Auffällig Unaufällig – ein Gemeinschaftsroman von Alexander Wachter, Annika Kemmeter, Arina Molchan, Ina Maschner, Lydia Wünsch, Nina Lischke, Verena Ullmann und Victoria Grader.
Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog
Aniko
Aniko knüllte einen kleinen Papierfetzen in der Faust zusammen. Darauf war eine Adresse gekritzelt, kaum lesbar, da die Mine des Kugelschreibens den Geist aufgegeben hatte. In der anderen Hand hielt sie den Umschlag mit dem Foto. Sie lief die Straße entlang und zählte die Hausnummern. Es war schwer gewesen, an die Adresse zu kommen. Es war fast so, als gäbe es Verena gar nicht. Niemand wusste, wo sie wohnte. Selbst ihre Eltern konnten nichts Genaueres sagen als „in München“. Im Tempel wies man Aniko ab: Die Chefin sei nicht da, es gäbe keine Termine und nein, man wisse nicht, wann sie wieder kommen werde. Nur eine Freundin von Anikos Schwester kannte jemanden, der mit Verena noch in Kontakt stand.
Aniko blieb bei Hausnummer 18 stehen und las die Namen auf dem Klingelschild.
Sie atmete ein und klingelte bei Verenas Nachbarn.
Nach einer Weile knisterte ein genervtes „Ja?“ aus den Rillen oberhalb der Namensschilder.
„Zeitungen“, sagte Aniko und hoffte, dass es ausreichen würde.
„Zeitungen?“
„Ja.“ Es knarzte aus dem Lautsprecher, danach Stille. Aniko hatte den Finger schon auf dem nächsten Klingelschild, als die Tür summte.
In dem Treppenhaus lag ein Teppich. Eine rot und blau gemusterte Persernachbildung. Vielleicht war der Teppich auch echt, sicher war sich Aniko nicht. Im ersten Stock standen drei große Palmen neben dem Fenster, im zweiten hingen Kunstdrucke an den Wänden, im dritten eine Sammlung afrikanischer Masken, ein paar geschnitzter Holzspeere, im vierten Stock schließlich erwartete sie eine dunkle Tür mit einem löwenköpfigen Messinggriff, rechts und links von der Fußmatte zwei hüfthohe Statuen in der Form spielender Windhunde. Kein Namensschild. Keine Klingel.
Während Aniko noch da stand, die Finger am Türholz, schlug auf der anderen Seite ein Hund an.
…
Annikas Finger waren müde und zerstochen. Alles, was sie anfasste, brannte auf ihrer geröteten Haut. Nur noch eine Reihe kleiner Stiche – sie rieb sich die brennenden Augen und zog die Tischlampe noch näher heran. Nur noch eine Naht und das Kunstwerk war fertig.
Sie strich über das Stück schwarzen Fells, das unter dem gelben Licht schimmerte. Sie hatte nicht nur einmal über den eigenen Schatten springen müssen, um da ran zu kommen: das heimliche Gespräch mit Leopold, Besuch bei seinem Jägerkollegen, der für sie das Fell gerbte, ohne Fragen zu stellen, das Geld von ihren Eltern erbetteln, um eine Ahle und das ganze Zubehör zu kaufen. Und jetzt die schmerzenden Finger. Sie nähte schon seit sieben Stunden – draußen sangen schon die ersten Vögel, obwohl der Himmel immer noch recht dunkel war.
Annika machte am Ende der Naht einen mehrfachen Knoten und biss den Faden ab. Dann zog sie das Fell auf das Drahtgestell, das sie bereits vorbereitet hatte. Es sollte entfernt die Form eines laufenden Hundes haben. Zumindest der wehende Schwanz war ihr gelungen.
Sie setzte die Fellfigur auf den Pappmaché-Kopf aus dem Kunstunterricht der siebten Klasse, markierte die Stellen an einem langen Satinband, an dem der Hut später an Verenas Kopf befestigt werden soll und stach noch ein paar Löcher in das Fell, um die Sturmattrappe zu fixieren.
Danach kam nur noch die Verzierung aus schwarzen Rocailles, eine Quaste aus Perlenschnüren und eine weiße Paillette als Augenersatz.
Verena würde dieses Andenken an Sturm lieben.
