Kapitel 29 – Fluch mit Aussicht

7–11 Minuten
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Ein Gemeinschaftsroman von Alexander WachterAnnika KemmeterArina MolchanIna MaschnerLydia WünschNina LischkeVerena Ullmann und Victoria Grader.

Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog

Ina

Sie hätte früh aufstehen müssen. Sie hätte den schwarzen Rettich zerstoßen, ihn mit heißem Wasser übergießen und trinken sollen. Dann das Ei zerschlagen, ihr Gesicht einreiben, die Voodoo-Puppe in Benzin tränken und in den Blumentopf werfen müssen. Verena Pfuhlmann wäre an diesem Morgen schon beim Aufwachen in Flammen aufgegangen. Aber Ina hatte zu lang geschlafen. Sobald die Pfuhlmann den Tempel betreten hatte, war das Risiko zu groß, sie in Brand zu stecken.   

Das waren Ina Násowasz erste Gedanken, nachdem sie zweimal in Richtung Fenster geblinzelt hatte und merkte, dass die Sonne bereits im Zenit stand.  

Sie bewegte die Hand über das Nachtkästchen, auf der Suche nach einem Schluck Wasser oder einem Minz-Bonbon. Bloß nicht mehr die Augen aufmachen. Ina ließ die pelzige Zunge über ihre Zähne wandern und schüttelte sich. Sie fühlte sich wie ein Waschlappen, der über Nacht in einer dreckigen Pfütze gelegen hatte.  

Als sie ein Glas ertastet hatte, öffnete sie ihr rechtes Auge einen Spalt und nahm einen tiefen Schluck, als ihr der scharfe Geschmack vom Wodka ins Zahnfleisch biss.  

‚Na, auch schon egal‘, dachte sie und begann zu gurgeln.  

Dann rappelte sie sich hoch und füllte ihre Wasserkaraffe, um die Blumen zu gießen.  

Nachdem sie den roten Sauerklee gewässert hatte, begann Ina ihre Fluchsammlung zu durchstöbern. Aus einem Samtbeutel kramte sie die laminierten Karteikarten und legte sie auf dem Kaffeetisch aus. Zwei Drittel der Flüche fielen erstmal weg, weil auf den heutigen Tag weder Vollmond, Blutmond, noch eine Rauhnacht fiel.  

Es gab eine recht effektive Sache, bei der das Opfer so verzaubert wurde, dass es der Meinung war, die Stimmen der Pflanzen zu hören. Wenn alles gut lief, war das Opfer in kurzer Zeit übergeschnappt und landete in der Klapse, in die es von wohlmeinenden Mitmenschen eingewiesen wurde. Ina zupfte an einer Strähne herum und malte sich aus, wie die kreischende Verena Pfuhlmann von vier Männern in weißen Uniformen aus dem Tempel geschleift wurde. Ihre Mundwinkel wanderten nach oben. Die Vision wurde immer stärker. Sie konnte spüren, dass dieser Fluch der richtige war. Plötzlich wurde sie von drei Fausthieben aus ihren Träumen gerissen, weil eine Hand direkt vor ihrer Nase gegen die Scheibe donnerte. Die manikürten Finger gehörten zu einer jungen, aufgehübschten  Frau, die einen verzweifelten Gesichtsausdruck machte. Wie lange sie so durch das Fenster gestarrt haben mochte? ‚Dumme Amsel‘, nölte Ina innerlich, während sie zur Tür schlurfte. Irgendeine Städterin, die sich höchstwahrscheinlich verfahren hatte und Ina für eine geisteskranke Einsiedlerin hielt.  

Sie würde sie schnell an der Tür abfertigen. Wenn sie Benzin oder Starthilfe brauchte, sollte sich die Pomeranze schön selbst zu Fuß auf den Weg zur nächsten Tankstelle machen. Als sie die Tür öffnete, schluchzte die junge Frau auf und kam die Treppe zum Eingang hochgestelzt. „Guten Tag, Frau Násowasz … ich bin Lydia von Wahle …“, lautes Schniefen.  

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte Ina mit gerunzelter Stirn und versuchte distanziert zu klingen, obwohl sie Probleme hatte, ihre Freude zu verbergen. Die Leute hatten sie nicht vergessen! Ihr Name war immer noch in aller Munde. Wenn sie den Tempel wieder zurück hatte, dann konnte alles wieder so werden wie früher.  

