Auffällig Unaufällig – ein Gemeinschaftsroman von Alexander Wachter, Annika Kemmeter, Arina Molchan, Ina Maschner, Lydia Wünsch, Nina Lischke, Verena Ullmann und Victoria Grader.
Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog
Heute
Marty Trapington schlenderte an der Reihe Hüte vorbei, die im Tempel ausgestellt waren. Davon abgesehen, dass er sich keine weiteren Modelle von Senchi leisten konnte, entsprachen die Gebilde auch nicht seinem Kleidungsstil. Trotzdem blieb er immer wieder fasziniert vor den kleinen Kunstwerken stehen. Irgendwie weckten sie seinen Ermittlerinstinkt. Bestand dieser Turban nicht aus Autogurten? Wovon wurde dieser durchsichtige Hut zusammengehalten, der fast zu schweben schien? Und warum baumelten mintfarbene Schnüre von dieser mit Wasserraketen besetzen Krempe? Er war auch nicht unwesentlich stolz, beim Zustandekommen dieser Exhibition mitgewirkt zu haben. Die Ausstellung schien schon jetzt ein großer Erfolg für Aniko Senchi zu sein, wie die Klebepunkte an den Glasvitrinen zeigten: Ein Modell nach dem anderen wurde als „verkauft“ markiert. Die Künstlerin selbst wurde von der Presse belagert. „Sind Hüte das neue Must-Have? Welche Schuhe kombiniere ich dazu am besten?“ „Würden Sie sich als Künstlerin bezeichnen? Woher nehmen Sie Ihre Inspiration?“ „Wie nachhaltig sind die Materialien, mit denen Sie arbeiten? Wie stehen Sie zu Pelz? Sind ihre Hüte vegan?“ „Warum geben Sie so wenig über Ihr Privatleben preis? Haben Sie eigentlich einen Partner? Eine Muse? Sind Sie vielleicht mit einer Frau zusammen?“ „Wie kommt es, dass Sie im Tempel ausstellen? Hatte Verena Pfuhlmann nicht diese Kritik geschrieben …?“
Aniko Senchi pustete die breite Haarsträhne aus ihrem Gesicht, lächelte geheimnisvoll, drehte sich um und ließ die Journalisten stehen. Ihr war bewusst, dass sie eine Aura der Unnahbarkeit umgab, die sie nicht durch unüberlegte, womöglich zu emotionale Antworten gefährden wollte. Sollten sie sich doch ihren Teil denken.
Hinter ihr lauerte bereits eine Horde Instagirls. Eine willkommene Abwechslung. Bereitwillig posierte sie mit verschiedenen Hüten für gemeinsame Selfies. Kopf gerade, stolzer Blick, nicht die Spur eines Lächelns – während Annika innerlich triumphierte. Sie hatte es tatsächlich geschafft: #senchilove im #Tempel. Und von Verena Pfuhlmann keine Spur.
Lydia Von Wahle postete das Bild sofort. Ein Selfie mit Senchi – das wird Likes geben ohne Ende! Sie legte ihr iPhone auf die Theke, küsste Alexander Sachter und setzte sich wieder auf den Barhocker neben ihn, den er erfolgreich verteidigt hatte. Wie bei ihrem ersten Date im Tempel, stand auch heute Victoria Burana auf der Bühne. Saxofonklänge dudelten zu ihrem lockerleichten Gesang. Aber das Knurren von Alex‘ Magen übertönte alles.
„Wollen wir was zu essen bestellen?“, fragte sie ihn.
Er schielte zur Tafel mit den Tagesgerichten, aber dort waren keine Preise angegeben. „Äh …“
Und dann sagte Lydia etwas, womit er gar nicht gerechnet hatte „Weißt du was? Heute lade ich dich mal ein. Und keine Widerrede!“
„Ok“, sagte Alex und winkte dem jungen Kellner mit der Brille, um sich schon mal eine Vorspeise zu bestellen „Für mich einen großen Nizza-Salat, bitte!“
“Entschuldigung. Darf ich kurz durch”, fragte ein Kellner und schob Marina Molch mit der freien Hand sanft zur Seite. Sie machte Platz, indem sie einen Schritt auf das Ausstellungsstück zumachte, das ohnehin Marinas Blick auf sich gezogen hatte: Ein scharfkantiger, roter Fascinator. Er würde perfekt zu ihrem langen Satinkleid passen, überlegte sie, aber davon durfte sie sich nicht ablenken lassen. Die Hüte waren das letzte, weswegen sie heute im Tempel war. Jetzt war es Zeit, die Mission abzuschließen. Sie wandte sich ihrem Klienten zu: „Herr Von Wahle, unsere Arbeit endet hier. Ich wünsche Ihnen alles Gute.“
„Vielen Dank, Frau Molch.“ Aeneas Von Wahle begann sofort, den Raum über die Hüte der Gäste hinweg nach seiner Noch-Ehefrau abzusuchen. Frau Molch hatte Recht: Sie saß tatsächlich an der Bar – war das daneben ihr Neuer?
