Ein Gemeinschaftsroman von Alexander Wachter, Annika Kemmeter, Arina Molchan, Ina Maschner, Lydia Wünsch, Nina Lischke, Verena Ullmann und Victoria Grader.
Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog
Eine Woche zuvor
Lydia
Lydia lag schluchzend im Bett, die Beine angezogen, ihr Kopfkissen umklammert und nass. Es war erst halb Vier am Nachmittag und draußen bereits stockfinster. Ihre Heizung hatte sie voll aufgedreht und trotzdem war ihr noch kalt. Die Wohnung sah aus, als hätte eine Bombe in ihren Kleiderschrank eingeschlagen. Ihr Smartphone zeigte elf ungelesene Nachrichten von Alex an und auf der Küchentheke, über die ihre Schminkutensilien verteilt waren, lagen zwei Briefe von Herrn Heinemann. Sie hatte keine Kraft, sie zu öffnen. Nicht nach dieser Woche. Alex hatte sie nur enttäuscht und checkte es noch nicht mal! Am Montag nach dem Training hatte sie nach Ewigkeiten mal wieder mit ihm in den Tempel gewollt. Er hatte ihren Wunsch komplett ignoriert und sie als „Überraschung“ in dieses vergammelte „AlterNativ“ geschleppt, wo die Kellnerinnen mit verlausten Dreadlocks herumgelaufen waren. Lydia hatte sich nicht nur vor dem Essen dort geekelt, sondern wurde bei jeder kleinen Regung eines Gastes von der Panik überfallen, dass man ihr die Handtasche klauen oder die Brillanten-Ohrringe herausreißen könnte. Wie konnte Alex nur denken, dass es ihr dort gefallen würde? Den ganzen Dienstag hatte sie sich über ihn geärgert und ihn das auch deutlich spüren lassen. Und gestern hatte Lydia dann beschlossen, ihm eine Chance zu geben, es wieder gut zu machen. Sie hatte ihn in den Tempel bestellt und dort das Thema Winterurlaub angesprochen. Immerhin war es schon Dezember. In ihre Decke gekuschelt, begann sie gleich wieder zu träumen: Von Wellnesshotels zwischen schneebedeckten Berggipfeln, von einem neuen Nerzmantel, Champagner auf der Hütte, wie vorletztes Jahr mit Tatjana, als diese noch mit Pierre zusammen war. Ja, Tatjana und Alexandros hätten ja mitkommen können! Hätten.
Denn Alex hätte im Tempel sagen sollen: Sankt Moritz, oder Ischgl, oder auch Kitzbühel ihretwegen. Stattdessen hatte er gesagt: „Oh ja, ich liebe Snowboarden! Und von München aus kommt man ja eh mit den Öffentlichen hin, dann muss man gar nicht dort übernachten. Fährst du Ski oder Snowboard?“
Bei dem Gedanken an seine Antwort brach sie wieder in Tränen aus. Nicht einmal einen ordentlichen Winterurlaub war sie ihm wert. Wie konnte er nur so mit ihr umgehen? Außerdem hatte sich diese Woche der Verdacht erhärtet, dass es neben ihr noch andere Frauen gab. Die verstohlen gelesenen Nachrichten, seine säuselnden Anrufe, die eindeutigen Blicke im Fitnessstudio, im Tempel, sogar mitten auf der Straße, die er nicht abwehrte, sondern sogar noch mit einem Lächeln erwiderte! Klar war Alex attraktiv. Aber das waren keine Flirts oder Schwärmereien mehr. Das war einfach nur schamlos und verletzend. Lydia machte allein der Gedanke, dass sie ihm nicht genug sein könnte, schon total fertig. Dass die Damen, die sich am offensivsten verhielten, aber auch noch alle mit Abstand hässlicher und älter waren als sie, verstörte sie noch mehr. Das machte einfach keinen Sinn! Sie schüttelte den Kopf. So eine wie Anastasia, okay. Dann würde sie ihn einfach abservieren wie Erik – obwohl ihr das bei Alex natürlich viel schwerer fallen würde, musste sie zugeben. Nein, die Vorstellung, dass er sie mit einer unansehnlichen Frau jenseits der Wechseljahre betrügen konnte wie die eine, die ihm letztens durch die Glastür des Dessous-Ladens zuzwinkerte und dabei einen furchtbar hässlichen, rosa BH an ihre Hängebrüste drückte, war völlig absurd. Bildete sie sich das alles vielleicht nur ein? Reagierte sie über? Sie war doch sonst nie eifersüchtig gewesen.
Ihr Smartphone vibrierte wieder. Die zwölfte Nachricht. Sie schaltete es aus. Wie leicht Alex es sich machte, ihr einfach Nachrichten zu schicken! Vor der Tür sollte er jetzt stehen, dachte sie. Nein, knien! Mit einem Strauß Rosen. Sie um Verzeihung bitten. Sie würde ihn dort zappeln lassen, bis er sich wirklich, wirklich Sorgen um sie machen würde, überlegte sie. Bis er die Tür vor Sehnsucht aufbrechen würde! Aber er traute sich ja noch nicht einmal, sie anzurufen! Die Wut, die in ihr aufstieg, ließ sie aufspringen und durch die vollgeschnäuzten Taschentücher stapfen, die sich wie Schneeklumpen vor ihrem Bett sammelten. Sie bahnte sich den Weg durch ihre Klamotten zur Küchenzeile und schubste dabei noch den Stuhl um, gegen den sie mit dem Arm stieß. Dann stürzte sie ein Glas Wasser runter, donnerte das Glas auf die Arbeitsplatte, griff sich die zwei Briefe und setzte sich – aus Trotz gegen den umgeworfenen Stuhl – auf den Boden. Aus den zerfetzten Umschlägen zog sie mehrere eng bedruckte Seiten. Waren das jetzt endlich die Scheidungspapiere? Inzwischen brauchte sie wirklich dringend Geld. Letzte Woche hatte sie schon ihre große Louis-Vuitton-Handtasche verkaufen müssen, bei einem Online-Second-Hand-Shop. Und dann wollten sie auch noch 20 Prozent Provision!