„Ich … ich habe lange nach Ihnen gesucht!“, wimmerte die junge Frau. „Es ist eine so wichtige Sache … und ich brauche Rat … und niemand kahahahannn…“, sie holte ein Taschentuch aus ihrer riesigen Designerhandtasche und schnäuzte sich geräuschvoll,  

„… nieeemand, nieemand kahahahann mir helfen.“ Sie untermalte ihre Worte mit einer ausladenden Geste und einer Art Quieken. Ina konnte mit dieser Theatralik überhaupt nichts anfangen. Abschätzig musterte sie die Person, die sich als Lydia von Wahle vorgestellt hatte. Sie betrachtete das bisschen Wiese, das von ihrem Absatz aufgespießt am Lederschuh hing, die zerrissene Feinstrumpfhose, ihre aufgerissenen Augen, die rote Nase. Dann seufzte sie  tief und gab die Tür frei. „Treten Sie ein.“  

Ina hätte schwören können, dass sich diese Kundin das Leben genommen hätte, wenn sie ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen hätte. Als Lydia von Wahle eintrat, entfuhr ihr ein „Wow“. „Also ich muss schon sagen, es ist geräumig, also mehr als ich dachte, aber irgendwie ist es auch eng – und ich stelle es mir total schwierig vor, immer hier zu wohnen.“ Nun wo sie im Inneren empfangen worden war, schien Lydias Temperament umzuschlagen. Während Ina ihr ein Glas Wasser eingoss, verfluchte sie sich bereits innerlich, die schnatternde Gans hereingelassen zu haben. Sie stellte ihr das Glas vor die Nase, etwas fester als nötig, doch Lydia schien das nicht zu bemerken.  

„Auf jeden Fall hab ich alle gefragt, wo Sie jetzt zu finden sind, weil es da so ein paar tolle Zeitungsartikel gibt und ich Sie einfach nicht auf dem Geschäftstelefon erreichen konnte und dann hat mir eine Freundin – die früher übrigens mal sehr einflussreich und irgendwie auch echt in war – den  Tipp mit dem Waldrand gegeben, ja und dann hab ich Sie seit ein paar Stunden gesucht …“, plapperte sie munter weiter. Wie konnte ein Mensch seine Stimmung in so kurzer Zeit nur so oft ändern? Ina bekam Druckkopfschmerzen.  

„So“, fuhr Ina ihr dazwischen und verschränkte die Arme vor der Brust.   

„Frau von Wahle. Ich habe heute leider wenig Zeit und muss Sie bitten, zum Punkt zu kommen.“  

Lydia nickte eifrig.  

Normalerweise würde Ina jetzt mit ihr ein Formular durchgehen, bei dem die Biografie und der spirituelle Kontext abgehandelt wurden, um herauszufinden, wie sie der Klientin wirklich helfen konnte – doch dafür hatte sie jetzt keine Nerven.  

„Was beschäftigt Sie?“  

Lydias Gesicht verdüsterte sich. Sie hob die Hand an die Stirn.   

„Das ist eine laaaange Geschichte…“, dann klackerte sie mit ihren rundgefeilten Fingernägeln auf dem Tisch herum und legte den Kopf schief, um Inas Reaktion abzuwarten.  

„Frau von Wahle, bitte formulieren Sie eine einzige Frage –  – diese  werde ich Ihnen beantworten und dann die Lösung dafür entwickeln. Es gibt eine wichtige Sache, der ich mich heute noch widmen muss …“  

Lydia schluckte schwer. Sie ließ den Kopf hängen, flüsterte „Na gut“ und setzte einen angestrengten Blick auf. „Aber ein bisschen Kontext ist wichtig!“  

Ina wollte schon protestieren, doch dann zog Lydia ihren Geldbeutel aus der Tasche und öffnete ihn mit spitzen Fingern. „Sagen Sie einfach, wie viel es kostet?“  

Nun war es an Ina angestrengt nachzudenken. Es gab ein paar Neuanschaffungen, die sie sich für die Wiedereröffnung des Tempels ausgemalt hatte. 