Alexander Sachter sah Aeneas Von Wahle schon von weitem. Mit seinem einfachen Strohhut überragte er alle anderen. Zu seinem hellen Leinenanzug trug er Lederschuhe. Er kam auf sie zu und teilte dabei die Menschenmenge vor sich wie Moses das Meer. „Lydia!“ rief Aeneas aus. Lydia, die gerade einen Schluck genommen hatte, schniefte vor Schreck den Alkohol durch ihre Nase raus. Sie hustete und hielt sich ihre Hände vors Gesicht.
„Lydia, alles okay?“, kam es von beiden Männern wie aus einem Mund.
Lydia brachte keinen Ton hervor, sie hustete und versteckte ihr Gesicht hinter ihrer Clutch.
Aeneas wandte sich an Alex. „Dann bist du Lydias neuer Partner?“ Er hatte ihn sich größer vorgestellt.
„Ja, der bin ich. Und Sie sind Herr Von Wahle, oder? Egal, weswegen Sie hergekommen sind oder was gleich passiert, ich wollte Ihnen sagen: Sie sind so eine Inspiration für mich. Unglaublich, was Sie alles erreicht haben. Ich bewundere das echt! Können wir vielleicht ein Selfie zusammen machen?“
„Natürlich. Vielleicht später?“, fügte Aeneas mit einem Blick auf Lydia hinzu, dann stockte er: „Was meinst du mit ‚was gleich passiert‘?“
„Nun ja“, sagte Alex. „Sie sind Lydias Ex, ich bin ihr Neuer. Da herrscht Spannungspotential. Ich würde es Ihnen nicht verübeln, wenn Sie mir eine runterhauen wollen. Aber bitte nicht ins Gesicht.“
„Ich würde dich doch nicht schla …“
„Warum bist du hier?“, unterbrach Lydia ihn zwischen zwei Hustern, ihr Gesicht immer noch hinter der Clutch verborgen.
Aeneas hatte lange darüber nachgedacht, was er zu ihr sagen würde, doch nun vergaß er seine zurechtgelegten Worte und redete frei von seinem Herzen. „Ich wollte dich sehen, mit dir reden, dich spüren. Ich war während unserer Beziehung nicht ich selbst, das war ich vor meiner Zeit auf der Insel nie. Und ich denke, du warst es auch nicht – vermutlich bist du es noch nicht.“
Lydias Hand kam hinter ihrer Clutch hervor und zupfte ihren Ausschnitt zurecht. „Sprich weiter.“
„Dein ganzes Influencer-Getue – das bist nicht du! Wenn wir zusammen sind, dein Humor, dein Fleiß, dein Scharfsinn. Das ist die Lydia, in die ich mich verliebt habe – ohne diesen ganzen Luxuswahn und die Heuchelei. Das ist die Lydia, in die ich mich wieder verlieben könnte. Ich schätze, ich wollte nur wissen, ob diese Lydia noch existiert.“
„Diese Lydia würde ich auch viel lieber haben, ehrlich gesagt“, pflichtete ihm Alex bei. „Am besten gefällst du mir eh, wenn du nichts anhast. Und wenn du über Dinge redest, die kein Geld kosten.“
Langsam senkte Lydia ihre Clutch. Dahinter kam ihr Gesicht zum Vorschein: gerötete Wangen neben einer triefender Nase und verlaufenem Mascara. Ihr Blick pendelte von Aeneas zu Alex und zurück, in den Augen ein Strahlen. „Meint ihr das wirklich ernst?“
Beide Männer nickten.
Tränen kullerten ihre Wangen hinunter. „Ich war als Influencerin wohl echt keine Korifane“, sagte sie.
„Koryphäe“, korrigierte sie Aeneas. „Und nein, warst du nicht.“
Marina und Marty beobachteten die drei von ihrem kleinen Tischchen. “Gute Arbeit, Frau Molch”, sagte Marty. Sie lächelte. Ja, der Fall war zu einem guten Ende gekommen. Eine Bewegung, Marina sah sich um. Sie meinte, eben Frank hier gesehen zu haben. Oder doch nicht? Vielleicht hatte eine Spiegelung im Großen Wandspiegel ihr etwas vorgetäuscht. Da spürte sie plötzlich, wie Marty ihre Hand ergriff. Die Jazzcombo verstummte. Victoria Burana hatte den Instrumentalisten mit der Hand ein Zeichen gegeben. Victoria Buranas Moment war gekommen. Sinatras New York unterforderte sie maßlos. Jetzt war es Zeit für die große Show! Verena Pfuhlmann hatte sich den ganzen Abend in der Küche verkrochen, um Aniko Senchi aus dem Weg zu gehen und würde auch jetzt nicht herauskommen. Vom Scheinwerfer geblendet, zwinkerte sie Ina Násowasz zu und spürte wie ihre Freundin aus dem Dunkel zurückzwinkerte. Sie musste dem Publikum und der Presse zeigen, mit wem sie es zu tun hatten: Der größten Opernsängerin aller Zeiten.
