Das Gesetz der Natur

von Victoria Grader

Pamiuq zog sich die Schnüre seiner fellbesetzten Kapuze fest um den Kopf.
Die Kälte traf ihn nur im Gesicht. Seine Handschuhe und auch seine Stiefel waren gefüttert und schützten ihn vor dem brennenden Eis. Der Mond war hell genug um sich wortlos zu verständigen. Er gab Unalaq und Anuun ein Zeichen, damit sie die Schlitten befestigten. Er wusste, was zu tun war. Schon einige Male hatte er die Älteren bei der Jagd begleitet. Sein Vater Malik hatte Wale erlegt, sie in Stücke geteilt und schon oft den ganzen Stamm vor dem Hunger bewahrt. Der Sohn war zwar weder so groß oder stark wie sein Vater, doch hatte ihn dieser seit der frühen Kindheit unterrichtet. Das Gesetz der Natur war von je her das einzig gültige Gesetz der Inuit gewesen. Nun war es für Pamiuq, Unalaq und Anuun so weit zu beweisen, dass sie es verstanden hatten. Sie sollten auf die Suche nach Nanuq gehen, dem großen Wanderer, der darüber urteilt welcher Jäger ein guter und welcher ein schlechter ist. Erst wenn sie die Prüfung bestanden hatten, durften sie für den Stamm jagen. Doch wie die Prüfung genau ablaufen würde, hatte ihnen keiner erklärt.

Die Jungen gaben den Hunden den Befehl zu warten.
Für diese wichtige Lektion hatte jeder seinen eigenen Schlitten mitgebracht und die Tamaskan-Hunde mit den Eltern ausgewählt. Pamiuq hatten vier Stück genügt, Unalaq hingegen hatte acht gewollt, weil die Anzahl der Hunde den Reichtum des Besitzers widerspiegelte. Anuun war der Letzte, der es fertigbrachte, seine Hunde gefügig zu machen. Sie standen immer wieder auf und jaulten, als er sich von ihnen entfernen wollte. Er hatte ein sanftes Wesen und war den Hunden eher Freund als Herr. Als Besänftigung hatte er getrocknetes Robbenfleisch dabei, welches er schon jetzt verfüttern wollte.
„Komm schon!“ drängelte Unalaq. „Deine blöden Hunde brauchen keine Belohnung, wenn sie dir gehorchen. Du hättest lieber mal deine Peitsche mitgebracht!“
Pamiuq seufzte und sah zum Mond.
Als Anuun aufgeholt hatte, sagte er: „Ich habe immer noch nicht ganz verstanden, nach was wir jetzt eigentlich Ausschau halten. Könnten wir nicht einfach umdrehen und behaupten, wir hätten Nanuqs Geist gefunden?“
Pamiuq lächelte.
„Die Tradition besagt, dass wir erst jagen dürfen, wenn wir die Prüfung bestanden haben.“
Er nickte Anuun freundlich zu, damit es ihm Mut machte.
„Und die Prüfung bestehen wir nur, wenn wir mit massig Beute zurückkommen. Ist doch klar!“, wusste Unalaq.
Pamiuq schüttelte den Kopf.
„Wir müssen uns nach dem Mond richten. Er führt uns zum Nanuq.“
Unalaq gefiel Pamiuqs mangelnder Kampfgeist nicht, aber er widersprach nicht, weil dies auch die Anweisung der Älteren war.

Als sie eine Weile auf den Mond zugelaufen waren, bis sogar die Schlitten außer Sichtweite gerieten, ergriff Anuun wieder das Wort.
„Manchmal denke ich, dass die alten Traditionen uns nirgendwo hinführen.“
Er wand den Kopf, schien die unendliche weiße Steppe in sich aufzusaugen und machte Anstalten stehenzubleiben.
„Komm schon!“, sagte Pamiuq. „Lass dich führen, der Mond wird dich nicht verraten.“

Nach einer weiteren Stunde des Fußmarsches wurde Unalaq unruhig.
„Wenn wir uns vom Wasser wegbewegen, dann werden wir gar nichts fangen!“
Weder Pamiuq noch Anuun sagten ein Wort. Sie marschierten vorwärts. Anuun war der Weg durch die leere Eiswüste lieber als am Wasser ein Tier zu töten, Pamiuq dagegen wollte einfach nicht vom Weg abkommen.