*** 

Nach zwei Stunden war Lydia endlich fertig. Ina hatte während der Geschichte mehrmals ein Gähnen unterdrücken müssen und sich nach einer halben Stunde heimlich Weißwein ins Wasserglas gefüllt. Natürlich ging es wieder mal um die Liebe. Und es war nicht sonderlich überraschend, dass dieses hormonvolle Menschenweibchen gleich zwei Männer hatte, zwischen denen sie sich entscheiden konnte. Der eine, superreich und fürchterlich verliebt, der andere, von dem wiederum Lydia besessen schien, wunderschön, aber arm und mit einem „lächerlich niederen Lebensstil“. Lydias Welt stand wegen solchem Unfug Kopf und Ina hasste sie aus vollem Herzen dafür. „Und nun möchten Sie, dass ich Ihnen helfe, eine Entscheidung zu treffen?“, nölte Ina gelangweilt.  

Lydia nickte und strahlte. „Ja bitte! Ich mache nachts keine Auge mehr zu … Ich weiß gar nicht mehr, wer ich bin …“  

‚Ja, das wusstest du wahrscheinlich noch nie‘, antwortete Ina im Stillen, fragte aber mechanisch: „Tarot oder Kristallkugel?“  

„Beides.“  

Ina legte das Kreuz, die Sonne und sogar kompliziertere Figuren, obwohl sie schon nach ein paar Sekunden gesehen hatte, dass die richtige Entscheidung ein asketisches Leben und der Fokus auf nicht-materielle Werte die Lösung für Lydias Leid gewesen wären.  

Aber erst, als sie in die Kristallkugel blickte, sah sie wie bitter Lydias Leben aussehen würde, wenn sie ihr Weltbild nicht grundlegend veränderte.  

„Ich sehe, dass der einzige Weg, die Loslösung vom Luxus ist“, stellte Ina nüchtern fest und sah Lydia in die Augen. „Sonst wird es schlimm enden.“ Und natürlich war es nicht überraschend, dass diese aufrichtige Feststellung nicht gerade offen aufgenommen wurde.  

„Was soll denn das bitte heißen?“, pampte Lydia Ina über den Tisch an. „Damit ist mein Problem jetzt aber überhaupt nicht gelöst.“  

Ina seufzte. Sie könnte Lydias Seele retten. Die Seele, die bald vor lauter Gier und Luxus verderben würde, wie ein Milchbrötchen im Fischsud.  

„Frau von Wahle, bleiben Sie allein, oder gehen Sie zu dem armen Mann zurück, den Sie aufrichtig lieben. Suchen Sie sich einen Job und bestreiten sie ihr Leben gemeinsam …“  

Herzzerreißendes Schluchzen von der anderen Tischseite.  

Oder sie könnte ihr erzählen, was sie hören wollte und Lydia würde verschwinden.  

„Sie sind doch noch mit Ihrem reichen Mann verheiratet? Der, der zwar nicht mehr so reich ist wie früher, aber immerhin noch eine Insel besitzt?“ Sie nickte. „Dann suchen Sie sich einen guten Anwalt und nehmen Sie die Hälfte seines Vermögens mit in die andere Beziehung.“  

Lydias Augen begannen zu leuchten. Und das ganze Gesicht zu strahlen.  

Ina konnte ihr immer noch einen Tee mischen, der die Selbsterkenntnis stärkte und der ihr helfen konnte, die Wahrheit zu erkennen. Sie musste sich selbst finden und zwar abgetrennt von Glamour, Geld und Prestige.  

Ina packte ihren Mörser und sammelte alle Zutaten aus Küche und Abstellkammer zusammen, um etwas zu kreieren, das Lydia vielleicht Erkenntnis brachte.  

Sie schnitt einen Tulsi-Zweig von dem Strauch aus dem Blumenkasten, der ihre Anrichte zum Hingucker machte. Dann vermischte sie alles. Lydia saß mit großen Augen daneben und beobachtete jeden Handgriff, sichtlich beeindruckt.  

„Bitte gönnen Sie sich viel Ruhe. Mindestens drei Tage lang. Sehen Sie es als Detox-Kur: Fasten Sie und trinken Sie nur diesen Tee, wann immer Sie Hunger verspüren.“  

Lydia nickte eifrig. Auf einmal hatte sie es sehr eilig wegzukommen. Sie legte die Scheine auf den Tisch und verabschiedete sich. Ina seufzte nochmal, als sie ihr hinterher blickte.  

Lydia konnte wirklich niemand helfen.  

Wie geht die Geschichte weiter?

Lies gleich weiter und finde es heraus: Kapitel 30 – Mütterliche Intuition

Was ist Auffällig Unauffällig?

Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.

Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?

Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede(r) Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Ina wurde von Victoria Grader verfasst.

Bild von Pixabay.


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