Leseprobe: Die letzte Flaschenpost

aus dem Debütroman von Annika Kemmeter

Als ich mir meinen Weg durch die Bar bahnte, in der Menschen lachten, redeten, tranken, war mir dieser Ort in seinem gewohnt schummrigen Licht, mit seinen gewohnt exotischen Gerüchen und der dumpfen Musik, die die Stimmen untermalte, plötzlich fremd. Dinge fielen mir auf, die ich sonst nie gesehen hatte. Die asymmetrische Form der Lampen, die gemusterte Decke, der Bodenbelag. Auf dem hintersten Sofa, das direkt unter einer auffälligen Konstruktion rostiger Stahlstäbe stand, die sich wie eine Schuppenflechte von der Wand auf die Decke ausbreitete, ließ ich mich nieder.
»Ein großes Wasser bitte.«
Ich brauchte einen klaren Verstand. Das Wasser war kühl, das Glas mit Schweißperlen benetzt. Die Funken der Kohlesäure sprühten auf der Oberfläche, sprudelten die Kühle auf. Aber im Gehirn kam das Wasser nicht an. Es half nicht. Gedanken kreisten durch meinen Kopf wie Herbstblätter in einem Wasserstrudel. Bevor ich einen von ihnen zu fassen bekam, das Bild von Angelinas traurigem Gesicht, von Otto Maaßen, der auf der Bühne lachte, oder Professor Finkenhorn, der sein Gesicht nachdenklich hin- und herwiegte, wurde er schon vom nächsten überholt, nur um mit dem übernächsten zu verschwimmen, ohne Kontur, ohne Grenze, ein Farbstrudel. Frederik, mein äußerst strukturierter Mitbewohner, würde pragmatisch an die Sache herangehen. Mit einem Netz alle Blätter aus dem Strudel bergen, nebeneinander zum Trocknen in die Sonne legen, dann einzeln studieren. Mir fehlte das Netz. Vielleicht war ich es auch selbst, der sich in dem Strudel verfangen hatte, dem Strudel, der manchmal entsteht, kurz bevor sich ein Fluss gabelt. Würden die Flussarme wieder zusammenführen? War es egal, welche Seite ich wählte? Konnte ich, wenn meine Wahl sich als die Falsche erwies, ans Ufer schwimmen und per Anhalter zum anderen Arm fahren? Ich glaubte, das war der Grund, weshalb Angelinas Anruf mich so kalt erwischt hatte: weil er eine Frage aufwarf, die essenzieller war als nur die Entscheidung zwischen einer zweisamen Trauerfeier und einer zukunftsweisenden Univeranstaltung. Eine Frage, die mich im Innersten traf. Aber wie sollte ich meine Entscheidung treffen, wenn ich nur das Ziel, nicht aber die Landschaft kannte? Wenn es keine Landkarten gab? Und warum gaben wir uns überhaupt so viel Mühe, alles genau zu planen, wenn das Schicksal, der Zufall oder sonst ein größerer Wille uns doch immer dazwischenfunkte? Können wir überhaupt darüber bestimmen, wer wir sind und was wir tun? Ich versuchte, mich zusammenzureißen. Blatt für Blatt, sagte ich zu mir selbst: Das Doktorandenkolleg…

