Löffel

von Martin Trappen

Es war ein Löffel. Nicht einmal ein besonderer Löffel. Nikolai hatte ein gutes Dutzend in einer der Schubladen im Esszimmer gefunden, alle feinsäuberlich sortiert. Einen hatte er mitgenommen. Der Löffel war aus Zinn. Glaubte Nikolai. Er kannte nicht so viele Metalle. Und woraus konnte man so einen Löffel denn noch machen? Aus Silber war er nicht, dieses Besteck hielt ihr Vater gut unter Verschluss. Der schlief längst, und hatte den fehlenden Löffel nicht bemerkt. Und auch wenn er es am nächsten Morgen bemerken sollte, würde es ihrem Vater nichts ausmachen. Glaubte Nikolai.

„Wie lange willst du dieses blöde Ding denn noch anstarren?“, fragte Konstantin von seinem Bett gegenüber aus.

„Solange, bis es klappt“, antwortete Nikolai.

„Dann wirst du da verschimmeln. Das Teil hat sich in der letzten Stunde nur einmal bewegt, und zwar als ich aus Versehen dagegen gestoßen bin.“

„Aus Versehen? Das war Absicht, gib’s zu! Nach den ersten zehn Minuten war es dir schon langweilig und du wolltest mich ärgern!“

„Na gut, vielleicht hab ich das Gähnen nur vorgetäuscht“, Konstantin gähnte, „aber inzwischen ist es echt. Ehrlich, es ist schon nach Mitternacht. Und Papa hat gesagt, wir sollen schlafen.“

„Seit wann hörst du auf ihn?“, fragte Nikolai skeptisch.

„Mach ich nicht. Ich will schlafen.“

„War die Aktion also doch nicht umsonst.“

„Wenn du meinst.“ Der Seitenhieb war an seinem Bruder vorbeigegangen. Er gähnte noch einmal, riss sein Maul dabei so weit auf, dass Nikolai glaubte, er könnte einen ganzen Schweinebraten auf einmal vertilgen.

„Jetzt hör auf zu Gähnen, ich muss mich konzentrieren!“

„Sicher, daran hängt’s“, er prustete, „zu wenig Konzentration! Konzentrier dich stark genug und du kannst meinen Kopf zum Platzen bringen!“

„Schön wär’s. Still jetzt!“ Sein Bruder verstummte, mimte übertrieben dramatisch, wie er seinen Mund verschloss und den Schlüssel wegwarf. Dann legte er sich auf den Rücken und ließ den Kopf von der Bettkante baumeln. Er sah kurz auf den Löffel, der immer noch still dalag, und heftete seinen Blick dann auf die Taschenuhr auf dem Boden. Ihr Vater hatte sie ihnen gegeben. Konstantin hatte es sich sofort zur Aufgabe gemacht, die Uhr zu hüten wie die Glucke das Ei. Sie sollten darauf aufpassen, hatte ihr Vater gesagt. Aber Konstantin tat nie, was ihr Vater ihnen sagte. Die Uhr hatte einmal ihrem Großvater gehört, und war schon seit Ewigkeiten im Familienbesitz. Sein Vater hatte nicht ‚Ewigkeiten‘ gesagt, sondern eine bestimmte Zahl, aber die hatte Nikolai sich nicht gemerkt. Wenn er sich Zahlen merken wollte, bliebe kein Platz für wichtige Sachen: Wie er die Schuhe richtig anzog, wie er das Gewehr nachlud, wie er den Wind beim Zielen bestimmte, wie er ein Tier richtig häutete. Zahlen waren nicht wichtig. Glaubte Nikolai.

„Ach komm, gib einfach zu, dass du Unsinn erzählt hast, dann haben wir’s hinter uns.“ Konstantin riss den Kopf nach oben, setzte sich auf und drehte Nikolai den Rücken zu.

„Ich kann das.“

„Mann, bist du stur!“

„Du gibst zu schnell nach! Dir fehlt die Geduld, Konstantin, darum ist dir auch das Reh letztens weggelaufen.“

Uns ist es weggelaufen. Ich hatte das Gewehr, du das Fernrohr. Du solltest mir sagen, ob ich höher zielen muss.“

„Und du hast dann nicht abgewartet, sondern zu früh geschossen.“

„Du hast dir zu lange Zeit gelassen. Ich musste schießen, sonst wäre es sowieso weggelaufen!“

„Ein Reh läuft nicht weg, wenn man es nicht stört.“

„Doch, wenn es nämlich nichts zu essen findet und ihm langweilig ist.“

„Ach, so wie du grade? Soll ich dir ein Brot schmieren?“

„Du sollst….Aaach!“ Darauf fiel Konstantin nichts ein. Worte waren noch nie seine Stärke gewesen. Er drehte sich zur Wand um und tat so, als wolle er schlafen. Nikolai fiel nicht auf sein Schmierentheater herein. Sein Bruder war ein klassischer Bauchschläfer. Und Konstantin war nach allem doch neugierig geworden. Er wollte wissen, ob Nikolai es schaffen würde.

