Die Legende des Samuel Hein

7–10 Minuten
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Eine Geschichte von Ina Maschner und Nina Lischke

Soll ich euch etwas erzählen? Etwas Gruseliges? Jeder mag doch einen guten Schreck. Vor allem in einer Nacht wie dieser. An einem Ort wie diesem. Der heimische Friedhof. Ist es nicht wunderschön hier? Der Nebel, der zwischen den Gräbern wabert, die liebevoll zu Allerheiligen dekoriert sind, alle Kerzen angezündet, wie kleine Fackeln, die den Toten den Weg nach Hause weisen. Seht ihr dieses Grab dorthinten? Das von Efeu überwuchert ist? Ja, genau das. Seht ihr die Hand, die aus dem Efeu greift? Alle im Dorf reden darüber, viele sind empört, und doch wagt es niemand, die Hand zu entfernen. Ob die Hand echt ist? Das verrate ich nicht. Aber so viel sei gesagt: Es ist die Hand von Samuel Hein. Einst hatte er in diesem Dorf hier gewohnt. Es ist schon sehr lange her. 19. Jahrhundert, wenn ich mich nicht irre. Ja genau, dort oben, in dem verfallenen Haus hatte er gelebt. Man sagte, es gab bei ihm die besten Germknödel. Ja, so ist es überliefert. Aber so bekannt er für die Germknödel war, deshalb ist er nicht berüchtigt. Wofür er berüchtigt war, davon erzähle ich euch jetzt. 

Ines Heinrich horchte auf. Was war das für ein Geräusch? Ein leises Kichern kam von draußen. Sie sah aus dem Fenster. Dunkel und verlassen lag die verregnete Straße vor ihrem Haus. Die Laterne warf ihr flackerndes Licht darauf. Seit einer Woche versuchte sie schon, die Stadt davon zu überzeugen, dass sie die Laterne endlich reparieren, bisher vergeblich. “Wir sind dran”, hieß es jeden Tag, “aber es gibt gerade einfach viele Laternen, die ausgebessert werden müssen. Sie liegen am Stadtrand, da brauchts ein bisschen länger.”

Wieder dieses Kichern. Als ständen Kinder vor ihrer Haustür. Aber da war niemand! Sie konnte ihren Eingangsbereich sehen, auf dem der Kürbis seine flackernde Fratze präsentierte. Vielleicht hatte sich jemand einen Halloweenstreich erlaubt und irgendetwas bei ihr positioniert, um sie zu ängstigen. 

Sie ließ ihren Blick über die dunkle Straße hinüber zum Friedhof gleiten. Was war das? 

PIIIIIEP – PIIIIIEP – PIIIIEP! 

Erschrocken lies Ines den Vorhang los, das Adrenalin pumpte durch ihre Adern. 

PIIIIIEP – PIIIIIEP – PIIIIEP! 

Der Ofen, erinnerte sie sich erleichtert. Die Germknödel mussten fertig aufgewärmt sein. 

Sie ging in die Küche und schaltete den Ofen aus, bevor er ihr angespanntes Nervenkostüm wieder in Panik versetzen konnte und öffnete die Luke. Herrlicher Vanilleduft strömte ihr entgegen. 

“Luke!”, rief sie. Wo war er die ganze Zeit?

Bestimmt war er mit seinen Freunden an Heins Grab. Das war eine lange Tradition im Dorf. Die Jugendlichen trafen sich zu Halloween, in der Nacht, dort als eine Art Mutprobe. Luke hatte sie heute extra gebeten in Samuel Hains Andenken Germknödel zu machen. 

Und wieder dieses Kichern! 

