Auffällig Unaufällig – ein Gemeinschaftsroman von Alexander Wachter, Annika Kemmeter, Arina Molchan, Ina Maschner, Lydia Wünsch, Nina Lischke, Verena Ullmann und Victoria Grader.
Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog
Ein Monat zuvor
Marty
Marty Trapington hielt eine Süddeutsche Zeitung weit aufgeschlagen vor sich. Was darin stand, sah er nicht. Er lehnte an einer Litfaßsäule, Autos schossen über die Kreuzung. Sein Blick war auf die Auslage eines Feinkostladens gerichtet: Original Mailänder Salami, Käse, Oliven. In der Fensterscheibe jedoch spiegelte sich der Hutladen von schräg gegenüber.
Und in diesem Hutladen war Aniko Senchi gerade dabei, eine neue Kollektion im Schaufenster anzuordnen. Marty Trapington war kein eitler Mensch. Weder legte er Wert auf seine Frisur noch auf seine Kleidung – so lange sie unauffällig waren. Ein Hut aber musste sein. Nicht irgendeiner. Es gab Hüte, die ließen einen lächerlich wirken wie einen wütenden Umweltaktivisten bei einem von Kohlekraftwerksinhabern ausgerichtetem Benefizball. Wie einen Clown bei der Vereidigung des Bundespräsidenten. Oder wie einen Arzt, der neben Sprechstunden auch Autogrammstunden anbietet. Das hatte er alles schon erlebt. Es gab aber auch Hüte, die verliehen Stil und Eleganz. Die passten sich in das Bild ein, das man darstellte. Dunkel und unauffällig mussten sie sein, breite Krempe, die das Antlitz in Schatten hüllte, und eine Form, die das Gesicht einfasste wie ein passender Rahmen.
Aniko Senchi konnte das. Solche Hüte entwerfen und für ihre jeweiligen Kunden den richtigen finden. Er hatte sie dabei schon öfter beobachtet, ohne dass sie es ahnte. Ihre Hüte waren geschmackvoll doch leider extravagant. Was er nun sah, ließ sein Herz höherschlagen. Die neue Kollektion war schwarz und auffällig unauffällig. Marty Trapington blätterte eine Seite der Zeitung um, ohne den Laden aus den Augen zu lassen. Schwarz war natürlich die einzige Farbe, die er tragen konnte. Und er brauchte dringend einen neuen Hut. Vor zwei Tagen hatte er im sicherheitszaungeschützten Vorgarten einer Villa postiert, die eine Erbschleicherin gerade in Besitz genommen hatten. Wachen standen vor ihrer Eingangstür. Er hatte zwischen zwei Büschen gehockt und seinen Hut mithilfe eines Stockes über den Rand das Busches hervorkriechen lassen. Ein alter Trick. Die Wachen hatten sofort reagiert. Schallgeschützte Geschosse durchlöcherten den Hut und schleuderten ihn in den Matsch. Marty hatte ihn dort liegen lassen und sich davongemacht. Es war sein Lieblingshut gewesen. In Mailand erstanden.
Jetzt trat Aniko Senchi vor ihren Laden. Marty blätterte eine weitere Seite um, ohne die Dame aus den Augen zu lassen. Sie lief die Straße entlang in Richtung der Kreuzung, an der sich seine Litfaßsäule befand. Kurz verschwand sie aus seinem Blickfeld, da an den zwei Häusern neben dem Feinkostladen keine spiegelnden Flächen an der Hauswand angebracht waren. Marty hob die Zeitung höher, und las zum ersten Mal den Titel eines Artikels. „Maria Muttergottes – Bayerns Frau für alle Fälle“. Marty Trapington linste über die Zeitung und sah Aniko Senchi genau auf sich zukommen. Sie hatte ein verschmitztes Lächeln auf dem Gesicht, als könnte sie es sich nicht verkneifen, obwohl sie eigentlich ernst sein wollte.
„Kommen Sie doch in meinen Laden“, sagte die Dame, mit der er noch nie zuvor gesprochen hatte. „Ich habe eine neue Kollektion, die Ihnen zusagen könnte. Sie heißt Black Burana.“
Marty ließ die Zeitung sinken. Er faltete sie sorgfältig zusammen. „Gerne“, sagte er.
Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. Er hoffte, dass sie sie häufig wusch, als er sie ergriff und sich mit „Marvin Trapfen“ vorstellte, was er immer tat, wenn er nicht mit seinem wirklichen Namen auftreten wollte. Es war eine Sicherheitsmaßnahme.