Konstantin wollte immer etwas tun, aber Nikolai hatte schon früh gelernt, wie wichtig es war, zu warten. Zu Beobachten. Nichts zu tun. Dieses Mal hatte es nicht funktioniert. Ohne das Reh war ihr Abendessen mickrig ausgefallen: Brühe und Brot von letzter Woche. Ihr Vater hatte natürlich noch mehr, doch das war fest verschlossen in der Speisekammer. Immerhin hatte er sich selbst auch mit dem kümmerlichen Essen zufrieden gegeben. Nikolai war sauer auf seinen Bruder gewesen. Dabei war er selbst nicht immun gegen Langeweile. Als er genug Brühe gelöffelt hatte, um den Hunger zu bändigen, hatte er sich dem Besteck zugewandt. Er hatte die Gabel auf dem Tisch hin- und hergeschoben, den Löffel mit dem Finger gedreht. Der Ruf seines Vaters, am Essenstisch nicht zu spielen, hatte ihn unterbrochen. Trotzdem hatte sich der Löffel noch für einen Moment weiter gedreht. Glaubte Nikolai.

Das Grummeln seines Magens riss ihn aus seinen Gedanken. Konstantin hatte es auch gehört.

„Mann, ich hab Hungeeeer“, beschwerte sich sein Bruder.

„Vom Jammern wird es nicht besser“, sagte Nikolai.

„Das ist alles deine Schuld! Wenn du nicht so lange gewartet hättest!“

„Nicht schon wieder.“

„Doch, schon wieder. Bis du mir was Anständiges zu Essen besorgst!“

„Hältst du dann die Klappe?“

„Klar. Dann kau ich ja.“ Konstantin kicherte. Das ging bei ihm als Scherz durch. Nikolai löste sich aus dem Schneidersitz, griff hinter sein Bett und holte die Kiste hervor, in der er immer eine Notration versteckte. Er nahm den Deckel ab und zeigte Konstantin den Inhalt. Seine Augen glänzten.

„Ist das, ist das etwa…?“

„Genau.“

„Gewürzkuchen?“

„Wonach sieht’s denn aus?“

Konstantin war nicht mehr zu stoppen. Er riss den halben Kuchen aus der Kiste und fing an, ihn gierig hinunter zu schlingen. Sein Bruder verschluckte sich, ließ alles auf den Boden fallen und griff panisch nach dem Glas Wasser auf seinem Nachttisch. Wie ein Verdurstender kippte er sich das ganze Glas in den Rachen und legte sich dann auf den Bauch vor sein Bett, um die Kuchenstückchen vom Boden zu schlecken.

Nikolai sah mit einem Kopfschütteln zu und brach sich selbst ein Stück von dem Gewürzkuchen ab. Er war trockener und bröckelte furchtbar, aber er schmeckte immer noch wunderbar. Sein Vater hatte ihn selbst gemacht. „Ein Mann muss wissen, wie er sich mit Nahrung versorgt“, sagte er immer. Ein Mann musste offenbar viel wissen. In diesem Fall wusste es Nikolai. Obwohl sein Vater sich das anders vorstellte. Glaubte Nikolai.

Als er sich noch ein Stück Kuchen holen wollte, griff er ins Leere. Er hatte gedankenverloren tatsächlich alles aufgegessen. Konstantin war längst fertig. Der rülpste laut und verteilte damit noch mehr Krümel auf seinem Schlafanzug. Sein Bruder hatte sich das größere Stück genommen und bisher hatten sie immer so ungleich geteilt. So war es jedem immer recht gewesen. Doch jetzt wünschte sich Nikolai noch einen Nachschlag. Es half nichts. Er legte die Kiste beiseite und nutzte die Stille aus, um sich wieder zu konzentrieren. Der Löffel lag immer noch auf Nikolais Nachttisch, den er zwischen ihre Betten geschoben hatte. Das Besteck hatte sich nicht bewegt. Nikolai erkannte das an der Maserung: Eine besonders lange, dunkle Linie im Holz traf genau auf die Spitze des Löffels und trat am anderen Ende wieder aus, als ob ein Blitz hinein schlagen würde.

