von Lydia Wünsch
„Als sie ihn abholten, hat sie ihm seine Lieblingssachen heraus gesucht.“ Immer wieder hörte Aldo die Stimme seiner Frau Theresa. Heute Morgen beim Frühstück hatte sie ihm erzählt, dass Fredos Frau ihm sein blau-kariertes Hemd und seine beige Hose von Carlo Colucci hergerichtet hatte, als Fredo vom Bestattungsinstitut abgeholt wurde. Seitdem hörte Aldo diesen Satz wieder und wieder in seinem Inneren.
Als würde Fredo einfach nur ganz normal zur Arbeit gehen; so hatte seine Frau ihm wie jeden Morgen seine Sachen heraus gelegt. Aldo selbst hatte ihn oft in genau diesen Klamotten gesehen, wenn sie sich an einem der Autoplätze trafen. Die Traurigkeit, die Aldo bei diesen Worten überkam, begleitete ihn, als er tagsüber seine üblichen Runden drehte, um nach einem passenden Wagen für seinen eigenen Gebrauchtwagenhandel Ausschau zu halten. Sie begleitete ihn, als er mittags bei seiner Mutter Spaghetti aß und das alte Schwarz-Weiß-Foto aus seiner Kindheit betrachtete. Es war das einzige Bild, das in dieser Zeit von seiner Familie gemacht wurde. Seine Mutter saß in der Mitte und hatte seinen jüngsten Bruder Michele auf dem Schoß. Dahinter standen aufgereiht nach Größe und Alter, sein ältester Bruder Giovanni, er selbst und Tino – der eigentlich Sabatino heißt – sein jüngerer Bruder. Rechts neben der Mutter stand die kleine Rosella, seine Schwester. Der Vater war nicht auf dem Bild zu sehen. Aldo konnte sich nicht einmal daran erinnern, wo sein Papà an diesem Tag gewesen ist.
Selbst als Aldo später mit seiner eigenen Familie zu Abend aß, konnte er sich kaum darauf konzentrieren, was seine Frau sagte, oder seine Kinder machten. Noch nicht einmal das Essen schmeckte er so richtig. Mechanisch führte er die Gabel zum Mund, ohne sich auch nur annähernd auf die einzelnen Geschmacksnuancen konzentrieren zu können. Das fehlende Salz auf den Tagliatelle störte ihn heute nicht. Immerzu dachte er an diesen Satz: „Als sie ihn abholten, hat sie ihm seine Lieblingssachen heraus gelegt.“ Wenigsten hatte er seine Lieblingssachen an. Von Carlo Colucci. Nicht einmal von Armani. Aber was bedeutete das schon? Fredo bestimmt nichts mehr. Er war ja tot. Mit 40 Jahren gestorben. Aldo war im selben Alter. Beide Autohändler. Wie die meisten Italiener, die als Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Sie waren entweder Autohändler oder Pizzabäcker. Autohändler war definitiv die bessere Variante. Aber reich ist Fredo trotzdem nicht geworden. Das hatte er nicht geschafft. Vielmehr hielt er sich gerade so über Wasser. Manchmal wollte er, dass Aldo ein Auto von ihm kaufte, aber Fredos Autos waren zweitklassig. Aldo handelte nur mir Erste-Klasse-Wagen. Fredo hat ihm leid getan, aber sollte er aus Mitleid einen Wagen bei ihm kaufen? Und dann Gefahr laufen, Verluste zu machen? Vielleicht sogar wieder arm zu werden? Dafür war er nicht aus Italien weggegangen. Er wollte nicht arm sterben, so wie Fredo, der mit seinen Sache von Carlo Colucci begraben wurde.
Sein üblicher Ausflug in die Bar konnte Aldo in dieser Nacht keine Ruhe verschaffen. Und als er mit seiner derzeitigen Geliebten Mirella schlief, hatte er nur diesen einen Gedanken im Kopf: ‚Was bedeutet es, arm zu sterben?‘
Als er gegen fünf Uhr morgens seine Wohnung betrat, ging er, wie immer, zunächst ins Kinderzimmer. In den zwei Hochbetten lagen sein sechsjähriger Sohn und seine achtjährige Tochter. Wie jede Nacht sah er zuerst in ihr Zimmer bevor er sich selbst schlafen legte. Der kleine Pippo schlief ruhig und atmete gleichmäßig. Als Aldo näher trat, konnte er seinen Duft in sich einsaugen. Er roch immer noch wie ein kleines Baby. Aldo streichelte seinen goldenen Kopf und küsste das verschwitzte Haar. Dann schob er das kleine, braungebrannte Kinderfüsschen unter die Decke, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Er drehte sich zum Bett seiner Tochter Carmelina um: „Papà?“, hörte er sie leise flüstern.
„Was bist du denn um die Zeit wach, Carmelli?“, flüsterte Aldo als er näher trat. „Du weckst ja noch deinen Bruder auf. Komm, schlaf wieder …“
„Babbo, ich habe Durst“, wisperte sie schlaftrunken.
Aldo ging in die Küche und holte ein Glas Wasser. Als er zurück kam, schien Carmelina wieder eingeschlafen zu sein. Er wollte gerade das Wasser auf ihrem Nachttisch abstellen, als er ihre kleine Hand fühlte, die nach ihm griff.
„Hm … Durscht … Papà“, murmelte sie.
Aldo half ihr, sich aufzusetzen und hielt ihr das Glas unter die Nase. Er hörte ihr lautes Glucksen beim Trinken. Zwischendurch holte sie immer wieder tief Luft und trank dann gierig weiter, als wäre sie am Verdursten gewesen.
„Danach muss du aber gleich weiter schlafen“, sagte Aldo während er ihr über das lange Haar fuhr. Sie und Pippo hatten beide goldbraunes Haar, obwohl das von ihm und seiner Frau dunkelbraun war. ‚Woher sie das wohl haben?‘, fragte er sich.
„Du hast mich doch geweckt“, sagte Carmelina und sah ihn vorwurfsvoll an. Mit einem Mal schien sie hellwach zu sein. „Du weckst mich immer, wenn du nachts heim kommst.“
Aldo nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es auf den Nachttisch. „Irgendwann bekommst du ein Pony“, murmelte er, während er sie zudeckte. „Das verspreche ich dir. Wenn du in der Schule brav bist und weiter so fleißig lernst …“
„Ja, ja“, sagte Carmelina trotzig und drehte sich weg.
„Was heißt hier: Ja, ja?“, fragte Aldo verwundert. „Mama hat mir erzählt, wie gut du in der Schule bist und eines Tages bekommst du deine Belohnung dafür. Ein Island-Pony direkt aus Island. Wie du es dir immer gewünscht hast.“
„Das versprichst du mir schon lange …“, gähnte Carmelina. „Ich glaube dir eh nicht mehr und jetzt lass mich endlich schlafen …“
Als Aldo aus dem Zimmer trat, schüttelte er unwillkürlich den Kopf. ‚Dieses Kind. Jetzt schon klüger als ich.‘ Auf dem Weg zum Schlafzimmer wurde er wieder traurig. ‚Armer Fredo. Wie schlimm muss es sein, arm zu sterben? Hoffentlich passiert mir das nicht‘, dachte er und streichelte über seine Armani Jacke.