In meinem Zimmer lagen Kopien verstreut von verschiedenen Handout-Versionen für das Referat. Es war gut. Es behandelte die Frage, inwieweit das Material die Kunst beeinflusste. Michelangelo sah bekanntlich in jedem Stein schon die zukünftige Statue. Um sie freizulegen, klopfte er alles Überflüssige weg. Das lässt sich übertragen, dachte ich: Wir haben Fähigkeiten, Erfahrungen, Talente. Was uns behindert oder in die falsche Richtung führt, müssen wir wegklopfen, um zum Vorschein zu bringen, wofür wir gedacht sind. Ich nahm einen weiteren Schluck von dem kalten Wasser. Aber wofür bin ich gedacht? Und von wem überhaupt? Ich starrte auf die Tür, an der ein Türsteher Pärchen und Gruppen einließ. Ich allein war ohne Begleitung hier. Rechts knickte der Barkeeper ein Stück Zitronenschale über einen Cocktail. Winzige Tropfen zerstäubten über dem Glas und gaben dem Getränk das perfekte Aroma. Mein Wasser war halb leer. Frederik ließ auf sich warten. Michelangelo hatte offensichtlich keine Probleme damit gehabt, sich für eine Figur zu entscheiden. Was, wenn ich an der falschen Stelle klopfte? Dinge abschlug, die später wichtig gewesen wären, nun aber zertrümmert am Boden lagen? Endlich kam Frederik. Auf seinen langen dünnen Beinen stakste er durch die Bar.
»Geburtstagskind! Was machst du für Sachen?«
»Danke, dass du gekommen bist.«
»Was ist das? Trinkst du Wasser?« Er setzte sich mir gegenüber.
»Einen Gin Tonic«, sagte Frederik zum Kellner. Er trank immer Gin Tonic. »Also, Janis«, wandte er sich mir zu, »was willst du so dringend besprechen, dass ich deine Geburtstagsparty verlassen musste?«
»Du kannst gleich weiterfeiern. Aber ich brauche dich und zwar nur dich. Es ist wichtig und … delikat.« Frederik richtete sich auf. Ich atmete tief ein. Ich hatte Angelina das Versprechen gegeben, mit niemandem darüber zu reden. Und ich hatte das schlechte Gefühl, dass sie nicht verstehen würde, warum ich es trotzdem tat. »Es geht um Angelina.«
»So viel habe ich mir schon gedacht«, sagte Frederik trocken.
»Sie hat eben angerufen.« Ich machte eine Pause. »Es ist wirklich … vertraulich. Streng geheim. Deshalb musstest du herkommen. Und deshalb auch allein.«
Frederik lehnte sich vor und schob seine Brille zurecht.
»Sie hat einen Anruf bekommen. Ihr Großvater ist tot.«
Frederiks Augen weiteten sich. »Was?«
»Frederik – das bleibt unter uns!«
Er nickte. »Bleibt es«, sagte er.
»Kein Wort zu Lulu«, beharrte ich. Frederik und Lulu erzählten sich alles. Sie waren eines von jenen Paaren, die auf beängstigende Weise zu einer Person verschmolzen. Wie die beiden Liebenden, die sich in Gustav Klimts berühmten »Kuss« von Goldschein umfangen zu einer einzigen Figur vereinen. Mir hatte die Vorstellung, zu einer Einheit zu verschmelzen, immer einen Schauder über den Rücken gejagt. Bis vor Kurzem.
»Also«, Frederik zögerte. »Mein Beileid, Janis.« Er sah mich mitleidig an. Und verwirrt. »Wie ist das so schnell …«
»Die Sache ist die: Niemand darf von dem Tod erfahren. Das muss unter allen Umständen geheim bleiben. Es gibt nicht mal eine Leiche.«
»Das klingt nach einem Mord.«
»Ich weiß. Ist es aber nicht. Vertrau mir, ich bin da schon eine Weile eingeweiht.«
Frederik runzelte die Stirn. »Wenn du meinst … Und was ist dann das Problem?«
»Angelina will, dass ich komme. Sie ist ganz allein. Und wenn ich ganz allein sage, meine ich: Sie hat niemanden. Nur mich. Sie denkt an eine private Trauerfeier für Maaßen.«
Frederik spielte mit seinem Glas. Er machte den Eindruck, als würde ihm nun einiges klar werden.
»Eine Trauerfeier«, sagte er schließlich, »ohne Leiche? Ohne Angehörige, Freunde, Pfarrer?«
»Ja, ich weiß. Außerdem ist an dem Wochenende das Doktorandenkolleg. Das ist eine einmalige Chance für mich.«
»Unpraktisch. Hätte Maaßen das gewusst, wäre er vielleicht erst nach dem Wochenende gestorben.«
Ich antwortete nicht. Frederiks makabre Art ging mir auf die Nerven.
»Und dann ist da noch die Sache mit Maaßens Flaschenposten…«, sagte ich schließlich.
»Maaßens was?«, fragte Frederik. Wenn ich ihm schon von seinem Tod erzählt habe, dachte ich, kann ich ihm auch von den Flaschenposten erzählen. Es war jetzt sowieso egal. Die erste war ja aufgetaucht. Also fasste ich die Situation kurz für ihn zusammen.