Ihr denkt es euch schon: Es ist Heins Kichern. Denn obgleich er die besten Germknödel machen konnte und unaussprechliche Taten vollbrachte, hatte er doch Sinn für Humor. Er war bekannt für sein Kichern, mit dem er häufig durch die Straßen lief und das die Menschen lange glauben lies, er sei ein bisschen verrückt. Nun, damit lagen sie nicht falsch. Hätten sie doch früher geahnt, was dieses Kichern zu bedeuten hatte… 

Ines schaute wieder rüber zum Friedhof. Kleine Lichter tanzten hier und da über das Gelände. Also doch, Luke war drüben. Dann würde sie wohl alleine mit den Germknödeln starten müssen, denn ihr Magen meldete sich mit einem auffordernden Knurren. Sie richtete sich einen Teller an, streute Mohn mit Puderzucker auf die wunderschöne goldgelbe Pracht vor ihr und nahm den ersten Löffel. Was für eine Geschmacksexplosion! Noch nie waren sie ihr so gut gelungen! Das neue Rezept hatte es wirklich in sich. Sie überlegte, wo Luke es her hatte. “Gefunden”, hatte er gesagt und war mit einem schelmischen Grinsen aus der Küche gegangen. Wo immer er dieses Rezept gefunden hatte, es war das Beste, was sie in diesem Jahr zu sich genommen hatte. 

Das Kichern! Ines hielt inne. Es klang jetzt nicht mehr, als käme es von draußen – sondern hinter hier. Sie drehte sich einmal um sich selbst. Sie war allein. Niemand stand hinter ihr und niemand lukte von draußen durchs Fenster, um sie zu beobachten. Doch sie hörte das Kichern … und das Knurren ihres Bauches. Sie war gestresst, seit langem schon: Arbeit, Rechnungen, Haushalt, Rechnungen, Kind, Rechnungen, Kontostand, Rechnungen. Und sie war hungrig. Wahrscheinlich bildete sie sich das Lachen nur ein. 

Hört, was ich euch sage! Denkt niemals ihr würdet euch Dinge nur einbilden. Denn sie sind sehr real. Und wenn ihr nicht hinseht, werden sie im Dunkeln größer und größer. Monster gedeihen, wenn man nicht hinsieht. Und dann fressen sie euch auf!

Wechseln wir doch für einen Moment den Schauplatz und lassen die gestresste Mutter weiter ihren Germknödel essen, sie hat ihn sich verdient. Wenden wir uns dem Grab von Samuel Hein zu. Ihr erinnert euch? Das dort drüben, mit dem Efeu und der Hand. Fünf Jugendliche haben sich nun darum versammelt. Das tun sie jedes Jahr. Jugendliche brauchen ihre Mutproben. Nur hat dieses Jahr einer von ihnen eine Dummheit begangen, die sie schon bald bereuen werden.

Denn Samuel Hein, das sagte ich ja schon, war einerseits für die besten Germknödel bekannt. Diese waren quasi seine “gute Tat”. Wenn auch eng verknüpft mit den grausamen Taten, für die er ebenso bekannt wurde. Und diese hatten mehr mit den Germknödeln zu tun, als auf den ersten Blick zu erahnen war. 

Samuel Hein stand in der Küche und knete den Teig für seine Germknödel. Die Pflaumen für das Mus hatte er im Sommer geerntet und eingelegt. In Gläser abgefüllt standen sie schon an der Anrichte bereit. Der Teig, so sagte sich Samuel Hein stets, muss mit Liebe und Ehrfurcht zubereitet werden, und das Wichtigste am Teig ist das Mehl. Die Knochen zu Mehl zu mahlen war eine anstrengende Arbeit, aber sie lohnte sich jedes Mal. Der Dorfwirt zahlte ihm schließlich viel Geld für seine Germknödel. 

Doch Knochen waren nicht leicht zu beschaffen. Sie mussten schon zuerst frisch sein. Das merkte man der Qualität des Mehles an. Und da Samuel Hein ein sparsamer Mensch war, nutzte er alles, was um die Knochen herum war. Nichts sollte verschwendet werden. Das hatte schließlich mit Ehrfurcht zu tun. Kein Wesen sollte umsonst gestorben sein. Während also die Germknödel fertig gebacken wurden, verarbeitete er das Fleisch zu Gulasch, das er dem Armenhaus spendete. Hätten sie dort gewusst, dass ihresgleichen sie wärmen, wo sie ihnen noch zuvor das Essen geneidet hatten. Samuel Hein war ein guter Mensch. Denn was er brachte, war Erlösung. Erlösung von Leid, Erlösung von Hunger, Erlösung vom Appetit auf etwas richtig Gutes.

