Leseprobe Roman: Rosies Wunderkind

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von Lydia Wünsch

PROLOG

Es war ein wolkenloser Tag im Juli, als Rosie Almanzo verlor. Einer dieser Tage, an denen die Sonnenstrahlen einen wie eine schützende Decke umhüllten. Almanzo war gerade fünf Jahre alt geworden und begleitete seine Mama wie üblich zum Einkaufen. Doch an diesem Tag langweilte er
sich. Rosie wollte sich beeilen, damit sie nachher noch in das nahe gelegene Schwimmbad gehen konnten. Doch mit Almanzo war Beeilung gerade nicht möglich. Gedankenverloren schlenderte er zwischen den Regalen umher und streifte dabei die Mehltüten mit der Schulter. Rosie sah es
schon kommen. Nicht mehr lange und und irgendetwas würde herunterfallen oder zu Bruch gehen.
Der Supermarkt befand sich in einer überdachten Einkaufspassage, wie sie in den Siebzigerjahren häufig zusammen mit den neuen Hochhaussiedlungen in der Umgebung von München entstanden waren. Gleich gegenüber war ein Schreibwarenladen mit allerlei Krimskrams: Süßigkeiten, Zeitschriften und Spielsachen. Almanzo liebte es, in diesem Laden zu stöbern. Rosie schlug ihm vor, er könne in den Schreibwarenladen gehen und sich die Sachen ansehen.
»Aber du bleibst dort, bis ich komme und dich abhole. Nicht woanders hinlaufen«, ermahnte sie Almanzo noch, bevor er vergnügt davonlief.
Rosie dachte daran, dass sie ihm eine Kleinigkeit kaufen würde, wenn sie ihn wieder abholte. Mit Sicherheit würde er irgendwelche coolen Monstertrucks finden, die in seiner Sammlung noch fehlten. Als Rosie jedoch nach dem Einkauf zum Schreibwarenladen kam, war weit und breit kein Almanzo zu sehen. Rosie erinnerte sich bis heute an das Gefühl der Panik, das in ihr aufstieg, während sie mit ihren prallen Einkaufstüten durch die engen Gänge des Schreibwarenladens lief und nach Almanzo rief. Sie spürte, wie die Angst sie binnen einer Sekunde innerlich zusammensacken ließ.
»Haben Sie einen kleinen Jungen hier gesehen? Fünf Jahre alt, hellbraunes Haar und in einer kurzen gelben Hose?«
Die Kassiererin schüttelte bedauernd den Kopf. Ohne nachzudenken machte Rosie auf dem Absatz kehrt und rannte zurück in den Supermarkt. Was für eine dumme Idee das doch gewesen war, ihn alleine zu lassen. Wie bin ich nur darauf gekommen?, schimpfte sie mit sich selbst. Im Supermarkt rannte sie durch jeden Gang und rief wieder nach Almanzo. Dass die Leute sie anstarrten, war
ihr völlig egal. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wo sollte sie als Nächstes suchen? Oder sofort die Polizei rufen? Sie war schon kurz davor, irgendwen anzusprechen, er möge ihr gefälligst helfen, ihr Kind zu finden, als sie an die Kasse kam. Dort stand Almanzo mit einem Einkaufswagen voller Süßigkeiten. Die Kassiererin erklärte ihm gerade, dass er Geld brauchen würde, um seine Einkäufe mitzunehmen, und fragte, ob er denn schon Taschengeld bekomme.
