!“, quietschte sie heiter. 

„Egészségére“, sagte sie und hob ihr Glas.  

„Cin Cin.“  

Später, als der Flaschenboden nicht mehr mit Flüssigkeit bedeckt war, entschieden sich die Beiden für einen Kaffee. Obwohl die Sitzung nicht gerade aufschlussreich gewesen war, hatte Ina ihrer treusten Kundin den Kummer genommen.  

„Sooo“, zwitscherte Victoria und griff sich Inas Tasse. „Jetzt wollen wir mal sehen, ob du den Tempel zurückbekommst …“ Nach einem fachmännischen Blick hob sie die Tasse. „Ja! Und ich weiß schon wie …“, kicherte sie dann. „Ich kann den Laden auskundschaften. Und die Verena-Krätzmann auch. Jeder hat Scheiße am Schuh …“ Dann rieb sie sich die Hände. „Und dann ist der Tempel wieder UNSER!“

Das letzte Wort schrie sie so laut heraus, dass Ina zusammenzuckte. „Oder dein“, fügte sie etwas leiser zu und räusperte sich.  

Doch auch Ina hatte sich auch schon so einige Gedanken gemacht. Deshalb war sie heute Morgen auf dem Markt gewesen. Ein paar Kräuter brauchte sie noch, natürlich auch wesentlich seltenere als die, die es auf dem Markt gab. Aber etwas schwarzen Rettich auf leeren Magen zu essen, konnte dem Ausführenden eines Vodoo-Zaubers wirkungsvollen Schutz verleihen. Plötzlich war Ina wieder in Gedanken verstrickt und das Herz wurde schwer. 


„Also! Che facciamo? Du hast doch einen Plan!”, riss die Sängerin Ina mit ihrem viel zu lauten Organ aus ihren Gedanken. 

„Hör zu”, begann Ina und bemerkte nicht einmal, dass sie unwillkürlich zu flüstern begonnen hatte. „Du sammelst so viele Informationen wie möglich. Wann ist sie wo mit wem? Was ist ihr wichtig? Wie kann ich sie packen?” 

 
Vicorias Augen funkelten. „Und du?” 

 
„Ich braue in der Zeit mein kleines Süppchen.“ 

 
Ein Grinsen huschte über Vicotrias Gesicht. „Ich habe da ein paar Informationen, die dich schon weiterbringen könnten.” Süffisant lächelte sie bei den Worten: „Sexpartys im Inneren Saktum …” 

Ein Stich fuhr mitten durch Inas Herz. DIE GÖTTIN! Aschera musste so schnell wie möglich von dieser Blasphemie befreit werden! Das Grinsen der Opernsängerin konnte sie nicht ertragen. Sie nahm den letzten Schluck Wodka aus der Flasche. 


Victoria atmete tief ein, stützte sich auf den Tisch und fragte: „Hast du hier ein Klo?“ 

Ina  deutete auf die Badtür. Dann stand sie auf, um die Gläser abzuspülen. Als Victoria durch die Tür gegangen war hörte sie den Ausruf bis in die Küche und musste doch ein bisschen schmunzeln.

„Woooow! Incrediibile!“

Wahrscheinlich konnte Victoria nicht fassen, dass sie einen Marmorboden, eine Badewanne mit Whirlpoolfunktion und eine kaiserliche Hochglanztoilette besaß. Diese Schafe waren einfach zu drollig, mit ihrer Vorstellung vom Möglichen.  

Es dauerte eine ganze Weile bis Ina die Toilettenspülung hörte. Victoria hatte wahrscheinlich eine Weile gebraucht, bis sie gefunden hatte. Man musste sie mit dem Fuß betätigen. Gefolgt von Fiorello torkelte sie bis zur Tür und winkte zum Abschied, machte einen Schritt in Richtung Stufen und krachte über der Treppe zusammen.  

Ina war sofort zur Stelle und sah Victoria im Dreck liegen, Robe und Stola höchstwahrscheinlich ruiniert. Fiorello hatte sich auf die erste Stufe gesetzt und zuckte verärgert mit dem Schwanz.  

„Möchtest du heute Nacht vielleicht bei mir schlafen?“, fragte Ina.  

Als Antwort bekam sie ein Kichern, das sich immer mehr in brüllendes Lachen transformierte. Gut, dass sie jetzt quasi im Wald wohnte.  

Wie geht die Geschichte weiter?

Lies gleich weiter und finde es heraus: Kapitel 22 – Alex Breaking Bad

Was ist Auffällig Unauffällig?

Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.

Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?

Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede(r) Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Ina wurde von Victoria Grader verfasst.

Bild von Pixabay.


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