Angefangen hatte alles mit einem Zufall, wie Zufälle sooft der Beginn von etwas Großartigem sein können. Ein Bettler, der Samuel Hein anflehte, er möge doch Mitleid mit ihm haben. Und Hein hatte Mitleid. So nahm er ihn mit zu sich nach Hause, gab ihm Germknödel zu essen und ließ ihn sich waschen und neu einkleiden. Der Bettler war glücklich und er starb glücklich. Das Beil, das ihm den Schädel spaltete, sah er nicht kommen. Es ging schnell zu Ende mit ihm. 

Schauen wir uns jetzt an, was die Jugendlichen an seinem Grab trieben. Luke und seine Freunde standen auf dem Friedhof und konnten sich gegenseitig kaum noch erkennen. Der Nebel war immer dichter geworden und sie erkannten sich nur noch schemenhaft. Passend, nicht wahr? Das perfekte Setting für eine Mutprobe an Halloween. “So, wer traut sich als erstes?”, rief Quinn. “Samuel, uuuuhhhh”, imitierte Catrhrine geisterhafte Stimmen. “Ich mach’s”, sagte Luke in die Nebelschwaden hinein. Er musste. Er war in den letzten Wochen durch seine Abwesenheit in Ungnade gefallen und brauchte den Respekt der Gruppe. “Lucky Luke”, schnarrte Quinn von irgendwo auf der anderen Seite des Grabes. “Na dann los, du Mauerblümchen.” 

Luke ließ sich von den Sticheleien seiner Freunde nicht beirren. Dieser Dummkopf. Wäre er doch nur weggerannt. Aber so setzte er sich auf den Boden vor dem Grab und sagte: “Samuel Hein. Samuel Hein. Samuel Hein”, dann berührte er mit zitternden Fingern seine Hand. Ein großer Fehler, denn er sollte nie wieder aufstehen. 

Die Mutter indes machte sich an den Abwasch. Sie wusch die Vanillesoße vom Teller und sah das gelblich sahnige Wasser mit den schwarzen Mohnpunkten den Abfluss runterlaufen. Da wurde ihr plötzlich unsagbar schwindelig und schlecht. Als müsse sie sich gleich übergeben. In ihrem Kopf fügten sich plötzlich Puzzleteile zusammen. Lauter kleine Momentaufnahmen, die auf einmal ein klares Bild ergaben. Die Germknödel! Das neue Rezept. Das seltsam alt wirkende Mehl, das Luke sie angewiesen hatte, dafür zu nutzen. Es sah aus wie aus dem 19. Jahrhundert übrig geblieben! Aber er beharrte darauf, sie würde schon sehen. Das Kichern. Der Friedhof! Ines, konnte sich kaum auf den Beinen halten, als sie das letzte Puzzlestein vor sich in der Spüle sah. Ein kleines Stück Knochen. Wo hatte Luke das Mehl hergehabt?Er war doch nicht etwa in dem alten Haus gewesen? Dem Haus von Samuel Hein? Sie nahm ihre Jacke und rannte zum Friedhof. Keine lebende Seele war mehr dort. Nur vor Heins Grab lag ihr toter Sohn. Dann hörte sie wieder das Kichern und sie erschrak. Denn das Kichern kam nicht von irgendwo, es kam von ihr. Sie kicherte. Etwas in ihr zerbrach in diesem Moment. Oder vielleicht war es nicht ihr eigenes Lachen, das aus ihr drang. Sie nahm den toten Körper ihres Sohnes und ging nach Hause. Nicht in ihr Haus, sondern in seines. Die alte Tür fiel ins Haus, sie schritt durch den eingestaubten Flur und trat in die Küche. Es fühlte sich nach Zuhause an. Sie kicherte und machte sich an die Arbeit. Es gab viel zu tun.

Image by Sandy Flowers from Pixabay


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