»Anscheinend gibt es einen ersten Finder. Ich überlege mir, ob ich irgendwie an sie rankommen kann«, endete ich.
Bestürzt sah er mich an. Es war schön, Frederik sprachlos zu erleben. Das geschah nicht oft.
»Gerade jetzt wurde eine von Maaßens Flaschenposten gefunden?«, fragte er. »Woher weißt du das?«
»Flaschenpostfreunde.de. Auf dem Weg hierher war ich auf der Seite. Eine Flaschenpostfinderin aus Basel hat sich gemeldet. Mit Foto. Es ist eindeutig eine von Maaßens Flaschenposten.« Ich merkte, dass ich den Bierdeckel zerbröselte, und legte ihn auf den wackeligen Tisch.
»Nett. Ein Geburtstagsgeschenk vom Schicksal!«
»Oder ein Abschiedsgeschenk von Maaßen.«
Ich nahm einen Schluck von Frederiks Gin Tonic, was Frederik nicht weiter kommentierte.
»Ist Maaßen heute gestorben? An deinem Geburtstag?«
»Ich nehme es mal an.«
»Er hatte wirklich ein schlechtes Timing. Gott hab ihn selig.« Er grinste. Ein Schmerz zog durch meine Bauchgegend. »Frederik! Er war wirklich …« Was war er für mich? So was wie ein Idol, vielleicht.
»Tut mir leid.« Frederik winkte den Kellner zu uns: »Einen Whiskey Sour für meinen Freund!« Dann wandte er sich wieder mir zu. »Also die Frage ist?«
»Die Frage ist, ob ich zu Angelina fahren soll. Das Kolleg hinschmeißen, aber dafür die Flaschenpost suchen und der Frau abkaufen. Aber dann verpasse ich das Kolleg, die Chance mein Referat zu halten und Professor Finkenhorn zu überzeugen, mich einzustellen. Professor Finkenhorn würde das bestimmt ziemlich irritieren. Nach seinem Einsatz. Er würde denken, ich wäre undankbar, oder noch schlimmer: unzuverlässig.«
»Du willst die Flaschenpost kaufen?«
»Ja. Ich. Wir. Keine Ahnung.«
»Warum?«
»Weißt du, was sie wert ist?«
»Ne. Keine Ahnung. Was ist sie wert?«
Der Kellner brachte mein Glas. Als er weg war, wiederholte Frederik seine Frage.
»Viel. Genau weiß ich es auch nicht, aber es ist ein Original und … ach, vergiss es! Außerdem: Was, wenn die Finderin das Gedicht wegwirft? Das wäre ungeheuerlich! Jedenfalls …«, fuhr ich fort, »Angelina hat mich gebeten, sofort zu ihr zu fahren.«
»Und jetzt willst du von mir wissen, was du machen sollst?«
»Ja.«
»Janis, soll ich dir was sagen?«
Ich nickte, bereit zu hören, was ich nicht hören wollte.
»Du hast die Entscheidung schon getroffen!«
Ich warf ihm einen genervten Blick zu. Natürlich hatte er recht. Und doch wollte ich, dass es eine andere Lösung gab. Eine, mit der ich alles unter einen Hut bekäme. Eine Versicherung, dass die beiden Flussgabelungen, an deren Scheidepunkt ich mich gerade befand, wieder zusammenführen würden. Ich wollte zu Angelina, ich musste es sogar. Ich hatte Maaßen versprochen, für sie da zu sein. Aber ich sah nicht ein, dass ich nur eine Entscheidung treffen konnte. Das Bild, das mein Vater mir dazu erklärt hatte, war fest verankert: Ich, wie ich mit Pfeil und Bogen das Ziel treffe: die Entscheidung. Und schon damals hatte ich mich dagegen gewehrt, meinen Kindheitshelden Robin Hood angeführt, der Pfeile so schnell schoss, dass er zwei Zielscheiben zugleich treffen konnte. Das hieße vielleicht, Professor Finkenhorn zu erzählen, dass ich im Besitz des letzten Gedichtes von Otto Maaßen war. Er wäre im höchsten Grad beeindruckt. Das würde mein unentschuldbares Fehlen wettmachen. Wenn aber öffentlich wurde, dass Maaßen ein neues Projekt hatte, würde man nachforschen und vielleicht herausfinden, dass er tot war. Es kam also nicht infrage. Noch nicht. Eines Tages vielleicht? Scheiße! Verschiedene Entscheidungen treffen zu wollen, die sich widersprachen, hieß sich gar nicht zu entscheiden. Hieß, am Scheidepunkt stehen zu bleiben, auf Land aufzulaufen, den Fluss zu verlassen. Gar nichts zu erreichen. Stillstand. Ich schob den Haufen kleiner Fetzen, in die ich den Bierdeckel offenbar zerrissen hatte, zu einem Berg zusammen.
»Wann sollst du bei Angelina sein?«
»Am besten sofort.«
»Und wie lange sollst du bleiben?«
»Weiß ich nicht. Unbestimmt lange.«
»Dann nimm dir diesmal lieber ein paar Klamotten mit«, sagte Frederik trocken. Ich lachte auf bei der Erinnerung an meinen ersten Auftritt bei Maaßen, der nur unglaublich kurze vier Monate zurücklag.

