Auffällig Unaufällig – ein Gemeinschaftsroman von Alexander Wachter, Annika Kemmeter, Arina Molchan, Ina Maschner, Lydia Wünsch, Nina Lischke, Verena Ullmann und Victoria Grader.
Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog
Marty
Der Aktenberg war riesig, aber Marty hatte sein System und ging methodisch vor. Vor ihm lagen die Akten des Europäischen Patentamts – zu denen eigentlich keiner Zugang hatte, der nicht dort arbeitete, denn der Vorgang der Patentierung war noch nicht abgeschlossen – und daneben die Akten des Intellectual Property Offices aus England. Außerdem hatte Frau Molch ihm Seiten aus dem Internet ausgedruckt, auf denen der Bienenstockinhalator Erwähnung fand. Am oberen Ende des Schreibtischs hatte Marty eine Zeitleiste aufgeklebt und markierte dort die relevanten Punkte. Er hielt kurz inne. Als Kind hatte Marty gerne geturnt. Er hatte in der Schule den Aufschwung am Reck und auch Handstand-Abrollen beherrscht. Heute überkam ihn manchmal Lust, zu probieren, ob er es noch konnte. Aber dazu kam es nie, wie auch? Mit genauso viel Freude und Fleiß hatte der kleine Marty im Kunstunterricht Weihnachtsdekorationen und Laternen gebastelt. Diese alte, kindliche Freude erfüllte Marty in diesem Augenblick. Er schnitt einen Pfeil aus rotem Tonpapier aus, vermerkte darauf die Quelle und legte ihn an den Zeitstrahl. Einfach mal ein bisschen basteln! Wie schön war das? Marty summte vor sich hin, als er den Klebepunkt auf den Pfeil setzte und nahm außer seiner Freude nichts anderes wahr, bis ein Name seinen Weg in Martys Bewusstsein fand: Frau Senchi. Draußen sprach Frau Molch mit Frau Senchi. Was machte Letztere hier? Er sprang auf und eilte in den Empfangsbereich.
Frau Molch sagte gerade: „Nein, Frau Senchi, Herr Trapington hat keine offenen Sprechstunden. Wenn Sie mit ihm reden wollen, müssen Sie vorher einen Termin vereinbaren.“
Und Frau Senchi fiel ihr mit bitterem Ton ins Wort: „Ach, machen Sie sich doch nicht lächerlich. Ich weiß genau, dass Sie es waren, mit der ich in den letzten Tagen ständig telefoniert habe. Sie haben mir doch keinen Termin gegeben!“
„Frau Senchi!“, rief Marty. Die beiden Damen sahen sich wütend nach ihm um. Frau Molch mit einem Blick, als würde sie die nächste Woche nicht mehr mit ihm reden, wenn er jetzt ihre Autorität untergrub, indem er Frau Senchi ein Gespräch anbot. Frau Senchi mit einem Blick, als würde sie ihm gleich an die Gurgel springen, wenn er sie jetzt fortschickte. Marty musste alles tun, um Frau Senchi außerhalb von Frau Molchs Hörweite zu bringen, bevor seine Sekretärin in die Sache hineingezogen wurde. „Gut, dass Sie zu mir gefunden haben, Frau Senchi. Ich wollte ohnehin so bald wie möglich mit Ihnen reden und Sie über den Fortschritt informieren.“ Er legte eine Hand auf ihren Rücken, um sie in Richtung Ausgang zu führen. „In mein Büro können wir leider im Augenblick nicht gehen. Wenn Sie mir bitte nach draußen folgen würden?“ Marty schlug seinen Mantel über seinen Arm, setzte seinen Hut auf und führte Frau Senchi durch die Tür. Er wagte es nicht, einen Blick zurückzuwerfen, zu Frau Molch, die ihn mit hundertprozentiger Sicherheit gerade mit wütenden Blicken zu töten versuchte.
In der Nähe des Gebäudes, in dem sich das Büro befand, gab es einen kleinen Park. Unter einem Baum, der vom Büro aus nicht einsehbar war, setzte sich Marty auf eine Bank.