In dem Moment sah Almanzo seine Mama. Erfreut über diese glückliche Fügung der Dinge rief er:

»Mamaaaaa, ich brauche Tassengeld!«


EIN NORMALER TAG

Wie sehr Rosie dieses Knistern hasst. Jeden Morgen hört sie es aus dem Lautsprecher über dem Tisch, bevor die Stimme ertönt: »Es ist vier Uhr fünfundvierzig, aufstehen«, um diejenigen Insassinnen zu wecken, die in der Bäckerei des Frauengefängnisses arbeiten. Jeden Morgen macht das Knistern Rosie erneut bewusst, wo sie sich befindet. Nur noch eine Minute, denkt sie und räkelt sich in ihrem Bett. Durch das Fenster dringen bereits die ersten Strahlen der Junisonne und kitzeln in ihrer Nase, obwohl es erst kurz vor fünf ist. Aber Rosie steht schließlich freiwillig so früh auf, um ihrer Arbeit in der Bäckerei nachzugehen. Sie schielt mit halb offenen Augen zum Fenster und stellt fest, dass heute ein schöner Tag werden wird. Einer dieser Tage, an denen die Atmosphäre draußen erfüllt ist von Kinderlachen und dem Duft nach Sonnencreme. Freilich kann sie sich das hier im Gefängnis nur vorstellen. Leise macht sich eine Erinnerung in ihr breit. Hatte es nicht früher in
ihrem Magen gekribbelt, wenn sie sich auf den bevorstehenden Tag freute? Ein kurzes Aufflackern dieser Lebensfreude spürt sie jetzt, ganz zaghaft. Bei dem Gedanken an den morgigen Tag und die bevorstehende Entlassung aus dem Gefängnis wechseln sich Freude und Angst in Rosie so schnell ab wie das Aufprallen eines Balls bei einem Tischtennisspiel. Und dabei ist der Juni eigentlich ein guter Monat, um entlassen zu werden, denkt Rosie nun, während sie sich noch ein letztes Mal genüsslich im Bett ausstreckt. Und überhaupt: Macht es wirklich einen Unterschied, ob man
draußen oder drinnen ist? Das Leben findet doch sowieso immer nur dort statt, wo sie ist.
Sie steht endlich auf und stellt den Wasserkocher an, um sich ihren Muckefuck aufzubrühen. Zwei Teelöffel Kaffeepulver, zwei Teelöffel Zucker. Während das Wasser im Kocher heiß wird, sieht sie sich in ihrer fünfzehn Quadratmeter großen Zelle um. Ein Bett, ein Tisch, ein Schrank, ein
Waschbecken und eine Toilette. Ein geöffneter Rollkoffer am Fußende des Bettes, genau unter dem Waschbecken. Das ist der einzige Platz, den Rosie in der kleinen Zelle dafür gefunden hat. Die meisten Sachen sind bereits gepackt. Rosie bereitet sich gerne gründlich auf alles vor. Vor allem,
wenn es um große Veränderungen in ihrem Leben geht. Sie ist zufrieden mit ihrem Werk. Alles im Griff, bis hierhin, denkt sie. Das Knacken des Schalters am Wasserkocher reißt sie aus ihren Gedanken. Sie gießt das heiße Wasser in die Tasse und beobachtet, wie das Pulver des löslichen Kaffees aufschäumt. Dann gibt sie einen Schuss Milch hinzu und rührt die braune Brühe um. Mit der dampfenden Tasse in der Hand schlurft sie zu dem kleinen Zellenfenster, das den Blick auf den Innenhof des Frauengefängnisses freigibt. Viel gibt es nicht zu sehen. Ein blauer Himmel. Eine grüne Wiese. Ein Baum. Überwachungskameras. Aber immerhin. Vielleicht würde sie später ein bisschen im Hof spazieren gehen. Rosie nimmt einen ersten Schluck von dem viel zu heißen Kaffee. Wie immer zu schnell, sodass sie das Brennen auf der Zunge gar nicht wahrnimmt und es sich
stattdessen sofort in ihrer Kehle ausbreitet. Wie Nadelstiche, die nun langsam die Speiseröhre hinunterwandern, bis sie sich im Inneren ihres Magens auflösen. Jedes Mal nimmt es ihr für einen Moment den Atem. Das ist wirklich das größte Problem an dem Möchtegernkaffee. Man muss ihn heiß trinken können oder warten. Dann lieber heiß. Auch wenn es sie jedes Mal fast von innen verbrennt. Rosie muss dabei an ihre Schwiegermutter, Carmella Pasqualino, denken. Carmella hatte ihr einmal erzählt, wie sie als Kind in Italien immer mit der ganzen Familie aus einem großen
Topf gegessen hatte. Fünf Geschwister und die Eltern, da musste man schnell sein. Wer das Essen nicht heiß vertilgen konnte, hatte eben Pech gehabt. Rosie denkt gerne an ihre Schwiegermutter. Eine einfache italienische Frau, die hart arbeiten konnte und stets einen bitteren Zug um den Mund hatte, obwohl sie im Grunde kein unzufriedener Mensch war. Ernüchtert vielleicht. Für ihre Kinder hat sie alles getan. Darum zog sie schon früh mit ihrer Familie nach Deutschland, um ihnen eine bessere Zukunft zu ermöglichen, als es in dem süditalienischen Bergdorf jemals möglich gewesen wäre. Das ständige Heimweh, das die ganze Familie seither mit sich trug, nahm man eben in Kauf.