„Gleich wird wundervolle Musik in diesen heiligen Mauern erklingen, das spüre ich!“, lallte Ina Násowasz der Kellnerin ins Ohr und bestellte noch einen Whisky.
Da setzte sich Aniko Senchi zu ihr an den Tisch. „Entschuldigen Sie, aber diese Bänder in ihren Haaren, wo haben sie die her? Haben sie die selbst gemacht?“
„Nein, nein! Die habe ich auf einem Flohmarkt gekauft, in Ungarn.“
„Interessant. Wo genau?“
„Puh …“ Die Wahrsagerin versuchte sich zu erinnern. Aber sie war abgelenkt von der Spannung, die die Bühne umgab und wie Wellen negativer Energie auf sie zu schwappte.
Die Sängerin, die sich nun ganz ihrer Arie hingab, bemerkte nicht, wie Verena Pfuhlmann aus der Küche kam. Aber es war zu spät, um sie zu warnen.
„Ach, da ist ja die Vreni wieder“, bemerkte nun auch die Hutdesignerin, um sich dann gleich wieder ihrer neuen Entdeckung zuzuwenden „Diese filigranen Muster sind wirklich … außergewöhnlich!“.
Die Chefin des Tempels stand direkt neben der Bühne. Es war nicht das erste Mal, dass sie eingreifen musste, um ihr Musikprogramm zu verteidigen, aber definitiv das letzte Mal:
Plötzlich löste sich der schwere Scheinwerfer über ihr aus der Verankerung, stürzte herab und begrub sie unter sich.
„Lassen Sie mich durch! Fassen Sie nichts an!“ Wie aus dem Nichts war er mit seinem schwarzen Hut auf dem Kopf vor der Bühne aufgetaucht. „Privatermittler Marty Trapington. Fassen Sie nichts an!“ Zusammen mit seiner Assistentin, die sogleich den Scheinwerfer begutachtete, versuchte er die Leute von der Leiche fernzuhalten.
Stundenlang wurden wir dann von der Polizei im Tempel festgehalten und verhört. „Das konnte doch kein Zufall sein!“, meinten viele. „Ein tragischer Unfall!“, sagten die anderen … und schließlich auch die Polizei, die keine Hinweise auf eine vorsätzliche Tat finden konnten. So verließen die Gäste – oder die Verdächtigen, wie man es sehen mag – nach und nach den Tempel: Ina Násowasz, die nun davon träumen durfte, den Tempel zurückzukaufen. Aniko Senchi, die, nachdem sie den ersten Schock überwunden hatte, im Kopf bereits die nächsten Ausstellungen für angesehene Museen konzipierte. Lydia, Hand in Hand mit Alex und Aeneas, die nun in dieser Ausnahmesituation beschlossen hatten, zu dritt ein neues Leben zu beginnen. Nur Marty Trapington und Marina Molch verweilten noch einen Augenblick an der verwaisten Bar. „Ich glaube einfach nicht, dass das ein Unfall war“, sagte er. „Irgendwas ist da doch faul.“
„Marty“, seufzte sie „Wir haben alles genau geprüft. Auch die Polizei sagt, dass es ein tragischer Unfall war. Für uns ist der Fall erledigt. Was mich viel mehr interessiert: Sex on the Beach bekomme ich hier heute nicht mehr, oder?“
„Frau Molch, ich denke …“ Marty kratzte sich am Kinn. „Achso! Also, Frau Molch. Nicht hier, nein. Und mit einem Strand kann ich auch nicht dienen, aber …“ Ein Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus, als sie nach seiner Hand griff.
„Nun gut, Marty, gehen wir.“
Gerade, als sich die beiden umdrehten, um zu gehen, nahm mich Victoria hoch. Ich blickte in Marina Molchs blaue Augen und erinnerte mich plötzlich. Ja, diese Augen, hatte ich gestern gesehen! Gestern Nacht, als ich am Tempel vorbeigelaufen war. Er war am Vorabend der Vernissage geschlossen gewesen. Und doch traf mich durch die Fensterscheibe dieser Blick: Erst ertappt und dann erleichtert, dass nur ich es war, der sie dort drinnen mit einer Leiter an der Bühnentechnik hantieren sah. Ich, der es ja niemandem erzählen kann.
Und jetzt löste die Mörderin ihren Blick von mir und Victoria Burana, kraulte mein Fell. „Fiorello, mein lieber Fiorello! Ist das nicht verrückt? So schrecklich und doch so wundervoll – ich darf jetzt wieder singen, was ich will!“
Wie geht die Geschichte weiter?
Lies gleich weiter und finde es heraus: Kapitel 38 – Die Anatomie eines Falls
Was ist Auffällig Unauffällig“?
Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.
Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?
Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede(r) Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Dieses Kapitel wurde von Verena Ullmann verfasst.


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