„Na dann mal raus mit den Fortschritten“, forderte Frau Senchi, sobald sie neben ihm Platz genommen hatte. „Unsere Recherche hat einen sehr breiten Rahmen angenommen. Sie kennen Frau Pfuhlmann. Sie ist glatt wie ein Aal. Wir haben alle Unterlagen geprüft, die Sie uns zukommen lassen haben, Frau Senchi, sowie das polizeiliche Führungszeugnis und die Steuerangaben. Wir haben ihre Bekannten und Verwandten unter die Lupe genommen. Ich persönlich habe sie über Tage hinweg beschattet und in ihrer Bar observiert. Sie sehen, wir haben alles Machbare getan.“
Frau Senchi blieb unbeeindruckt. „Ich habe nicht gefragt, wie es zu den Fortschritten gekommen ist, von denen Sie eben gesprochen haben. Ich habe Sie nach den konkreten Fortschritten gefragt. Was sind diese Fortschritte?“
„Sehen Sie, Detektivarbeit ähnelt der Arbeit eines Arztes. Der Arzt muss in manchen seltenen Fällen alle Organe, Reaktionen, Reflexe untersuchen. Er nimmt Urin-, Stuhl-, Schweiß- und Speichelproben. Und oft kommt nur im Zusammenhang mit den verschiedenen Untersuchungen, mit den Röntgen- und Ultraschallbildern, mit den MRTs und anderen Ergebnissen ein stimmiges Bild heraus. Ebenso verhält es sich in Ihrem Fall: Verena Pfuhlmann ist …“
Marty erschrak, als Frau Senchi plötzlich aufsprang und ihre Tasche auf die Bank schleuderte. „Sprechen Sie nicht mit mir wie mit einem kleinen Mädchen! Ich bin nicht blöd!“
„Natürlich nicht.“
Frau Senchi sah ihn durch geschlitzte Augenöffnungen an. „Haben Sie was in der Hand? Oder nicht?“
Marty sah auf seine Schuhe.
„Sie tragen“, zischte Frau Senchi, „auf Ihrem Kopf einen meiner Hüte. Womit gedenken Sie, den zu bezahlen?“
„Ich bin doch an Ihrem Fall dran!“, ärgerte sich Marty.
„Sie kennen meine missliche finanzielle Lage. Und dass Ihre Sekretärin mich am Telefon abwimmelt, war bestimmt nicht die Idee Ihrer Sekretärin.“
„Meine Sekretärin ist in den Fall nicht eingeweiht. Ich selbst arbeite fieberhaft daran, Frau Pfuhlmann in die Pfanne zu hauen.“
„Sie sind aber zu langsam. Ich habe Ihnen die Hüte nicht aus Großzügigkeit geschenkt. Wir haben einen Deal.“
„Ich sage Ihnen doch, ich arbeite daran. Und wenn ich Ihnen nicht schnell genug bin, dann hier, nehmen Sie Ihren Hut!“ Er hielt ihr seinen Hut hin und hoffte, sie würde es nicht tun.
„Ich nehme keine getragenen Hüte zurück“, antwortete Aniko Senchi jetzt etwas ruhiger.
„Dann, wenn Sie mit meiner Arbeit nicht zufrieden sind, bezahle ich die Hüte.“
„Das macht 30.000 Euro.“
Marty wusste nicht, ob sie pokerte oder ob das der wahre Preis war. Dreißigtausend. Das zahlte er an Jahresmiete für seine Wohnung und sein Büro zusammen. So kämen sie jedenfalls nicht weiter.
„Setzen Sie sich doch bitte wieder“, sagte er.
Frau Senchi blieb stehen. „Sie wollen die Hüte behalten, ich will Frau Pfuhlmann erpressen. Das war die Ausgangslage. Hat sich daran etwas geändert?“, fragte sie kühl.
Marty überlegte fieberhaft. Das Innere Sanktum konnte Marty nicht angreifen. Er würde damit seine Karriere aufs Spiel setzen. Frau Pfuhlmann hatte all diese Menschen, die zu ihren Orgien kamen, in der Hand. Und er brauchte eben diese Leute als Partner. Aber verdammt, er musste auch etwas wegen Frank unternehmen.
„Es gibt da etwas.“
„Was?“
„Wir könnten ihr eine Straftat anlasten, die sie tatsächlich begangen hat.“
„Haben Sie Beweise?“
„Ja.“ Marty schwieg.
„Und warum sagen Sie das nicht gleich?“
„Auf dem Foto, das Frau Pfuhlmanns Straftat beweist, sind andere Personen abgebildet, die ich schützen muss.“
„Die kann man bestimmt schwärzen.“
„Leider nicht, dann verliert das Foto seine Wirkung.“
„Ihre zu schützenden Personen haben sich also an dieser Straftat beteiligt?“
„Ich kann Ihnen dazu nicht mehr sagen!“
Aniko Senchi beugte sich zu Marty hinab und sah ihm in die Augen. „Sie sagen mir jetzt alles dazu und das Foto möchte ich auch haben. Sie selbst sind ja offenbar unfähig, Vreni persönlich zu konfrontieren. Sie sind eben feige, na gut, Ihr Problem! Solange Sie deswegen Ihre Klienten nicht in den finanziellen Abgrund stoßen. Ich habe keine Angst vor Vreni. Da Sie es nicht können: Her mit dem Foto.“
„Das kommt nicht in Frage.“
„Sie geben mir jetzt das Foto und sagen mir, was genau ich Vreni damit androhen kann. Wenn es die Sprengkraft hat, die Sie vermuten, wird Vreni mir eine Hut-Ausstellung im Tempel anbieten. Wenn nicht, dann nicht. In jedem Fall haben Sie das Foto noch heute Abend wieder zurück.“
Marty stützte seine Ellbogen auf seine Knie, legte sein Gesicht in seine Hände. Er rieb seine Stirn und seine Augen. Eine Position, die ihm beim Nachdenken half. Ja, es war in Hinblick auf Frau Molch tatsächlich sicherer, wenn Aniko Senchi die Pfuhlmann persönlich mit dem Foto konfrontierte, da so die Verbindung zu Frau Molch um einen Eckpunkt erweitert wurde. Aniko Senchi wusste nicht, wer Frank war. Für sie war er einfach nur ein Minderjähriger. Er hatte Frau Senchi ohnehin schon zu viel gesagt. Wenn sie das Foto nicht bekäme, würde sie womöglich Frau Molch mit Fragen löchern, die nicht gestellt werden durften. Er hatte auch keinen Anlass, Frau Senchi zu misstrauen. Außer dem generellen Misstrauen, das man jedem gegenüber an den Tag legen sollte. Er richtete sich gerade auf und klopfte auf die Bank. Frau Senchi setzte sich.