„Aniko Senchi.“
Als er ihren Laden betrat, nahm er sofort einen betörenden Duft wahr, wie er ihn nur aus Blumenläden kannte. Zahllose weiße Lilien wuchsen in schlanken, mattschwarzen Töpfen zwischen den schwarzen Hüten. Jedes Einzelstück beleuchtet wie ein Kunstobjekt. Obwohl er noch nie dort gewesen war, fühlte sich Marty Trapington an eine Pariser Boutique erinnert. „Woher wussten Sie …“, fragte er, mit dem rechten Zeigefinger über eine Hutkrempe fahrend. Weicheres Leder hatte er noch nie gefühlt.
„Sie kommen hier ja täglich vorbei“, antwortete Frau Senchi mit einem Schulternzucken. „Ich habe ehrlich gesagt auch ein wenig an Sie gedacht, als ich diese Serie entworfen habe. Meine bisherigen Hüte haben nicht zu ihrem dezenten Stil gepasst. Aber mit der neuen Kollektion … Da dürfte doch was dabei sein.“
Marty hatte sich während des Redeschwalls im ganzen Laden umgesehen. Es gab keine Preisschilder.
„Ihre Boutique erinnert mich an die Juwelier-Läden in der Maximiliansstraße“, sagte Marty.
Aniko lachte. „Die Miete dort ist viel zu teuer. Das kann ich mir nicht leisten.“
Marty wunderte sich immer wieder, was die Menschen irgendwelchen Fremden erzählten, nur um Konversation zu betreiben. Gedankenverloren blieb er vor einem Regal stehen, auf dem Hüte lagen, die es in jedem Karstadt geben könnte. Ein enttäuschender Anblick.
„Darf ich?“, fragte Frau Senchi und nahm einen der Hüte auf. Sie balancierte ihn auf ausgestreckten Fingerspitzen. „Ein ganz gewöhnliches Exemplar, würden Sie vielleicht denken. Und doch habe ich hier eine neue Technik ausprobiert. Sehen sie diese elegante Bordüre im Inneren des Huts?“
Marty sah sie. Ein grauer Streifen mit schwarzer Verzierung. Frau Senchis Logo war in Gold hineingestickt.
„Der Hut hat einen doppelten Boden. Die Bordüre hat einen fünfzigprozentigen Elastan-Anteil und stellt sicher, dass der Hut auch an windigen Tagen auf dem Kopf bleibt. Sie ist elastisch, aber durch den hohen Kaschmiranteil auch so zart, dass sie keine peinlichen Abdrücke hinterlässt. Wie eine Baseball-Kappe oder so. Verstehen Sie? Das eigentliche Geheimnis besteht aber nicht im Material, sondern darin, dass das Gewebe nur in diese Richtung elastisch ist“, sie zog die schmale Bordüre leicht in die Höhe, „nicht aber in Längs-Richtung.“
Mit einem zufriedenen Grinsen reichte sie Marty den Hut und er nahm die Bordüre zwischen die Finger. Vorsichtig zupfte er in beide Richtungen. Frau Senchi hatte Recht. „Unglaublich“, sagte er.
„Darf ich?“, fragte Frau Senchi erneut und setzte Marty den Hut auf. Sie führte ihn zum Spiegel.
„Sitzt wie angegossen“, murmelte Marty, dann sah er sein Spiegelbild. Der Hut ließ sein rundes Gesicht länglicher wirken, fast schneidig.
Frau Senchi hielt einen Friseurspiegel in der Hand und zeigte ihm die Hinterseite. „Das liegt an der hohen Form am Hinterkopf. Sehen Sie, dass der Hut, wenn man ihn ins Regal legen würde, oben eine Schräge hat, die nach hinten hin ansteigt. Diese Schräge verlängert Ihren Kopf optisch. Die gerade, ungebogene Krempe verleiht Ihnen Staatsmännigkeit. Als Modell stand mir der Anthony-Eden-Hut vor Augen, falls Ihnen das etwas sagt, ein Demi-Homburg.“
Marty schüttelte den Kopf. Der Hut rutschte keinen Millimeter.
„Na, egal. Hauptsache, er passt und sieht gut aus!“ Sie lachte fröhlich. „Ich habe bei Ihnen aber eigentlich an ein etwas anderes Modell gedacht.“ Sie wirbelte durch den Raum, holte einen anderen Hut, nahm Marty den Anthony-Eden-Artigen vom Kopf – keine Abdrücke, stellte Marty fest – und setzte ihm den anderen auf.