Sie fing an zu lesen, aber alles war verschwommen und anstrengend und am Ende sollte sie was unterschreiben, von dem sie gar nicht so genau wusste, was es war. Und wenn sie sich jetzt gar nicht mehr scheiden lassen wollte? Aeneas war jetzt wieder in München, das wusste sie von Tatjana. Sie bräuchte bloß in seiner alten Firma anrufen, sich verbinden lassen und er würde sie hier rausholen … oder? Musste Aeneas das auch unterschreiben? Hatte er es vielleicht sogar schon getan?! Sie stellte sich vor, wie er lächelnd einen Kugelschreiber zückte und brach wieder in Tränen aus.
Die gigantische Moët-Flasche drehte sich im Kreis. Der Flaschenhals, aus dem eine blitzende Pfeilspitze ragte, zeigte abwechselnd auf Alex und Aeneas, Alex, Aeneas, Alex, Aeneas … Alex war in ein rosarotes Negligé gezwängt, Aeneas hatte seinen fünf Meter langen Bart um sich gewickelt und trug den asymmetrischen Senchi-Hut von Victoria Buranas Katze. „Lydia!“ Beide riefen ihren Namen. „Lydia!“ „Lydia!“ Die Champagnerflasche drehte sich immer schneller. Lydia hielt sich die Ohren zu. Ihr wurde schwindelig. „STOPPP!“ schrie sie. Die Flasche blieb stehen. Der Pfeil schoss heraus, sie hörte einen Schrei und wachte auf. Ihr Herz raste, im Kopf blinkten weiterhin die beiden Namen auf. Aeneas. Alex. Aeneas. Alex. Aeneas. Alex. Aeneas. Alex. Fünfzehn ungelesene Nachrichten von Alex. Zwei verpasste Anrufe von Alex. Zwei von einer unbekannten Nummer. Aeneas? Aber woher sollte Aeneas ihre neue Nummer haben? Eine Nachricht von Céline: „Hey Süße! ❤ Bin aus dem Urlaub zurück. Was machst du am Wochenende? :* :* :*“ Céline! Sie musste Céline sehen und ihr alles erzählen. Ja, Céline kennt mich, dachte Lydia, Céline kann mir bestimmt helfen, mich zu entscheiden, bevor ich noch ganz verrückt werde! Dann fiel ihr wieder ein, dass Céline ja die ganze Zeit über gar nicht im Urlaub war, sondern in der Klinik und genug eigene Probleme hatte. Céline. Wie war das noch mal, im Souls? Lydias Gehirn drängte Alex und Aeneas zur Seite und wühlte sich zum letzten Treffen mit der Schmollmund-Freundin durch. Da war das Wodka-Schiff … eine aufgedrehte Tatjana … wegen Nikos und Alexandros … Célines Geheimtipp … die Wahrsagerin! Das ist es! Sie musste zu dieser Wahrsagerin! Lydia setzte sich auf und atmete durch. Ihr Herz beruhigte sich wieder. Sie würde einfach dorthin gehen, zwanzig Euro zahlen, sich die Karten legen lassen oder ein Pendel schwingen oder was auch immer, diese seltsame Frau würde ihr die Zukunft vorhersagen – das ist ja schließlich ihr Job – und sie wüsste dann ganz genau, wie sie sich zu entscheiden hatte! Alex oder Aeneas, das ist jetzt nicht mehr mein Problem, dachte Lydia. Mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen stieg sie unter die Dusche. Jetzt stellte sich für sie nur noch eine Frage: Was bitte zieht man zu einem Besuch bei einer Wahrsagerin an?
„Hey Süße! Ich bin’s nochmal! Bist du dir sicher, mit der Adresse? Ich irre hier seit zwei Stunden am Arsch von München rum! Alles ist voll Matsch und ich erfriere! … Ja? … Ja, da ist ein Bach oder sowas … ja der Wald ist da vorne. Ok … Bis Samstag, Süße! Ich freue mich! Ciao.“ Lydia stöhnte auf. Sie war bestimmt fünfhundert Meter in die falsche Richtung gelaufen und musste sich nun erneut durch das unwegsame Gelände kämpfen. Wie kann man nur freiwillig an so einem Ort wohnen? Etwas krallte sich an ihr Bein. „Nein! Verdammte Scheiße! Nicht die von Falke!“ Lydia versuchte ihr Feinstrumpfhose aus dem dornigen Gestrüpp zu befreien, aber ihre Absätze sanken dabei immer wieder in den halbgefrorenen Boden ein. Als sie sich endlich losreißen konnte, schickte das kleine Loch an der Wade eine Laufmasche bis zum Knöchel hinunter, während Tränen über ihre von der Kälte spannenden Wangen kullerten. Wenige Minuten später erblickte sie zwischen zwei schneebedeckten Fichten einen winzigen roten Wohnwagen. Lydia putzte sich ihre laufende Nase. Und wenn hier gar nicht Ina Naso-irgendwas wohnte, sondern ein Psychopath, der hilflose Frauen in den Wald lockte?
Wie geht die Geschichte weiter?
Lies gleich weiter und finde es heraus: Kapitel 29 – Fluch mit Aussicht
Was ist Auffällig Unauffällig?
Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.
Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?
Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede(r) Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Lydia wurde von Verena Ullmann verfasst.


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