„Sie wissen, dass ich Ihr kleines Geheimnis kennen werde. Wenn Ihre Hutausstellung bei der Pfuhlmann fruchtet und weitere Ausstellungen an Land zieht, bin ich derjenige, der weiß, dass Sie die Pfuhlmann erpresst haben. Das wäre eine kleine Sensation im Feuilleton. Erpressung ist auch eine Straftat.“ Aniko Senchi hielt seinem ernsten Blick stand. „Das ist mir vollkommen klar“, antwortete sie.
„Wann haben Sie vor, die Pfuhlmann aufzusuchen?“
„Sofort nach unserem Gespräch.“
„Wenn ich in Erfahrung bringe, dass Sie das Foto vervielfältigt, verloren, jemand anderem als der Pfuhlmann gezeigt oder sonst etwas anderes damit gemacht haben, als es gut aufzubewahren – kurz: der Pfuhlmann unter die Nase zu reiben und dann sicher wieder zu mir zu bringen – sind Sie ruiniert.“
„Ich habe nicht vor, gegen diese Abmachung zu verstoßen.“
Marty atmete tief ein. Dann griff er in seine Mantelinnentasche und zog das Foto hervor.
„Was Sie hier sehen, Frau Senchi, sind Frau Pfuhlmann mit einem minderjährigen Jungen. Beide befinden sich inmitten einer Orgie. Hochprozentiger Alkohol, abstruse Sexpraktiken, all dieses widerliche Zeug. Sie sehen ja, wie sie gekleidet sind …“ Marty musste seinen Blick von dem Bild abwenden. Der Geruch von Babyöl war plötzlich wieder in seiner Nase. Er sah Frau Senchi an, die das Bild bestürzt und erstaunt betrachtete. „Oh, Vreni …“, murmelte sie. Die ganze Härte, die sie an den Tag gelegt hatte, war aus ihrem Gesicht verschwunden. Sie wird es nicht können, dachte Marty. Aber es war zu spät. Sie griff nach dem Foto.
„Das Stichwort ist also: Verführung Minderjähriger“, fuhr er fort. „Sie können behaupten, dass es Videoaufzeichnungen gibt, falls das Bild allein nicht zieht. Diese Frau versucht, Ihr Leben zu ruinieren, Frau Senchi. Sie hegt einen Groll gegen Sie und sie hat unbeschreiblich viel Macht. Wenn Sie ihr nicht sofort Einhalt gebieten, wird es Frau Pfuhlmann gelingen, all Ihre Erfolge zu vernichten – mit einem Fingerschnippen. Solange Sie die Pfuhlmann nicht in ihre Schranken weisen, werden Sie jeden Tag in der Ungewissheit aufwachen, ob Frau Pfuhlmann vielleicht heute zugeschlagen hat. Dafür braucht die Pfuhlmann keine Gründe, das wissen Sie.“
Aniko Senchis Gesicht verhärtete sich. „Das weiß ich nur allzu gut, Herr Trapington. Sie ahnen nicht, wie lange ich auf diesen Tag gewartet habe.“
„Und vergessen Sie nicht: Das Foto existiert nur für die wenigen Sekunden, in denen Sie es Frau Pfuhlmann zeigen. Danach bringen Sie es sofort an mich persönlich zurück. Sie geben es keinem Nachbarn, keinem Postboten, nicht mal meiner Sekretärin. Es ist hochsensibles Material.“
„Sie holen es heute auf Ihrem Heimweg im Hutladen ab. Ich werde auf Sie warten.“
„Auch gut. Viel Erfolg, Frau Senchi.“ Sie standen auf und reichten einander die Hände.
„Wissen Sie“, sagte Marty, „wenn die Hüte wirklich so teuer sein sollten, dann haben Sie mich maßlos überbezahlt.“
„Das sehe ich anders“, sagte Frau Senchi, lächelte und ging in Richtung U-Bahn.
Wie geht die Geschichte weiter?
Lies gleich weiter und finde es heraus: Kapitel 32 – Sanftes Gemetzel
Was ist Auffällig Unauffällig“?
Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.
Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?
Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede(r) Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Marty wurde von Annika Kemmeter verfasst.


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