Auffällig Unaufällig – ein Gemeinschaftsroman von Alexander Wachter, Annika Kemmeter, Arina Molchan, Ina Maschner, Lydia Wünsch, Nina Lischke, Verena Ullmann und Victoria Grader.
Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog
Aeneas
Das anhaltende Tosen des Monsuns beunruhigte Aeneas. Er wusste nicht, wie lange seine provisorischen Reparaturarbeiten dieser Naturgewalt noch standhalten würden. Die Schindeln wackelten bei jeder Böe und kratzten hörbar aneinander. Es drang noch kein Wasser durch die Zwischenräume in sein Haus. Aeneas vertraute darauf, dass es auch so bleiben würde.
Die getrockneten Kokosfasern in der Matratze knisterten, als er sich die Decke bis zu seinem Vollbart hochzog. Er erinnerte sich daran, wie der letzte Sturm eine Palme entwurzelt hatte, die daraufhin den nördlichen Teil seines Daches durchschlagen hatte. Viele seiner Bücher und gesammelten Muscheln waren dabei zerstört worden. Um zu verhindern, dass dies noch einmal geschah, hatte Aeneas vorgehabt, die restlichen umstehenden Palmen vorsorglich zu fällen. Er hatte es allerdings nicht übers Herz gebracht. Die Palmen versorgten ihn täglich mit Kokosnüssen. In ihrem Schatten hatte er etliche Bücher gelesen und meditiert. Er konnte doch nicht die Palmen fällen, die ihn dabei unterstützt hatten, Eknath Easwaran’s „Der Weg zur inneren Freiheit“ zum ersten Mal zu verstehen. Es wäre nicht fair gewesen. Nun wünschte sich Aeneas, dass die Natur seine Gutmütigkeit zu schätzen wusste und die Palmen leben ließ.
Ein Blitz erhellte den Raum für einen Moment.
Als Kind hatte sich Aeneas immer vor Unwettern gefürchtet. Jeder Blitz hatte sein Zimmer in einen Albtraum aus Licht und Schatten verwandelt, mit Monstern und Bösewichten, die nur darauf warteten, über ihn herzufallen. Diese Nächte hatte er meistens zwischen seinen Eltern unter der Bettdecke verbracht.
Dieser Raum jedoch, dachte Aeneas nun, hätte auch meinem jungen Ich keine Angst eingejagt, dachte Aeneas. Es gab keinerlei Möbelstücke, die einen gefährlich aussehenden Schatten werfen konnten. Lediglich seine Matratze, einen schmalen Schrank und einen Zuber. Wenn die unzähligen Bücher auf dem Boden und die Fotografien an den Wänden nicht gewesen wären, hätte der Raum leer ausgesehen. Aeneas mochte es so. Seine ganzen Besitztümer hatten ihn erstickt. Wozu benötigte er eine Uhr, wenn die Sonne ihm alles sagte, was er wissen musste? Wieso mehrere Paar Schuhe und zwei Badehosen, wenn er doch eh am liebsten barfuß lief und nackt badete? Warum teure Hautpflegeprodukte, wenn all die Nährstoffe der Natur direkt vor seiner Haustüre zum Einsammeln bereit lagen. Aeneas sammelte frische Algen aus dem seichten Gewässer und mischte sich einen Wickel daraus. Des Öfteren hatte er sich auch schon eine Kokos-Sand-Kur verabreicht. Wenn er während des Einwirkens der Kuren auch noch meditierte, konnte er spüren, wie sehr seine Haut aufatmete und seine Muskeln sich entspannten.
Mit der Morgensonne flaute auch der Monsunregen ab. Ein leichter Sprühnebel hing in der Luft, als Aeneas aus dem Haus trat und erkundete, welche Verwüstung der Sturm angerichtet hatte. Er war zufrieden zu sehen, dass alle seine Palmen noch an ihrem Platz standen. Die Kleinste von ihnen sah arg mitgenommen aus. Sie war halb aus dem Erdreich herausgerissen und an ihrem Wipfel hing nur noch ein Blatt. Aeneas würde sie wieder eingraben und ihr mit einigen Holzbrettern und Tauen eine Schiene basteln, damit sie mehr Stabilität bekam. Eine Möwe schrie aufgeregt über seinem Kopf und er entdeckte ein zu Boden gefallenes Möwennest. Zwei Eier hatten den Monsun überlebt. Er befreite das Nest von Erde und legte es auf Zehenspitzen in die Krone einer jungen, standhaften Palme. Am Strand erkannte er, dass seine Wäscheleinenkonstruktion abgerissen war. Es war sein letztes Stück Draht gewesen. Er würde Llopis bitten müssen, ihm bei der nächsten Lieferung eine neue Rolle mitzubringen.