Kapitel 1

Ich erinnere mich an das Gefühl, als Maaßen mich nach Lindau eingeladen hatte. Das Gefühl, ich könnte im Leben alles erreichen. Ich hatte das Jackett zugeknöpft, die Krawatte vom Bett genommen und Frederiks Zimmer betreten. »Krawatte ist übertrieben, oder? Oh! Sorry!«
Auf Frederiks Bett hatte Lulu gelegen. Allein und angezogen. Immerhin. Ihr blumiges Parfüm war in jeden Winkel von Frederiks Zimmer gekrochen und hätte mich eigentlich warnen können. Ich schloss die Tür, bevor sich der Duft im Flur ausbreiten und von der Wohnung Besitz ergreifen konnte. »Seit wann bist du hier?«
»Seit eben. Gut siehst du aus. Zum Anbeißen!« Sie lachte.
»Muss ich eifersüchtig werden?«, fragte Frederik, während er an seinem Schreibtisch saß und tippte. Wahrscheinlich programmierte er gerade etwas Geniales. Oder er evaluierte die Seebrücken-Demo, die er in Mainz mitorganisiert hatte.
»Gehst du auf ’ne Hochzeit?«, fragte Lulu.
»Vernissage. Auf Einladung von Otto Maaßen.«
»Otto wer? Ist das dieser Verfassungsschutztyp?« »Nein. Ein Dichter. Er hat … ach, vergiss es. Findest du es nicht zu eng an der Brust?«
»Warte, ist das Frederiks Anzug?«, fragte Lulu.
»Ja.«
»Wo ist deiner?«
»Ich habe keinen! Was meint ihr zur Krawatte? Ist overdressed für eine Vernissage, oder?«
Lulu neigte ihren Kopf. Dann nickte sie.
»Passabel siehst du aus«, sagte Frederik, der endlich vom Laptop aufsah. »Aber was machst du mit deinen Haaren?«
»Wieso? Ist doch gut so?«
Frederik lebte für sein Studium und für seine Vision von einer toleranten, umweltschützenden, friedlichen Gesellschaft. Dass er überhaupt wahrnahm, dass jemand Haare hatte, wunderte mich.
»Ansichtssache«, murmelte er.
»Lulu?«
»Kann man lassen. Sieht süß aus, so verstrubbelt und nimmt dem Anzug seine Ernsthaftigkeit.«
»Seinen Ernst«, verbesserte ich.
»Pedant!«
»Besser als Pedologe …« Ich fuhr durch meine Haare.
»Podologe meinst du wohl«, konterte Lulu.
»Podologe gibt’s nicht, Lulu.«
»Fertig!«, sagte Frederik und klappte seinen Laptop zu. Er setzte sich zu Lulu aufs Bett und erklärte: »Pedologie: Lehre vom Boden. Und Podologie: Heilkunde am Fuß. Und jetzt bitte ich um etwas Privatsphäre mit meiner Freundin, Janis. Viel Erfolg heute Abend!«
»Danke! Und danke für den Anzug!«
»Und bleib nicht zu lange weg! Zum Abendessen bist du wieder zu Hause!«, rief Lulu. Sie liebte diesen Scherz, in dem sie und Frederik sich als meine Eltern aufspielten. Ich lächelte. Mein Zug nach Lindau fuhr in zwanzig Minuten. Ich musste los.