Rosie hatte lange nur das Bild ihrer eigenen Mutter im Kopf gehabt – und wie sie ihre Gefühle in Alkohol ertränkte. Wenn Carmella Pasqualino hingegen etwas bedrückte, jammerte und weinte sie lauthals. Sie rief dann Gott und Jesus und alle Engel im Himmel um Hilfe an, während sie ihre Hände wehklagend in die Höhe riss. Ein seltsames Verhalten, fand Rosie am Anfang. Viel zu melodramatisch. Beschämt hatte Rosie weggeschaut, wenn ihre Schwiegermutter sich so benahm. Aber Carmella brauchte wenigstens keinen Alkohol, um mit dem Leben fertig zu werden.
Erst sehr viel später hatte Rosie das begriffen. Genauso wie sie irgendwann anfing, die eigenartig bellenden Laute der fremden Sprache zu verstehen. Je mehr sie verstand, desto inniger liebte sie ihre neue italienische Familie, die sich zwar lauthals streiten konnte, aber sich genauso leidenschaftlich gegen den Rest der Welt verteidigte. Das Einschnappen des schweren Schlosses lässt Rosie zusammenzucken. Sie dreht sich zur Zellentür um, die gerade aufgesperrt wird.
»Wenn Sie dann so weit sind«, sagt die Vollzugsbeamtin, die von den Insassinnen nur »Wachtel« genannt wird. Sie geht weiter, ohne eine Antwort abzuwarten.
»Ja, gleich«, murmelt Rosie. Sie schlurft zum Waschbecken am Ende des Bettes, wobei sie mit dem Fuß gegen den Koffer stößt. »Wenn Sie dann so weit sind«, brummt Rosie genervt, während sie spürt, wie ihr großer Zeh pocht. Sie versucht, durch den Schmerz durchzuatmen, wie sie es von Frau Dr. Engelbert gelernt hat, und schmiert Zahnpasta auf die Zahnbürste. Als ob es für irgendwen eine Rolle spielt, ob ich so weit bin? Das hatte es für den Beamten auch nicht getan, als das Urteil gefallen war. Dreieinhalb Jahre Gefängnis. »Wenn Sie dann so weit sind …«, hatte der Sicherheitsbeamte gesagt und dabei freundlich geklungen. Sehr höflich. Fast entschuldigend hatte er ihr die Handschellen hingehalten. So ein Blödsinn, denkt Rosie, während sie sich die Zähne putzt. Ich wäre doch auch so mit ihm mitgegangen. Was wäre ihr in diesem Moment auch anderes übrig geblieben? Sie muss immer wieder an Tonis Blick denken, als sie in Untersuchungshaft kam. »Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich um alles«, hatte er gesagt. Überhaupt war er klasse zum Schluss, hat sie regelmäßig besucht. Ihr Geld und Kleidung geschickt. Alles nur freundschaftlich
natürlich. Da gibt es ja immer noch Sabine. Sabine mit den blonden gelockten Haaren und den rosigen Wangen. Sabine, die immer eine Duftwolke hinter sich herzieht. Na, Hauptsache, er ist zufrieden, denkt Rosie. Im Gefängnis hat sie Gelassenheit gelernt. Was da draußen los ist, geht sie
momentan nichts an. Und es tut gut loszulassen. Irgendwie befreiend. Schon witzig, dass ich es als befreiend empfinde, eingesperrt zu sein, denkt sie belustigt. Aber was, wenn ich morgen entlassen werde? Bin ich schon so weit?
Rosie spukt den Zahnpastaschaum in das Waschbecken. Sie dreht den Hahn auf und lässt das eiskalte Wasser erst über ihre Handgelenke laufen, bevor sie sich damit über das Gesicht fährt. Das Wasser prickelt auf der Haut, wieder fühlt es sich an wie kleine Nadelstiche. Aber Schmerz ist immer noch besser, als gar nichts zu spüren. Außerdem macht es Rosie endgültig wach. Jetzt ist erst einmal die Arbeit dran, denkt sie entschlossen. Heute ist noch ein normaler Tag.