Aeneas stellte mit Wehmut fest, dass auch seine Frischwasservorrichtung komplett zerstört worden war. Er hatte mehrere Plastiktonnen aufgestellt und sie mit großen Trichtern versehen, um möglichst viel Regen einzufangen. Allerdings hatte der Sturm sie allesamt umgeweht. Aeneas stellte die Tonnen wieder auf und freute sich darüber, dass zumindest noch ein wenig Wasser in den umgekippten Tonnen übriggeblieben war. Er lobte sich auch dafür, die Tonnen so früh kontrolliert zu haben. Noch waren keine Schnecken oder anderes Ungeziefer hineingekrabbelt. Aeneas mochte Tiere, aber die schleimigen Rabauken aus dem Trinkwasser zu fischen, nahm jedes Mal viel Zeit in Anspruch.
Es gibt nichts Besseres als die klare Luft nach einem Monsunregen, dachte er nun, während er seine Angelausrüstung zum Strand trug. Darüber hinaus war er sich nun sicher, dass der nächste Regen nicht unmittelbar bevorstand. Er konnte die Netze folglich ohne Sorge den ganzen Tag im Wasser lassen. Aeneas hatte schon früh eine Stelle gefunden, an der sich besonders viele Fische dicht unter der Oberfläche tummelten, und setzte deswegen immer dort mit Schwimmbojen seine Netze. Mit etwas Glück fing er rund ein Dutzend Fische am Tag. Bis auf drei Stück warf er allerdings alle wieder zurück ins Wasser. Nahm er mehr, würden sie verderben bevor er Gelegenheit hatte, sie zu essen. Eine Zeit lang hatte Aeneas auch mit der Konservierung der gefangenen Aale in Salz experimentiert, sich aber schlussendlich nicht mit dem Geschmack anfreunden können.
Ihm war früh klar geworden, dass er sich beschäftigt halten musste, wenn er keinen Inselkoller bekommen wollte. Deswegen gewöhnte er sich eine tägliche Routine an, die aus fischen, lesen, trainieren, schreiben, meditieren und reparieren bestand. Er hatte während seiner Zeit auf der Insel bereits mehr Bücher gelesen als in seinem gesamten bisherigen Leben. Von Lebensweisheiten des Dalai Lama über Klassiker der mediterranen Küche bis hin zu der ermächtigenden Kraft des Loslassens von Melody Beattie. Aeneas bemerkte jedoch schnell, dass er viel Gelesenes wieder vergaß. Es fühlte sich an, als wäre nicht genügend Platz in seinem Kopf für all seine Gedanken. Und dass er niemanden hatte, dem er davon erzählen konnte, machte das Ganze natürlich auch nicht besser. Daher entschied er sich, seine Gedanken aufzuschreiben. Er hatte bereits dreizehn Notizbücher vollgeschrieben. Sie halfen ihm auch beim Meditieren. Einmal aufgeschrieben, belasteten ihn seine Gedanken nicht mehr und er war frei, um sich auf seinen Körper und sein Bewusstsein zu konzentrieren.
Ein Funkeln stach Aeneas ins Auge, als er zurück zum Strand schwamm. Vermutlich eine Scherbe von einem Glas, das beim Sturm kaputt gegangen ist, dachte er. Doch beim Näherkommen erkannte Aeneas, um was es sich handelte: eine dünne Weinflasche ohne Etikett in der ein eingerolltes Papier lag. „Eine Flaschenpost!“, rief Aeneas aufgeregt. Es war ungewohnt für ihn, seine Stimme zu hören. Es vergingen oft ganze Tag, an denen er kein Wort sagte.
Glückselig nahm er die Flasche auf, ein dickes Grinsen auf den Wangen. Er wollte schon immer einmal eine Flaschenpost bekommen. Seit er auf der Insel war, hatte er mehrere Male versucht, eine Flaschenpost mit einem sehr emotionalen Brief als Inhalt ins Meer zu werfen, auf dass ihn ein fremder Mensch irgendwo finden würde und sich an seinem Inhalt erfreuen konnte. Leider waren sämtliche seiner Versuche gescheitert, die Flut brachte jede Flasche wieder zurück zu seiner Insel. Er hatte allerdings sofort erkannt, dass es sich dieses Mal um keine seiner Flaschen handelte. Dies war eine echte Flaschenpost. Er schrie laut auf vor Freude. Was für eine Nachricht würde sich darin befinden? Welches philosophische Gedankengut vertraute man ihm an? War es vielleicht sogar ein Hilferuf? Oder ein minimalistisches Gedicht?