Marty setzte einen Atemzug aus. Es war schwer, den Hut zu beschreiben. Er saß schief, er hatte ein breites Hutband, auf dessen Schlaufe ein miniaturgroßer weißer, stilisierter Panther thronte. Das Band war auch irgendwie schräg, aber gegenläufig zu dem Hut und zu der, wie Marty jetzt bemerkte, asymmetrisch verlaufenden Krempe. Aber all die Kleinigkeiten konnten das Gesamtbild nicht beschreiben. Marty Trapington sah aus, als hätte er sich gefunden.
Frau Senchi strahlte.
„Erstaunlich“, flüsterte Marty sein Spiegelbild an.
„Das ist Ihr Hut!“, sagte Frau Senchi. „Genauso habe ich ihn mir vorgestellt.“
„Sie sind eine …“ Göttin, hätte Marty fast gesagt. Dann entschied er sich für „Künstlerin.“
Frau Senchi schnaubte. Marty horchte auf. Sie stand hinter ihm und zupfte ein unsichtbares Staubfädchen vom Hut, das Gesicht zynisch verzerrt. „Dann haben Sie wohl damals nicht den Artikel in der Süddeutschen gelesen? In der Welt ist er auch erschienen. Und in der FAZ: „Hüte sind keine Kunst“. Es ist schon ein Weilchen her. Ich hatte eine Tournee geplant mit meiner Hutausstellung. Angefangen im Haus der Kunst und im Brandhorst hier in München, sowie in einigen anderen Museen in Deutschland.“
Marty hörte ihr zu, doch er konnte seinen Blick nicht von seinem Spiegelbild abwenden. Er sah so anders aus. Bisher hatte er sich nie länger als unbedingt nötig im Spiegel betrachtet. Beim Rasieren, fasste er für sich zusammen, während Frau Senchi weiterplapperte.
„Mit diesem Repertoire sollte es in die Welt hinaus gehen: Ich war schon in Verhandlungen mit dem Tate, Centre Pompidou, MoMA… Dann kam der Artikel und plötzlich: eine Absage nach der nächsten. Ist alles ins Wasser gefallen. Dabei waren die Ausstellungen und möglichen Kunstpreise meine finanzielle Hoffnung. Was glauben Sie, wie viele Leute in München sich diese Hüte leisten können? Die Materialien, die Miete und Ausstattung für den Laden, meine Arbeitszeit und mein Lebensunterhalt. Wenn das geklappt hätte, wäre ich meine Sorgen ein für alle Mal losgewesen.“
Marty schluckte. Wieviel kosteten diese Hüte? Er fuhr vorsichtig über das Material an der Unterseite der Krempe und ein wohliger Schauer überkam ihn. Es war so sanft!
„Und warum? Wegen dieser gottverdammten arrgh…“
Marty Trapington war Frau Senchis plötzlicher und sehr persönlicher Gefühlsausbruch unangenehm. Er zwang sich nun doch, sich zu Frau Senchi umzudrehen, der vor Aufregung rote Flecken ins Gesicht traten.
„Können Sie sich das vorstellen? Was hätte es sie gejuckt, wenn ich meine Kunstausstellungen gehabt hätte. Aber nein. Was ist das? Neid? Oder reine Bosheit? Sie musste diesen Artikel schreiben – völlig ungefragt, ich habe mich umgehört, niemand hat sie um ihre Meinung gebeten. Nein. Sie wollte mich, gehässig wie sie ist, diffamieren. Was denn, bin ich eine Betrügerin, weil ich meine Hüte als Kunst betrachte? Sie haben es eben selbst gesagt, Herr Trapfen. Und auch Professor Doktor Fink, eine angesehene Kunstwissenschaftlerin der LMU hat mich kontaktiert, um mit mir in der Recherche zu ihrem Buch über Hutmode und Kunst zu reden. Vielleicht kennen Sie ihr Buch über die Mode?“
„Leider nicht.“ Marty wollte den Hut absetzen und ihn zurückgeben. Seine Hände griffen erneut an die Krempe. So ein angenehmes Material! Was war das? Er ließ die Hände sinken und den Hut auf seinem Kopf. Überall hier sah man sein Spiegelbild. Auch im Schaufenster spiegelte sich sein neues Ich. Oder sein altes? Sein eigentliches!
„Wenn ich irgendwas gegen sie in der Hand hätte …“, murmelte Frau Senchi.
