Kapitel 38 – Die Anatomie eines Falls

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Auffällig Unaufällig – ein Gemeinschaftsroman von Alexander WachterAnnika KemmeterArina MolchanIna MaschnerLydia WünschNina LischkeVerena Ullmann und Victoria Grader.

Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog

Das war es nun also, das Ende. Immerhin die Dramatik stimmte. Erschlagen von einem Scheinwerfer, es hätte schlimmer sein können. Eine normale Deckenleuchte zum Beispiel – wie langweilig. Ein Kronleuchter wäre auch nicht schlecht gewesen, aber der Scheinwerfer war schon sehr symbolisch. Vor allem für die dunklen Ecken, die sie bei anderen ausleuchtete.

Dabei würde sie wohl, wie immer, die missverstandene Hexe bleiben. Diejenige, die anderen gegenüber als missgünstig beschrieben wurde. Als egoistisch. Machtbesessen. Okay, da war schon etwas dran. Dennoch: sie war auch diejenige, die anderen eine so wichtige Lektion erteilte. Die ihnen die Chance gab, etwas Unmissverständliches zu begreifen, tief zu fallen, um die Kraft aus ihrer Tiefe hervorzuholen, von der sie gar nicht wussten, dass sie überhaupt da war.

Auch sie hatte diesen bitteren Samen der Wahrheit am Grund ihres Herzens erst erreichen müssen, bevor sie merkte, wie stark, wie erfolgreich, wie mächtig sie eigentlich war. Damals, als erst ihr Hund und dann ihre beste Freundin von ihr gegangen waren. Beziehungsweise, zweitere ihr wahres Gesicht offenbart hatte. Abscheuliche Fratze! Mörderin! Leichenschänderin! Aber es war eine wichtige Lehre gewesen: Erst, wenn man alles verliert, dringt man zu seiner wahren Essenz durch. Erkennt, wozu man fähig ist. Und sie, Verena Pfuhlmann, hatte all ihre Wut und ihren Schmerz genutzt und sich einen Namen gemacht, den sich die Menschen hinter vorgehaltener Hand zutuschelten. Weil sie es nicht wagten, ihn zu laut auszusprechen. Aus Angst. Aus angemessenem Respekt.

Und genau diesen Schmerz mussten auch diese Menschen spüren. Bei der alkoholkranken Räuchertante war der Punkt schon fortgeschritten, das hatte Verena sehen können. Die Entschlossenheit zum Kampf, etwas, das ihren Blick lebendig machte trotz des ganzen Ethanols, das ihm zugleich ein wildes Flirren gab.

Der nichtsnutzige Student war da schon schwerer von Begriff. Ihm hatte sie seinen letzten Stolz genommen und dennoch schien es noch nicht zu reichen, um ihn das goldene Ei in seiner schwarzen Schlucht erahnen zu lassen. Und die Operndiva, wie lange hätte es bei ihr noch gedauert, bis sie begriffen hätte, wie sehr auch sie ihre Gaben anderen zur Verfügung stellen musste, um wieder in den Glanz zu kommen? Der glitzernde Scheinvorhang, den sie verbissen aufrecht zu halten versuchte, musste in einem letzten Schritt noch heruntergerissen werden. Erst dann, da war Verena sich sicher, würde sie an ihrem tiefsten Punkt ankommen. Und von dort auferstehen wie der Phönix aus der Asche.

Dieses Bild war es, dass all ihr verrufenes Bemühen erst so richtig in Gang gesetzt hatte, damals in der Morgan Library and Museum in New York. Fast unscheinbar war dieser fantastische Vogel auf einer der mittelalterlichen Buchseiten des „Book of Hours“ abgebildet gewesen. Ein wunderbares, heiliges Werk. Verena wusste im ersten Moment nicht, warum sie ausgerechnet dieses kleine, bunte Bild so fasziniert anstarrte. Bis es ihr kam: Sie fühlte sich verbunden. Sah ihre eigene Reise in der Auferstehung nach dem tiefen Fall. Und plötzlich war ihr klar geworden, dass genau hier ihre Aufgabe wartete. Sie hatte nicht umsonst die Erfahrungen gemacht, die sie nunmal gemacht hatte. Darin steckte eine Botschaft. Und es dauerte nicht lange, bis sie am Tempel vorbei und ihre erste Mission ihr vor die Füße getorkelt kam.

Und dann war da noch Frank. Frank. Dieser naive, liebeskranke Volltrottel. Der ihr gleich eine doppelte Herausforderung war. Denn er löste so zwispältige Gefühle in ihr aus, dass es ihr schwer fiel, ihn nur schlecht zu behandeln. Die mütterlichen Gefühle, die sich zu einer sexuellen Anziehung mischten, machten ihr diese Mission besonders schwer. Die Idee: Einmal der harte Reinfall, eine grausame, narzisstisch krankhafte Erfahrung und er war gewappnet für das Leben. Sie hoffte, er würde erkennen, wie schlecht er sich hatte behandeln lassen, wie sehr er seinen Wert ihrer Genugtuung vor die Füße geworfen hatte. Die sich, sobald er den Tempel oder ihre Wohnung verlassen hatte, in blanke Schuldgefühle verwandelten. Frank. Sie hoffte, er traf in Genf eine Frau, die ihn wirklich verdient hatte.

Sie ging. Anscheinend war ihre Aufgabe erfüllt. Beendet durch einen Scheinwerfer. Hell war es hier. Wieso sprachen so viele von einem dunklen Tunnel? Verena war geblendet von so viel Licht. Weiß, reines, strahlendes Weiß. Und dann, und das ließ ihr totes Herz vor Liebe aufblühen, spürte sie eine vertraute, feuchte Hundenase an ihrer Hand. Sturm.

Wie geht die Geschichte weiter?

Lies gleich weiter und finde es heraus: Das Scheinwerfer-Komplott

Was ist Auffällig Unauffällig“?

Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.

Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?

Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede(r) Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Dieses Kapitel wurde von Nina Lischke verfasst.


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