Bald entdeckten sie gewaltige Eisschollen in der Ferne.
„Da kommen wir nicht drüber!“ murrte Unalaq. „Darauf hast du jetzt aber keine kluge Antwort, oder?“ Pamiuq schritt seelenruhig voran.
Plötzlich drang ein gewaltiges Grollen an ihre Ohren.
„Donner?“ fragte Anuun.
Doch Pamiuq hatte längst erkannt, dass sich nur einige hundert Meter entfernt ein Eisbär auf sie zu bewegte. Sie mussten ihn anfänglich für einen Teil der Schollen gehalten haben, als er sich noch nicht bewegte. Andernfalls war er einfach so aus dem Nichts erschienen.
„Lasst uns warten, bis er weg ist.“ Pamiuq spitzte die Ohren und ging in die Hocke.
Anuun tat es ihm gleich, doch Unalaq stand die Begeisterung ins Gesicht geschrieben.
„Ihr feigen Dummköpfe!“ sagte er und warf den Beiden einen abschätzigen Blick zu.
„Bewegt euch! Los!“ Er begann das Gewehr zu laden. „Der entkommt mir nicht! Was meint ihr, wie wir empfangen werden, wenn wir einen Eisbären erlegen!“ Seine Augen leuchteten.
„Heute Nacht werden wir zu Helden! Wir gehen als größte Jäger von ganz Nunavut in die Geschichte ein.“
Schon jetzt war seine Brust vor Stolz geschwollen, der Entschluss stand ihm ins Gesicht geschrieben. Pamiuq wusste, dass es falsch war.
„Das Gesetz der Natur verbietet uns zu nehmen, was wir nicht brauchen. Es verbietet uns aus Gier zu schlachten, oder aus Mordlust zu töten.“ Anuun nickte, um Pamiuqs Worte zu bestätigen. Er sah gequält aus.
„Na gut! Dann erlege ich ihn eben allein. Ich komme mit dem Schlitten zurück und werde ihn holen. Dann kann ich allen erzählen, wie ihr ängstlich hinter mir gezittert habt!“, sprach er und lief auf den Bären zu. Umso näher er ihm kam, desto deutlicher wurde, wie klein und machtlos er gegen das Geschöpf war. Der Eisbär war kein normales Exemplar. Sein Schädel war gewaltig, fast so groß wie ein Schlitten. Anuun kniff die Augen zusammen, als der erste Schuss fiel. Pamiuq konnte nicht erkennen, ob Unalaq getroffen hatte. Mehrere Schüsse fielen und der Bär antwortete mit einem markerschütternden Brüllen. Dann setzte er sich in Bewegung. Er würde den Jungen mit Leichtigkeit zerfleischen. Unalaqs Mut hatte sich in Luft aufgelöst: Er rannte, als ob es kein Morgen gäbe.
Auch Pamiuq und Anuun traten die Flucht an.

Nach ein paar Minuten hatte der Eisbär von ihnen abgelassen. Es war erstaunlich, dass er sie nicht weiter verfolgte. Hatte Unalaq den Bären verfehlt?
„Ich habe ihm direkt in die Schulter geschossen“, erzählte dieser außer Atem, als sie zum Stehen kamen. Die klirrende Kälte brannte in ihren Lungen, der Schweiß wurde auf ihren Körpern zu Frost. Pamiuq und Anuun waren beschämt über Unalaqs Waghalsigkeit und sprachen auf dem Weg zurück kein Wort mehr mit ihm. Er kümmerte sich nicht darum. Ab und zu sagte er etwas wie: „Aber nächstes Mal, da bekomme ich ihn. Da krieg ich ihn. Gut für ihn, dass meine Anhänger zu feige waren, um mit mir zu kämpfen.“

Als sie von weitem die Umrisse der Schlitten sahen, fiel Anuun eine Last von den Schultern. Ihm war es egal, ob er die Prüfung zum Jäger bestanden hatte.
Pamiuq nahm es nicht so leicht. Er hätte seinem Vater gern von der Begegnung mit dem großen Wanderer erzählt. Trotzdem war es besser heimzukehren, als vom Bären gerissen zu werden. Als er sich das vor Augen hielt, verspürte er mehr Erleichterung als Kummer und war dankbar für sein Leben.

Sie kamen Näher und stockten. Alle acht Hunde, die Unalaq ausgesucht hatte, lagen vor seinem Schlitten. Keiner bewegte sich. Auch nicht als Unalaq pfiff. Dann begann er, heftig zu fluchen.
Wie konnte das sein? Kein Tropfen Blut war im Schnee zu sehen und die anderen Hunde waren unversehrt. Als er nach seinen toten Hunden trat, traf Pamiuq die Erkenntnis.
„Der Nanuq ist eine wandernde Seele und nimmt seinen Körper immer nur für eine Vollmondnacht an“, hatte sein Vater Malik gesagt. „Jede Hülle kann er sich zu eigen machen. Er ist der Herrscher über jedes Lebewesen in Nunavut.“
Pamiuq sah Unalaq lange an. Dann Anuun.
Der grelle Klang seiner Stimme war wie ein Schnitt in die Kälte.
„Du hast… dem Nanuq… in die Schulter geschossen.“
Unalaq blieb stumm. Er hob seinen Kopf, starrte in den Himmel. Der Mond strahlte Heller als zuvor. Wahrscheinlich hatte er es jetzt endlich auch verstanden.

 

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