Der Korken war mit Wachs verschlossen. Aeneas wollte schon zu seinem Haus rennen und seinen Werkzeugkoffer holen, als er sich umentschied. Das dauert doch viel zu lange, dachte er und zerschlug die Flasche an einem angrenzenden Stein. Aeneas zupfte das Papier vorsichtig aus den Bruchstücken hervor. Es fühlte sich rau und alt an. Wie lange die Flasche wohl schon im Meer trieb? Er hielt den Atem an. Er schluckte schwer, als er las, was auf dem Zettel stand: „Whoever is reading this, is dumb! #messageinabottleisdumb #sofunny.com
Aeneas drehte das Papier, um zu sehen, ob etwas auf der Rückseite stand. Nichts. Nur dieser eine Satz stand auf dem Papier. Kein Absender ersichtlich. Vermutlich die Betreiber der Website, dachte Aeneas. Tolle Marketingideen haben die. Er war sich nicht sicher, wie er sich fühlte? Enttäuscht? Wütend?
Er setzte sich mit dem Zettel an den Strand. Nachdem er den Satz noch einige Male durchgelesen hatte, entschied er zu meditieren. Er leerte seinen Kopf und bemühte sich im Hier und Jetzt zu sein. Dies war eine seiner leichtesten Übungen. Aeneas erinnerte sich, wie schwer es ihm am Anfang gefallen war, keine Gedanken zuzulassen, und nur zu fühlen. Er grinste, dann dachte er eine Zeit lang an nichts.
Er hörte erst auf zu meditieren, als sich eine einzelne Wolke zwischen ihn und die Sonne schob. Es kam Aeneas wie ein Zeichen vor, so als würde das Universum sagen wollen: „Genug, mein Junge.“ Aeneas war überzeugt, dass die Energien des Universums ständig Zeichen schickten. Man musste nur Ausschau halten und ihnen vertrauen.
Er stellte sich erneut die Frage nach seinem Befinden. War er enttäuscht? Traurig? Wütend? Nein, erkannte er. Er hatte sich zwar viel von dieser Flaschenpost erhofft und sie hatte seine Wünsche nicht erfüllt, dennoch fühlte er sich ausgeglichen und glücklich. Irgendeine Person hatte sich einen Scherz auf Kosten des Finders erlaubt. Aeneas sah den Humor darin und hegte keinerlei Groll.
Er nahm das Papier erneut in die Hand und achtete auf die Hashtags. Es hatte ihn augenblicklich an Lydia erinnert. An ihre Social-Media-Besessenheit. Er hatte schon seit langem nicht mehr an sie gedacht, sich selbst bewusst so kontrolliert, dass sie nicht mehr Herr seiner Gedanken war. Er hatte erwartet, dass ihn dieser wohlbekannte Stich im Herzen treffen würde und all dieser Schmerz von neuem aufflammte. Doch dies war nicht der Fall. War er wütend? Nein. War er traurig? Nein. Machte ihm diese Tatsache Angst? Ja, ein wenig.
Aeneas spürte, dass seine Gefühlswelt ins Wanken geraten war. Der Status Quo seiner Gefühle veränderte sich gerade. Er wusste nicht, wohin ihn diese Veränderung führen würde, aber er war bereit dafür. Nächste Woche würde Llopis mit der nächsten Lieferung kommen. Er wusste, dass er bis dahin eine Entscheidung zu treffen hatte.
Als einige Tage später das Wasserflugzeug am Steg anlegte, wartete Aeneas bereits.
„¡Hola, guapo! Warum Tasche?“, begrüßte ihn Llopis.
Aeneas warf seinen Leinenbeutel in das Cockpit und setzte sich hinein. „Kein Grund die Vorräte auszuladen, Llopis.“ Seine Stimme klang klar und sicher. Er lächelte den verdutzten Spanier an.
„Ich gehe wieder nach Hause.“
Wie geht die Geschichte weiter?
Lies gleich weiter und finde es heraus: Kapitel 24 – Ein Auftrag und zwei Hüte
Was ist Auffällig Unauffällig“?
Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.
Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?
Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede(r) Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Aeneas wurde von Alexander Wachter verfasst.
Bild von Trang Pham auf Pixabay.


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