Gemeinsam mit den anderen neun Frauen und der Vollzugsbeamtin verlässt Rosie wenig später ihren Trakt, B24. Die Bäckerei der Justizvollzugsanstalt befindet sich im Erdgeschoss. Dort sind auch die Essensausgabe, ein etwas größerer Aufenthaltsraum mit Küche, Fernseher und Bücherschrank sowie der kleine Gefängnisladen, der alle vierzehn Tage aufgesperrt wird. Viel geredet wird nicht, während die kleine Gruppe den dunklen Gang zur Backstube entlanggeht. Nur das grelle Neonlicht an der Decke flackert ab und zu, während die Schritte der Frauen durch
den Gang hallen.
An diesem Tag müssen die zehn Frauen Brot für das ganze Gefängnis backen. An einem massiven Tisch kneten sie den Teig und wirken ihn rund, damit er aufgeht. Es ist ein billiges Mischbrot, das für die Insassinnen der Justizvollzugsanstalt zubereitet wird. Kuchen und andere Süßigkeiten, die sie in der Bäckerei herstellen, werden in eine kleine Filiale außerhalb des Gefängnisses gebracht und dort verkauft. Nur das Brot bleibt für die Gefangenen übrig. Es ist genauso wenig schmackhaft wie der Rest des Essens, das in großen Töpfen zubereitet wird und immer irgendwie nach Urin riecht.
»Nix gut geschlaff«, sagt Francesca zu Rosie und bindet sich ihre schwarzen Locken zu einem Zopf, bevor sie mit dem Kneten beginnt. Sie ist klein und zierlich, so wie viele Italienerinnen, die Rosie kennt. Ihre honigfarbene Haut hat im Laufe der Zeit einen fahlen Ton angenommen. Francesca ist schon seit sieben Jahren im Gefängnis. Weitere acht warten auf sie. Verurteilt zu lebenslänglicher Haft wegen Mordes an ihrem Ehemann. In der Nacht, als er schlief, soll sie ihn erschossen haben, während ihre drei kleinen Jungs im Zimmer nebenan von wilden Abenteuern als Seeräuber und Superhelden träumten.
»Das ich war nix, das Mafia war«, hatte Francesca Rosie einmal erzählt. Wobei sie das Wort Mafia beim ersten Mal gar nicht aussprach. Sie sagte »Cosca« und legte dabei den Finger auf den Mund. Erst als Rosie nachfragte, murmelte sie widerwillig die bedrohlichen Silben, als hätte sie ein
Stück heiße Kohle im Mund. Es war das einzige Mal, dass sie darüber sprachen. Ob diese Geschichte stimmt, weiß Rosie bis heute nicht. Hier im Gefängnis ist es schwer, die Wahrheit herauszufinden. Jede Insassin erzählt ihre eigene Version der Geschehnisse. Letztlich weiß nur jede Frau selbst, was wirklich passiert ist.
Manchmal sprechen die beiden auf Italienisch miteinander. Das ist immer dann der Fall, wenn Francesca über die anderen Insassinnen lästert oder wenn sie Rosie kichernd etwas über ihre heimliche Affäre mit dem verschwitzten Pfarrer, Karl-Gustav Meschenmoser, verrät. Davon abgesehen gibt es hier keine echten Freundschaften. Wenn zwei Frauen sich etwas enger zusammentun, kracht es kurz danach zwischen den beiden. Und sie gehen wieder getrennte Wege. Das ist wie ein Gefängnisgesetz. Dann werden nur noch wütende Blicke auf den Gängen ausgetauscht. In Gruppen schließt man sich zusammen, um zu tuscheln. Und hin und wieder fallen Bemerkungen, die nur die beiden Widersacherinnen zu verstehen scheinen. Bleiben Frauen zu lange unter sich, dann können sie zu einem boshaften Haufen voller Missgunst und Lügen verschmelzen, denkt Rosie.