„Gegen Frau Professor Doktor Fink?“
„Nein, gegen die Sturm-Vreni.“ „Wie gerne würde ich … ach!“
Marty sah sie ernst an. „Würden Sie was, Frau Senchi?“
„Nichts. Tut mir leid. Ich lade Sie ein, um meine Hüte anzuprobieren und dann belästige ich Sie mit meinen Sorgen. Nun. Was sagen Sie zu dem Hut?“
„Der Hut ist fantastisch! Ich hätte ihn niemals aus dem Regal genommen. Aber Sie, Frau Senchi, Sie haben ein außerordentliches Talent. Und, wenn ich das sagen darf, einen unfehlbaren Blick für Hutgesichter. Das kann doch niemand bezweifeln?“
„Ja, oder? Diese Zweifel entbehren jeglicher Grundlage! Die einzige Grundlage ist Missgunst und Gehässigkeit!“
„Und ihr Ruf als Künstlerin ist unwiederbringlich ruiniert? Da lässt sich gar nichts machen?“, fragte Marty Trapington. Er wollte diese Hüte. Alle beide.
Frau Senchi ließ sich niedergeschlagen auf einen weißen Hocker sinken. Mit den hängenden zarten Schultern hätte Marty vielleicht auch ohne Hintergedanken das Gefühl überkommen, ihr helfen zu wollen. Sie schüttelte betrübt den Kopf: „Selbst wenn Vreni ihre Meinung zurücknähme, das Unheil ist angerichtet. Oder … das einzige … wenn sie… wenn ich sie dazu bekäme, meine Hüte in ihren eigenen Räumen auszustellen. Das würde ihren Artikel quasi revidieren und meine Kunstform rehabilitieren. Nicht wahr?“
Marty Trapington nickte. Diese Vreni Sturm schien eine unangenehme Person zu sein. Gegen solche ermittelte Marty mit besonderem Eifer.
„Aber das müsste schnell geschehen, solange man sich noch an mich erinnert. Und am besten auch medienwirksam … Ist aber auch egal. Sie würde das niemals tun.“
„Es sei denn …“, begann Marty. Frau Senchi sah ihn mit großen Augen an, während er den Moment ihrer Erlösung noch ein wenig herauszögerte. „Es sei denn, Frau Senchi, Sie hätten es heute zufällig mit …“, er räusperte sich, „einem Privatdetektiv zu tun. Wenn der etwas über diese Sturm-Vreni herausfände, und es Ihnen zuspielte, könnten Sie diese Vreni vielleicht ganz leicht und in kurzer Zeit dazu bringen, zu tun, was Sie brauchen. Und die Gerechtigkeit wieder herstellen.“
Frau Senchi biss sich auf die Unterlippe. „Ich würde dann…“, sagte sie, „diesen Privatdetektiv beauftragen und alle Sorgen würden sich in Luft auflösen.“
„Sie hätten dann“, sponn Marty den Faden weiter, „sogar eine noch bessere Verhandlungsposition, wenn die Museen und Ausstellungen sie doch haben wollten.“
Frau Senchi sprang vom Hocker auf und fiel Marty überraschend um den Hals. „Tun Sie das! Tun Sie das! Finden Sie was! Wissen Sie was?“ Sie tätschelte begeistert Martys Schulter. „Behalten Sie den Hut! Behalten Sie beide Hüte! Als Vorauszahlung. Das müsste Ihre Kosten mehr als decken!“ Sie lachte vor lauter Erleichterung. „Ich kenne Vreni seit vielen Jahren, ich kann Ihnen alles Material zukommen lassen, was ich habe. Wohin soll ich es schicken?“
Marty reichte ihr seine Visitenkarte. „Ich höre von Ihnen und Sie hören von mir“, sagte er. Er ließ sich den ausgefallenen Hut in eine schwarze Hutschachtel einpacken und setzte den unauffälligen gleich auf den Kopf. Mal sehen, was Frau Molch dazu sagen würde. Beschwingt machte er sich auf den Weg zur Arbeit.
***
„Frau Molch, guten Morgen!“ Er wartete auf eine Reaktion auf seinen neuen Hut.
„Marty, Sie sind spät dran“, sagte sie und betätigte die Kaffeemaschine.
„Ich weiß. Verzeihung. Ich musste noch etwas besorgen.“
„Aber ich hätte es Ihnen doch besorgen können“, sagte Frau Molch und sah ihn mit diesem vielsagenden Lächeln an, das Marty nie zu deuten wusste.