Sein Magen war ruhig, sein Kopf war klar. Nikolai begann, langsam zu atmen, wie er es gelernt hatte. Ein. Aus. „Wer schnell atmet, schießt schnell daneben.“ Ein. Aus. „Langsamer, Nikolai, langsamer. Jeder Atemzug ist eine Störung. Je weniger, desto besser.“ Ein. Aus. „Starr wie die Tanne, unsichtbar wie der Wind, kalt wie der Winter. So kommst du an deine Beute heran.“ Ein. Aus. „Brich keine Zweige ab, meide den Schnee, pass auf, wo du hintrittst. Damit es so aussieht, als seist du nie dagewesen.“ Ein. Aus. „Dein Bruder trifft besser. Aber wenn er ein lebendiges Ziel hat, muss er wissen, wann er schießen soll. Dafür braucht er dich, Nikolai.“ Ein. Aus. „Keine Widerrede. Alleine seid ihr nichts. Zusammen seid ihr eine Einheit. Eine Einheit siegt. Der eine stirbt. Je eher ihr das begreift, desto besser.“ Ein. Aus. „Nimm das Fernglas, Nikolai. Hör auf deinen Bruder, Konstantin. Und denkt dran, wenn ihr nichts mit zurück bringt, gibt’s auch nichts zum Abendessen.“

Ein. Aus. Der Schnee. Der Wind. Der Wald. Wir sind eins mit ihm. Die Kälte beißt uns ins Gesicht. Ich brauche eine Weile, um zu verstehen, dass ich nicht nur spüre, wie meine eigenen Wangen brennen. Ich spüre Konstantins auch. Ich sehe, was er sieht. Höre, was er hört. Unsere Herzen schlagen synchron. Ba-dum. Ba-dum. Ich sehe in seine Augen. Er sieht in meine. Ich weiß es. Wir wissen es. Die Beute ist nah. Wir legen uns auf den Boden, eine flüssige Bewegung. Nicht einmal der Schnee knirscht unter uns. Ba-dum. Ba-dum. Er legt das Gewehr an, das Fernrohr halte ich. Ba-dum. Ba-dum. Dort steht das Reh, schnüffelt, scharrt, sucht nach einem Büschel Gras. Ba-dum. Ba-dum. Er hat es im Visier. Ba-dum. Einen Moment noch. Ba-dum. Der Wind lässt nach. Ba-dum. Das Tier ist zu unruhig. Ba-dum. Es reckt den Hals nach oben. Ba-dum. Jetzt. Ba-dum-Ba-dum. Schieß! Ba-dum-Ba-dum. Schieß! Ba-dum-Ba-dum-Ba-dum. Schieß! Ba-dum-Ba-dum-Ba-dum-Ba-dum. Nun schieß endlich! Ba-dum-Ba-dum-Ba-dum- Ba-dum-Ba-dum-Ba-dum-Ba-dum-Ba-dum-Ba-dum.

Warum hat er nicht geschossen? Er konnte mich doch hören. Ich wusste, was er vorhatte. Und er wusste, was ich vorhatte.

Glaubte ich.

Nun verstand er.

Nikolai riss die Augen auf und starrte auf das, was sich vor ihm abspielte.

„Konstantin!“ Diesmal war die Stimme nicht in seinem Kopf. Sie kam aus seiner Kehle. „Konstantiiiin!“

„Was denn?“

„Mach die Augen auf! Schnell!“

„Ach komm, schlafen wir endlich.“

„Jetzt kuck halt!“

„So toll kann das doch nicht sein!“

„Doch!“ Endlich öffnete sein Bruder die Augen.

„Leck mich am Arsch!“

„Siehst du das? Ich meine, das passiert grade, oder? Ich bilde mir das nicht ein?“

„Wie machst du das?“

„Keine Ahnung.“

„Wie geht denn das?“

„Keine Ahnung. Aber ich kann das.“

Konstantin war sprachlos. Nikolai hielt seine Gedanken fest auf den Löffel gerichtet. Dieser drehte sich, schwirrte, glänzte matt im Licht der Nachttischlampe. Nichts Besonderes. An dem Löffel war nichts Besonderes. Bis auf eins: Nikolais Finger berührte das Besteck nicht. Und zwischen dem Löffel und dem Nachttisch waren gute zehn Zentimeter. Zehn Zentimeter leere Luft. Aber Zahlen waren nicht wichtig. Die Schwerkraft war nicht wichtig. Was andere sagten, war nicht wichtig. Was sie dachten, war nicht wichtig. Was ein Mann wusste, war wichtig. Was er konnte, noch wichtiger. Wusste Nikolai.

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