Auch über Rosie gibt es zahlreiche Gerüchte. Aber das ist ihr egal. Hier im Gefängnis steht Francesca ihr am nächsten. Das liegt vielleicht zum größten Teil daran, dass Francesca an Rosie hängt, wie die Handschellen an den Gürteln der Vollzugsbeamten. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Rosie keine besonderen Forderungen an Francesca stellt. Sie kann einfach in ihrer Nähe sein, ohne viel reden zu müssen. Rosie hat schon lange aufgehört, von anderen Menschen irgendetwas zu erwarten. Sie weiß selbst nicht genau, wann das passiert ist. Vielleicht hat es schon angefangen, als Almanzo zur Welt kam und der wichtigste Mensch in ihrem Leben wurde. Mit Almanzo änderte sich sowieso alles. An dem Tag seiner Geburt lernte Rosie ein Gefühl kennen, das viel gewaltiger war, als sie es bislang gekannt hatte. Ihr wurde klar, dass von nun an nichts mehr so sein würde wie vorher. Nie mehr würde Rosie sich selbst genügen. Nie mehr zufrieden sein, wenn das Kind in ihrem Arm es nicht war. Almanzo: ihr kleiner Pirat. Ihr Wunderkind.
Bei dem Gedanken an Almanzo presst Rosie den klebrigen Teig für das Mischbrot so fest zusammen, dass er zwischen ihren Fingern hervorquillt. Für einen Moment schließt sie die Augen und spürt das vertraute Ziehen zwischen ihren Schläfen. Die Erinnerungen an ihn kommen immer scheinbar aus dem Nichts und treffen sie dann mit einer solchen Wucht, dass es ihr sämtliche Lebensenergie aus dem Körper zieht. Rosie atmet tief durch und fühlt den kalten Teig zwischen ihren Fingern, solange bis das wuchtige Gefühl etwas leichter wird. Als sie die Augen öffnet, sieht die Aufseherin sie aufmerksam an. Rosie räuspert sich verlegen und löst den klebrigen Teig von ihren Händen. Dann nimmt sie etwas Mehl und beginnt von Neuem zu kneten.


Rosies Verteidiger wollte auf unzurechnungsfähig plädieren, aber das Gutachten der Rechtspsychologin ergab, dass Rosie genau wusste, was sie tat. Darum kam sie ins. Gefängnis und nicht in eine psychiatrische Einrichtung. Ein Glücksfall, wie sich im Nachhinein herausstellte. Die
Routine und Einfachheit des Gefängnisses waren die beste Therapie gewesen, die sie je bekommen hatte. Hier gab es kaum Wahlmöglichkeiten. So wusste Rosie, dass sie zu jeder Tageszeit genau das Richtige tat. Es gab nichts, das sie hätte verpassen können. Kein Vergnügen, das hinter der nächsten Ecke wartete, aber auch kein Bedauern über verpasste Gelegenheiten. Hier musste Rosie nichts erleben, nichts schaffen, es wurde nicht von ihr erwartet, dass sie sich über etwas freute oder positiv gestimmt war. Es gab auch kein Rasen und kein Hetzen, nur die immer gleichen Tätigkeiten. Aufstehen. Essen. Arbeiten. Duschen. Abends im Bett noch ein Buch lesen oder Fernsehen. Eintönig und trostlos, mögen manche glauben.
Doch nicht für einen Menschen, der nichts mehr zu finden scheint, das ihm Freude bereiten kann. Erstaunlicherweise war es gerade der einfache Rhythmus im Gefängnis, der Rosie Stück für Stück zurück ins Leben geholt hatte, als würde die starre Routine das Chaos in ihrem Inneren aufräumen. Die Langsamkeit, mit der hier alles geschah, gab ihr die Möglichkeit, sich selbst wieder zu spüren. Rosie hatte endlich genug Zeit, sich in ihren Träumereien zu verlieren, die sie als Kind so oft hatte und sich als Erwachsene abgewöhnte.
Doch nach einiger Zeit kamen die quälenden Gedanken zurück. An die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft. Alles prasselte gleichzeitig auf sie ein und drohte, sie zu erdrücken. In dieser Zeit weinte Rosie viel. Sie fing sogar an, Bücher mit Titeln wie »Selbstliebe für Anfänger« zu lesen, sie besuchte die Sonntagsmesse bei dem verschwitzten Meschenmoser und versuchte zum ersten Mal in ihrem Leben zu beten.