Der Zug war voll. Nicht nur voller Menschen, auch voller Gerüche, Geräusche und Gepäck. Neben mir saß eine junge Frau. Der Geruch ihres Käsebrötchens vermischte sich mit dem von Zwiebeln, der von irgendwo weiter vorne zu uns strömte. Und die Gurte ihres riesigen Reiserucksacks pendelten bei jeder kleinen Kurve über meinem Kopf hin und her. Auf ihrem Schoß hatte sie einen kleineren Rucksack und vor sich einen Beutel. Ich streckte genüsslich meine Beine aus. Ich reiste ohne Gepäck. Der vollgestopfte Zug bestätigte mich wieder einmal in meiner Einstellung: Gepäck war Ballast. Eine Unterhose und ein Paar Socken steckten mit meinem Handy und meinem Portemonnaie in meinen Jackentaschen. Unter der Jacke trug ich Frederiks Anzug, den ich morgen auf der Rückreise wieder tragen würde. Ich setzte Kopfhörer auf, um das Dröhnen der Bahn durch meine Playlist abzulösen. Ich freute mich auf das Treffen. Mein Professor hatte mir den Tipp gegeben, Maaßen zu recherchieren. Das war nur eine Woche her. Ich hatte schon von ihm gehört, aber Maaßen war Dichter und kein bildender Künstler.
»Trotzdem«, hatte Professor Finkenhorn gesagt. »Er passt genau in Ihr Untersuchungsfeld, Herr Schütz.« Als ich am Gehen war, hatte Professor Finkenhorn noch geraunt: »Schauen Sie über Ihren Tellerrand.«

Die Luft in Lindau kroch kalt und feucht unter meine Kleidung. Eine Winterblässe lag auf der Stadt, deren einzige Farbtupfer türkisfarbene Kleinbusse waren, die die Menschen zu ihren Zielen fuhren. Während der Bus uns durch die Stadt transportierte, ging ich die Fragen durch, die ich Maaßen stellen wollte. Ich hatte viel von ihm gelesen, sowohl seine Lyrik als auch seine Poetik. Mit Gedichten konnte ich noch nie viel anfangen, aber er hatte sehr interessante Ansichten zur Kunst. Deshalb konnte ich es kaum erwarten, ihn kennenzulernen. Der Bus hielt unmittelbar vor meinem Ziel, einer unscheinbaren Galerie mitten in einem Wohnviertel. Unter den Leuten, von denen, wie ich etwas verunsichert bemerkte, keiner einen Anzug trug, erkannte ich Maaßen sofort.