…
Aniko überprüfte nochmal, ob der Umschlag mit dem Bild in ihrer Tasche lag, dann schob sie ihre Haare hinter die Ohren und hob das Kinn. Sie klopfte. Irgendwann hörte sie gedämpft auf der anderen Seite eine Stimme und der Hund wurde ruhiger. Aniko klopfte noch ein Mal. Dann noch ein Mal.
…
Annika stand wieder vor dem Pfuhlmanntor, ein Geschenk in der Hand und wartete auf den Ton, der ihr die Tür öffnen würde. Ida und Wolf kläfften wie immer.
In einer Stunde würde Annika sich in den Retro-Mercedes von Verenas Mutter setzen und zusammen mit den Pfuhlmanns zur Halle fahren, in der ihr Abiball gefeiert stattfindet
Sie klingelte erneut und kurze Zeit danach ging das Tor auf.
Verena saß an der Schminkkommode in ihrem Zimmer und steckte sich einzelne Haarsträhnen hoch, löste sie wieder und versuchte es noch einmal.
„Gut, dass du kommst!“, sagte sie, sobald Annika eintrat. „Ich könnte hier etwas Hilfe gebrauchen. Mir fallen fast die Arme ab vom ständigen hochhalten.“
Annika legte das Geschenk auf Verenas Bett und trat zum Spiegel.
„Einfach hochstecken?“, fragte sie und wuschelte probeweise durch die Locken. Im Spiegel betrachtete sie, wie nebenbei, das Gesicht ihrer Freundin. Alles Make-Up konnte nicht die rotgeschwollenen Augen kaschieren, oder die Augenringe von den durchgeweinten Nächten. Sie musste Verena trösten, ihr eine Freude machen.
„Ich habe was für dich!“ Annika ließ die Haare los und grinste aufgeregt, während sie die Geschenkschachtel holte. „Also, ich habe … als Andenken an Sturm.“
Sie streckte die Arme aus und schob die buntbeklebte Kiste mit der großen Schleife Verena unter die Nase.
„Oh“, sagte diese und entknotete lächelnd das Band.
„Oh …“, sagte sie, als sie hineinblickte und den Sturmhut herausholte. Beim Transport hatte sich das Gestell etwas verformt, so dass es jetzt nach einem plattgefahrenen, tollwütigen Geschöpf mit Genickbruch aussah.
„Warte, das muss man wieder zurechtbiegen.“ Annika wollte den Hut Verena aus den Fingern nehmen, aber diese hielt ihn fest und streichelte mit den Daumen über das Fell, die Augen geweitet.
„Gefällt es dir?“, flüsterte Annika. Ihr schlug das Herz laut in den Ohren. „Darf ich ihn gleich in die Haare …?“
„Was ist das?“ Verenas Hände fingen an zu zittern. Unablässig starrte sie das grauschwarze Fell an.
„Naja, deinem Abiball-Kleid hat ein wichtiges Accessoire gefehlt und dann passierte das mit dem Sturm und da habe ich gedacht …“
„Es ist Sturms Fell.“
„Es ist Sturms Fell“, hauchte Annika. Dieser Augenblick war magisch – Verena war verzaubert, sprachlos. Die durchgearbeitete Nacht, all die Strapazen, alles hatte sich mehr als gelohnt.
„Sturms …“
Annika nickte und lächelte.
„Was stimmt eigentlich nicht mit dir?“, fragte Verena nach einer Weile. Dann stand sie auf, legte den Hundehut auf die Kommode, drehte sich zu Annika um und sagte mit zitternder Stimme: „Geh.“
Annika ging nicht. Sie saß zwar später auf der Rückbank des Mercedes, aber es war kalt, trotz der Sonne draußen. Verena war in dunkles Schweigen versunken. Vrenis Mama versuchte, ein Gespräch aufrecht zu erhalten, scheiterte aber an der bedrückten Luft im Auto und ließ schließlich das Radio für sich sprechen.
Am Ende des Abiballs war auch Annika zum Heulen zumute. Verena hatte mit ihrer Laune den ganzen Abend vergiftet. Sie hatte den Hut nicht getragen, sich nicht für das Geschenk bedankt, überhaupt nicht ein Wort an Annika gerichtet.
…
Das machten Freunde nicht.
Aniko hörte durch die Wohnungstür kurz den Hund knurren, danach wieder Stille. Der weiße Punkt im Türspion wurde schwarz, dann wieder weiß. Verena öffnete die Tür – einen Spalt breit.
„Ha, die Leichenschänderin“, sagte sie nach einer kurzen Musterung.