Und dann, irgendwann wenige Monate vor Beendigung ihrer Haftstrafe, kehrte wieder Ruhe ein. Um sie herum wurde es plötzlich ganz still. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie es sich anfühlte, allein in ihrer stillen Zelle zu sein. Nachmittags, wenn sie von der Arbeit kam, oder abends, wenn um achtzehn Uhr alle Zellentüren verschlossen wurden. Und sie begann, sich auf diese Zeiten zu freuen. Dann machte sie sich einen Pfefferminztee, gab einen Schuss Milch hinzu und setzte sich vor das Fenster, um den einzigen Baum zu betrachten, der sich im Innenhof befand. Oder sie legte sich ins Bett, streckte ihre Beine nach oben aus und wackelte mit den Füßen, während sie eingehend die graue Betondecke nach möglichen Unebenheiten absuchte. Manchmal machte sie dabei auch Dehnübungen, die ihr wieder von der Rückbildungsgymnastik einfielen. Beine strecken, Füße flexen, strecken, flexen, strecken. Sie versuchte, mit ihren Händen bis zu den Füßen zu kommen, aber der Schmerz, den sie dabei im unteren Rücken spürte, ließ sie erschrocken nach oben fahren. Sie probierte es wieder, diesmal etwas sanfter und freute sich bald an der Übung
und den Fortschritten, die sie machte. Irgendwann konnte sie sogar mit den Fingerspitzen ihre Zehen umfassen und spürte dabei nur noch ein angenehmes Ziehen im Rücken.
Es war einer dieser Abende voller Stille, als sie zum ersten Mal Frau Dr. Engelberts Stimme hörte. Rosie saß gerade in ihrer Zelle und suchte konzentriert ihre Haarsträhnen nach Spliss ab. Zunächst war es nur ein leises Wispern. Erschrocken hatte Rosie sich umgesehen, doch außer ihr war keiner im Raum. Also widmete sie sich wieder ihren Haarsträhnen. Erst als das Wispern lauter wurde, ging sie auf die Suche nach einer möglichen Quelle. Sie legte ihr Ohr an die schwere Eisentür und lauschte, aber die Geräusche schienen auch nicht von draußen zu kommen, weder von der knisternden Sprechanlage noch von den Wärterinnen, die in regelmäßigen Zeitabständen ihre Kontrollgänge machten. Es dauerte eine ganze Weile, bis Rosie klar wurde, dass die Stimme aus ihrem eigenen Inneren kommen musste. Sie hatte ihre innere Stimme so lange nicht mehr
wahrgenommen, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie sich anhören würde. Dass sie ausgerechnet den warmen, aber immer professionellen Tonfall ihrer früheren Therapeutin haben könnte, erstaunte sie. Sie legte sich auf das Bett und schloss die Augen. Geduldig wartete sie, bis sie wieder zu hören sein würde. Aber jetzt dauerte es eine Zeit lang, bis Frau Dr. Engelbert sich wieder meldete.
»Da sind Sie ja«, war das Erste, das Rosie verstand.
»Schön, Sie zu sehen. Wir sollten es bei Gelegenheit mal
wieder mit dem Wutkissen probieren. Was meinen Sie?«
Rosie wusste nicht, ob man einer inneren Stimme in Gestalt einer Therapeutin antwortete, also sagte sie zunächst nichts. Erst als mit der Stimme auch die Bilder von Frau Dr. Engelberts schmalem Gesicht mit den aufmerksamen braunen Augen auftauchten, versuchte Rosie es mit einer Antwort.
»Lieber nicht das Wutkissen«, sagte sie zu ihr und freute sich über ihre eigene Entschlusskraft. »Ich würde lieber reden.«
Frau Dr. Engelbert nickte, und Rosie begann. Zögerlich und wirr anfangs, dann immer klarer. Sie versah ihre Erzählungen mit immer mehr Details und schmückte sie aus. Manchmal so sehr, dass sie sich gar nicht mehr sicher war, ob sie noch die Wahrheit erzählte und Frau Dr. Engelbert ein verzerrtes Bild von ihrer Geschichte bekam. Dann ging Rosie gedanklich ein paar Schritte zurück und versuchte, sich besser zu erinnern. Sie probierte eine neue Perspektive aus, verwarf die alten Gedanken oder schob sie nur beiseite, um sie an anderer Stelle wieder einzufügen, bis die Geschichte irgendwann komplett vor Rosie lag, wie ein Roman, der nur in ihrem Inneren existierte. Sie spürte, dass es jetzt nichts mehr hinzuzufügen gab. Sie hatte den letzten Punkt gesetzt und war nun zufrieden und wehmütig zugleich. Der Prozess des Erzählens war intensiv gewesen. Manchmal hatte sie gelacht, oft hatte es geschmerzt, aber es war befreiend. Und jetzt, da es vorbei war, wusste Rosie gar nicht mehr, wie sie alleine mit der Stille auskommen sollte. Und so blätterte sie von Zeit zu Zeit in der fertigen Geschichte in ihrem Kopf und las Frau Dr. Engelbert Auszüge daraus vor.