„Heute Morgen wohl nicht“, sagte Marty verschmitzt. Normalerweise ahnte Frau Molch tatsächlich immer, was in ihm vorging. Doch sein heutiger Abstecher zu Fräulein Senchi war so spontan gewesen, nicht mal Marty hätte sich heute beim Aufstehen träumen lassen, dass er mit zwei Hüten von Aniko Senchi in der Detektei auftauchen würde. Er stellte die große Papiertüte mit der Hutschachtel neben dem Mantelständer ab. „Außerdem habe ich einen neuen Auftrag in der Tasche“, sagte er stolz. Er hängte den Mantel auf. Noch immer keine Reaktion auf seinen Hut. Er nahm ihn schließlich ab und setzte ihn auf den Hutständer. Sein Blick fiel auf den abgedunkelten Spiegel neben der Garderobe. Kein Abdruck. Es war faszinierend.
Frau Molch kam mit der Tasse duftendem Kaffee in der Hand um die Empfangstheke herum und reichte sie ihm. Dabei flüsterte sie: „Vorsicht! Heiß!“
„Danke“, sagte Marty.
Doch Frau Molchs Lippen blieben noch einen Moment länger in unmittelbarer Nähe seines rechten Ohrläppchens. „Die Pfuhlmann …“, hauchte sie und sah ihn vielsagend an. „Ich weiß Bescheid! Die Frau werden Sie offenbar einfach nicht los, Marty.“
Marty verschluckte sich an seinem Kaffee. Die heiße Flüssigkeit brannte in seiner Luftröhre. Er bekam keine Luft, konnte nichts tun. Es hustete ihn! Frau Molch nahm ihm den Kaffeebecher ab, bevor noch etwas auf den Boden schwappte und klopfte ihm besorgt auf den Rücken, bis Marty wieder Atem schöpfen konnte. Doch der Schock saß tief. Was wusste Frau Molch? Und woher? Seine Gedanken schossen zu seiner Mantelinnentasche. „Was meinen Sie?“, fragte Marty, während er von Frau Molch die Kaffeetasse zurückbekam. Seine Stimme blieb dabei beiläufig, sie hatte nicht den Hauch eines Zitterns. Seine Hand jedoch konnte die Tasse kaum halten. Er ging ein paar Schritte vor, um Frau Molch besser ins Gesicht sehen zu können. Was wusste sie? Wusste sie von dem Foto? Hatte sie es entdeckt? Aber er trug es immer in seiner Mantelinnentasche. Und Frau Molch würde niemals … oder doch?
„Eine Frau, die ihren Namen nicht nennen wollte, hat mir die Eckdaten der Pfuhlmann übers Telefon mitgeteilt. Sie wüssten schon Bescheid.“ Frau Molch trat schon wieder an ihn heran und legte ihre Hand auf seinen Oberarm. „Aber was ist denn mit ihnen, Marty? Sie sind ja ganz blass!“
Er ließ sich von ihr zu seinem Schreibtischstuhl führen. Frau Molch selbst setzte sich mit besorgter Miene auf die Kante des Tisches. „Unterzuckerung“, murmelte Marty. „Ich bin die Treppe ziemlich hurtig heraufgeeilt. Ich muss vielleicht etwas mehr Sport machen.“
Frau Molch pickte zwei Büroklammern von seinem Schreibtisch und steckte sie ineinander. „Beruhigen Sie sich und geben Sie mir den Kaffee.“ Sie steckte die Büroklammern zwischen ihre Zähne, nahm den Kaffee zum zweiten Mal in die Hand und murmelte: „Sie brauchen eine Milf.“
„Eine was?“
Frau Molch war in die Küche verschwunden. Er hörte, wie sie die Tasse absetzte und den Kühlschrank öffnete. Wie konnte sie so gelassen sein? Wie lange wusste sie schon über die Umtriebe ihres Sohnes mit dieser Pfuhlmann Bescheid? Und wer hatte die beiden verraten? Martys Gehirn ratterte.
„Eine Milch!“, rief Frau Molch aus der Küche. „Die hat Milchzucker und beruhigt. Sogar Frank höre ich manchmal noch nachts aufstehen und sich eine Milch einschenken. Eine Milch hilft immer.“
Frank! Die Pfuhlmann!
Frau Molch stellte die Milch auf seinen Schreibtisch. „Hier, das macht Sie wieder fit.“
Marty trank die Milch in einem Zug aus.