Aniko versuchte, das Gesicht nicht zu verziehen, auch wenn sich alles in ihrem Magen zusammenballte. Verena hatte sich kaum verändert. Selbe Frisur, selbe Überheblichkeit. Nur das Gesicht war hagerer geworden, die Nase schmaler und prominenter. Tiefe Schatten unter den Augen verliehen ihr das Aussehen einer Vampirfürstin.
„Du siehst verbraucht aus“, stellte Annika fest.
„Du hast immer noch kein Hutgesicht“, antwortete Verena. An ihrem Knie vorbei schob sich langsam eine schwarze Hundeschnauze mit einer zuckenden Nase.
Aniko ignorierte den Hund, straffte die Schultern, schob sich die Haare wieder hinter die Ohren und sagte: „Ich bin geschäftlich hier. Lässt du mich rein?“
Verena hob eine Augenbraue. „Ich bin nicht interessiert.“
„Das solltest du. Es geht um deine Haut.“
„Willst du aus mir einen Hut machen?“ Verena schob mit dem Knie die Hundeschnauze wieder zurück in die Wohnung.
Aniko schluckte kurz und ärgerte sich gleich darauf über ihre Wortwahl. Seit wann ließ sie sich so von Arroganz und Unfreundlichkeit einschüchtern? Verena konnte so viele Hiebe austeilen wie sie wollte – der Rache würde sie trotzdem nicht entkommen.
„Na gut, dann hier“, sagte Aniko und zog den braunen Umschlag aus der Tasche. Sie betrachtete kurz das Foto selbst, bevor sie es umdrehte und Verena unter die Nase schob. „Verführung Minderjähriger“, erklärte sie. Verenas Gesicht blieb blank, aber Aniko hätte schwören können, dass sich für einen kurzen Moment Angst unter der Maske gerührt hatte.
„Es gibt Videoaufzeichnungen davon“, schob sie nach, bemüht, möglichst kühl zu klingen.
Verena regte sich nicht. Stattdessen begann der Hund irgendwo hinter der Tür zu knurren, als wäre er ein Teil seiner Herrin.
„Drohst du mir?“, fragte Verena nach einer Weile. In ihrer Stimme schwang so viel Verachtung mit, dass Aniko kurz das Bild senkte. Um die Unsicherheit zu überspielen, schob sie die Aufnahme wieder in den Briefumschlag.
„Du hast mir mit deinem Artikel die Show vermasselt. Ich hole mir nur zurück, was du mir schuldest“, erklärte sie, nachdem sie den Umschlag etwas umständlich wieder in der Tasche hatte verschwinden lassen.
„Artikel?“ Zum ersten Mal zeigten Verenas Gesichtszüge eine ehrliche Emotion: Verwirrung. Das hielt jedoch nicht lange an. „Ach, du meinst ‚Hüte sind keine Kunst‘?“
Verenas Lachen löste einen leichten Würgereiz aus. Scheußliche, eingebildete …!
Aniko verzog ihren Mund zu einem Lächeln. „Ich habe gehört, du stellst in deinem Tempel Kunst aus?“, sagte sie süß.
„Was willst du von mir?“, fragte Verena, das Gesicht wieder ernst.
„Eine Hutausstellung im Tempel. Ein Jahr lang. Mit wechselnden Exponaten, klarer Attribuierung und auf allen Bildschirmen Showaufnahmen der Hüte in Dauerschleife. Werbung.“
Verena schnaubte belustigt.
„Im Knast dürfen die Insassen keine Hunde halten, habe ich gehört.“ Sie hatte den Nerv getroffen. Etwas hatte sich bei diesen Worten in Verenas Blick verändert.
„Denk darüber nach. Ruf mich an, wenn du dich entschieden hast.“ Aniko holte aus der Brustinnentasche ihres Mantels ein schmales Papier heraus. „Hier ist meine Visitenkarte.“ Sie legte diese einem der Hundestatuen vor der Tür in das Maul, drehte sich um, und bevor Verena noch etwas sagen konnte, stieg die Treppen hinab, als wäre nichts gewesen.
Erst als sie draußen stand, merkte sie, dass ihre Ohren brannten.
Wie geht die Geschichte weiter?
Lies gleich weiter und finde es heraus: Kapitel 32 – Snowboarden, Babyöl und andere Katastrophen
Was ist Auffällig Unauffällig“?
Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.
Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?
Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede(r) Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Aniko wurde von Arina Molchan verfasst.


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