Heute, am Tag vor ihrer Entlassung, ist Frau Dr. Engelbert stiller als sonst. Aufmerksam beobachtet sie Rosie, während diese ihrer Arbeit in der Bäckerei nachgeht und um halb zwölf mit Francesca im Pausenraum zu Mittag isst. Als Rosie noch regelmäßig zu Frau Dr. Engelbert in die Praxis kam, hatte sie das immer sehr nervös gemacht, aber mit den durchdringenden Blicken der imaginären Frau Dr. Engelbert kommt Rosie gut klar. Sie weiß mittlerweile, dass die Therapeutin das tut, um herauszufinden, wie es Rosie gerade geht. Das ist heute besonders wichtig. Denn ab morgen wird sich alles ändern. Rosies ganze Routine wird empfindlich gestört werden. Dann kommt die rücksichtslose Realität zurück, die sich kaltschnäuzig zwischen Rosie und ihre Stille schieben wird. Und Frau Dr. Engelbert möchte sichergehen, dass Rosie darauf vorbereitet ist. Je weiter dieser letzte Tag fortschreitet, desto weniger kann Rosie verhindern, dass die Gedanken sich zurück in
ihr Inneres schieben und die Vergangenheit wieder vor ihr auftaucht, wie ein Film auf einer übergroßen Leinwand. Es ist der Film ihres eigenen Lebens, und sie kann sich noch nicht entscheiden, ob sie ihn mag.


EINE TÜR, DIE MAN HINTER SICH SCHLIESSEN KANN


Mittags nach der Arbeit geht Rosie wie immer zuerst unter die Dusche, um die Mischung aus Schweiß und Mehl abzuwaschen. Bis zum Abend um achtzehn Uhr dürfen sich die Insassinnen nun frei auf ihrem Stockwerk bewegen, um zu duschen, ihre Wäsche zu waschen oder sich in der Gemeinschaftsküche etwas zu kochen. Fast fühlt es sich wie ein normales Leben an, das nun auf wenige Quadratmeter reduziert ist.
Die anderen Bäckerinnen haben den Duschraum bereits verlassen, nur Rosie bleibt noch einen Moment länger unter dem warmen Wasserstahl. Sie schließt die Augen und sieht wieder Frau Dr. Engelbert vor sich, die sich den Vormittag über im hintersten Winkel ihrer Wahrnehmung versteckt gehalten hat.
»Wollen Sie jetzt darüber sprechen?«, fragt Frau Dr. Engelbert. Rosie schüttelt den Kopf so heftig, dass das Wasser aus ihren langen Haaren nach allen Seiten spritzt und die Tropfen an den Glaswänden der Duschkabine noch einen Moment verzweifelt hängen bleiben, bevor sie hinabfallen.
»Noch nicht«, flüstert Rosie, und Frau Dr. Engelbert nickt.
»Sie können mir auch ein anderes Kapitel aus Ihrer Geschichte erzählen.«
Rosie dreht den Wasserhahn ab und steigt aus der Dusche. Während sie sich ein Handtuch umwickelt, blätterte sie in Gedanken die Seiten ihres inneren Buches durch. Sie sieht in den beschlagenen Spiegel und nickt ihrem schemenhaft erkennbaren Bild darin zu. Sie hat sich für ein Kapitel entschieden. Vielleicht, weil es ihr zeitlich passend scheint, für einen sonnigen Junimorgen wie heute. Rosie war achtzehn Jahre alt und erst kürzlich von zu Hause ausgezogen. Sie saß auf dem Fensterbrett ihrer kleinen Mietwohnung im Münchner Norden und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen …

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