Frau Molch ließ sich wieder auf dem Schreibtisch nieder: „Dass Sie das Erlebnis im Inneren Sanktum immer noch so mitnimmt! Wie lange ist das jetzt her?“
„Es war in mehrfacher Hinsicht schockierend“, antwortete Marty nichtssagend. „Was hat die Frau am Telefon noch gesagt?“
Frau Molch lachte auf. Dabei verdrehte sie belustigt die Augen. „Sie hat wörtlich gesagt: Codewort Hutkunst.“ Sie stand auf. „Wer nennt ein Codewort am Telefon? Außerdem ist das „Codewort“ denkbar schlecht. Ich habe nach den Begriffen Kunst, Hut und Verena Pfuhlmann recherchiert und kann mir schon denken, wer da wohl eben angerufen hat. Aniko Senchi, stimmt‘s?“
Marty nickte. „Stimmt genau.“ Er setzte sich auf. Wie schön es war, wenn Luft plötzlich die Lungen ausfüllte und das Herz wieder im gewohnten Rhythmus schlug. Frau Pfuhlmann war also die Sturm-Vreni … „Aber machen Sie sich keine Sorge, Frau Molch”, sagte Marty, wieder ganz Herr über sich, „Frau Pfuhlmann ahnt nicht, dass sie schon wieder Teil meiner Spionagetätigkeit ist.“
„Sie Ärmster! Und Sie dachten, Sie müssten diese Frau und ihr spezielles Etablissement nie wieder sehen. Wenn Sie wollen, kümmere ich mich darum. Mich interessiert das sowieso, was da unten vor sich geht. Sie erzählen ja nichts!“ Frau Molch stand in der Tür und blickte über ihre Schulter. „Wie ist die Prioritätenverteilung? Die Erbschleicherin, Codewort Hutkunst, die Bot-Fabrik?“
„Die Erbschleicherin müssen wir vorerst ruhen lassen. Sie vermutet etwas. Sie kümmern sich um die Bot-Fabrik, ich übernehme die Pfuhlmann. Und sagen Sie, wann kommt Ihr Sohn uns denn mal wieder besuchen? Ich vermisse die Zeiten, als er im Nebenzimmer Hausaufgaben gemacht hat.“
„Sie wissen ja, wie Jugendliche sind: Sex, Drugs, Rock‚n’Roll … Für Hausaufgaben bleibt da keine Zeit.“
Er konnte ihre Ironie nicht teilen. Marty wollte das Foto so schnell wie möglich loswerden. Frank war minderjährig und Verena Pfuhlman konnte mit einem Gerichtsverfahren gedroht werden. Erst vor zwei Tagen hatte er die beiden nach Dienstschluss kurz beschattet. Frank hatte sich nicht an die Verabredung gehalten. Womöglich hatte der Alkohol sein Gedächtnis derart benebelt, dass er sich gar nicht daran erinnern konnte. Am liebsten hätte Marty das vermaledeite Bild sofort verbrannt. Doch er musste Frank noch einmal sprechen. Offensichtlich war Marty für Frank ohne Druckmittel nur ein alter Kauz, den er auslachte, statt sich über seinen Lebenswandel Gedanken zu machen. Wegen Franks Eskapaden musste Marty den Hut-Kunst-Fall abwickeln, ohne dass Frau Molch sich einmischte. Wenn Frau Molch nur nicht so gut wäre! Er brauchte einen Plan.
Er kratzte sich mit einem Bleistift an der Schläfe. „Frau Molch?”
„Ja, Marty?“, fragte Frau Molch von ihrem Schreibtisch aus.
„Warum nennt Fräulein Senchi Frau Pfuhlmann ‘die Sturm-Vreni‘?“
„Tut sie das? Moment … Da war doch etwas mit einem Hund. Genau hier. Sturm … Oh nein. Oh nein! Marty, das sollten Sie sich ansehen.”
Marty stand auf, lief zu Frau Molch und beugte sich über ihre Schulter. Frau Molch hatte eine Stelle in Aniko Senchis E-Mail gelb markiert. Marty kniff die Augen zusammen, um sie besser lesen zu können. „Um Gottes Willen”, entfuhr es ihm. Das konnte ja heiter werden.
Wie geht die Geschichte weiter?
Lies gleich weiter und finde es heraus: Kapitel 25 – Der unglaubliche Aeneas
Was ist Auffällig Unauffällig“?
Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.
Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?
Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede:r Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Marty wurde von Annika Kemmeter verfasst.
Bild von Nicolae_Balt auf Pixabay.


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