von Annika Kemmeter
Die Schatten verschwammen mit der Dunkelheit des Watts. Sönke kniff seine Augen zusammen: Ja, doch, da waren Menschen. Sie winkten, winkten in alle Richtungen, vermutlich um Hilfe. Er war vor dem Zubettgehen noch mal aufs Rad gestiegen, um den Hühnern seiner Tante Ingrid den Wassertrog zu füllen. Sie tat es schon seit zwei Jahren nicht mehr selbst, seit sie der Schlag getroffen hatte.
Vorsichtig wuchtete er die Wassereimer von seinem Lenker und stellte sie neben seinem Fahrrad ab. Die Wattwanderer waren auf der ganz falschen Seite der Hallig. Hinter ihnen bildete sich schon ein tiefer Fluss, der sich bald in endloses Meer verwandeln würde. Vor ihnen lag das Schleusenbecken. Es sah aus wie normales, samtenes Watt, tatsächlich aber war es Schlick, in dem sie einfach versinken würden, Schlick ohne Untergrund. Aus seiner Fahrradtasche, die hinten an seinem Rad befestigt war, holte er sein Fernrohr. Er hatte es immer dabei, um Vögel zu beobachten oder um Piraten aufzuspüren. Durch das Rohr erkannte er, dass es vier winkende Menschen waren. Sie ruderten seitwärts mit den Armen, als wären sie mit den Beinen schon versunken. Sönke fischte in der Tasche nach seinem Walkie-Talkie. Dabei fiel sein Blick auf seine Schuhe. Seine Schuhbänder hatten sich schon wieder geöffnet. Seufzend bückte er sich, um sie zu binden. Einmal, als er noch mit seinen Eltern auf dem Festland gewohnt hatte, hatten sich die Bänder beider Schuhe um die Pedale gewickelt und er war, mit den Füßen ans Rad gefesselt, gegen ein Auto geknallt. Ungelenk mit dem Fahrrad verkeilt, hatte er auf der Seite gelegen, unfähig, sich aus der Lage zu befreien.
Sönke zog die Schleife fest und nahm das Walkie-Talkie wieder in die Hand. Er drückte den Knopf an der Seite. „Roger. Mayday. Hören Sie? Over. Roger. Was gibt’s? Ende. Wattwanderer vor Süd-West-Oland. Versinken im Schlick. Over. Roger. Alpha. Schicke Nothubschrauber. Sollte in drei Minuten dort sein. Ende. Over and out.“ Sönke legte Fernrohr und Walkie-Talkie zurück in die Tasche, hievte die Eimer an seine Lenkstange und trat in die Pedale. Er fuhr so schnell er konnte. Er fuhr im Stehen. Die Eimer schwenkten seinen Lenker, der Wind umbrauste seine Ohren. Kuhweide, Schafweide, Kuhweide, dann rechts! Boooooog, booooooog, begrüßten ihn seine aufgeregten Fans. Er füllte den Hühnern den Trog. Dann setzte er sich. Aufmerksam lauschten sie seiner heutigen Gutenachtgeschichte, Heldentat 23 des berühmten Nothubschraubers Sönke the Kid. Er liebte es, windgeschützt vor dem Hühnerhäuschen zu sitzen, die Sterne hinter Wolkentürmen versinken und wieder auftauchen zu sehen und seine Geschichten zu erzählen. Ohne diese Geschichten, da war er sicher, schliefen die Hühner schlecht.
Meisterhaft verschwiegen, was eigentlich passiert ist 🙂 Super!
Over and out.
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