… … …

Wir hatten über Banksy geredet. Maaßen hatte dessen Mut oder Abgebrühtheit bewundert, seine fertigen Werke zu zerstören, und nachher gesagt, ich hätte ihn auf eine Idee gebracht. War das die Idee? Sollte das letzte Werk des Lyrikers im Rhein versenkt werden? Und damit womöglich für alle Zeiten verschollen sein? Das war doch verrückt! Laut Angelina sollte es nur die Originale geben, und die würde Maaßen wegwerfen. Aber noch waren sie hier, hier irgendwo im Haus. Mit der leeren Flasche in der Hand schlich ich den Flur entlang zum Arbeitszimmer. Wie Totenköpfe saßen die Büsten auf den antiken Kommoden und beobachteten jede meiner Bewegungen. Die Tür ließ sich öffnen. Hier hatte ich die verstaubten Flaschen neben dem Schreibtisch gesehen. Ich betrat Maaßens Reich, sah mich um. Obwohl es dunkel war, konnte ich gleich erkennen, dass hier keine Flaschen mehr standen. Ich dachte nach, schlich zum Klimaschrank in der Küche, wo ich das Licht angelassen hatte. Auch dort waren sie nicht und konnten es auch nicht sein, weil sie von ihrer Form her nicht in die Mulden gepasst hätten. Ich hörte etwas im Haus knacken und hielt inne. Das Geräusch wiederholte sich nicht. Im Keller vielleicht? Neben der Treppe, die nach oben führte, gab es zwei Türen im Flur, von denen ich nicht wusste, wohin sie führten. Ich öffnete eine Tür und schrak zusammen. Die Tür quietschte schrill und erschien mir in der Dunkelheit und Stille der Nacht laut wie eine Vuvuzela. Ich lauschte wieder. Nichts rührte sich. Es war die Tür zur Abstellkammer, in der ich die schemenhaften Umrisse eines Staubsaugers erahnte. Die zweite Tür knarzte, war aber weniger laut. Sie führte zum Keller. Ich öffnete sie nur so weit wie nötig, fand einen Lichtschalter, der die Kellertreppe beleuchtete und schlich hinab. Die Flaschen lagen flach in einem Regal. Maaßen hatte eine Reihe mit dem Boden nach hinten nebeneinandergelegt und dann eine zweite Reihe mit dem Boden nach vorne, sodass sie versetzt und mit den Hälsen aneinander lagen. Die vordere Reihe war mit Wein gefüllt, aber die hintere war leer bis auf eine kleine Rolle, die in jeder Flasche steckte. Behutsam hob ich die erste Flaschenpost heraus. Ein Schraubverschluss verschloss sie, was mich enttäuschte. Ich hatte mit einem Korken gerechnet. Ich schüttelte die geöffnete Flasche kopfüber, bis die kleine Rolle herauskam. Sie war mit einem Band verschnürt. Ich öffnete es vorsichtig. Das Papier rollte sich etwas auf. Ich stellte die Flasche auf den Boden zu der, die Angelina geklaut hatte, und strich das Blatt glatt. Es war handschriftlich mit Tinte beschrieben. Ich kniff die Augen zusammen, um das Gedicht im Schatten lesen zu können.

Winde walzen weiße Massen
klirren eine Flasche
auch an Land
wartend, wünscht sie
deine Hand
die schimmernd nimmt
im Finderglück
die dich und mich
als Botin
aneinanderband

Ich sah mir das Gedicht lange an, bis das Schriftbild selbst zu einer stilisierten Welle wurde. Zur großen Welle vor Kanagawa. Hokusais berühmter Holzschnitt kam mir in den Sinn. Was nun? Der Wille des Künstlers war klar, aber bald würde er gestorben sein und das Gedicht in den Äther des Vergessens eingehen. Ich packte die anderen sechs Gedichte aus und legte sie nebeneinander auf das Regal. Dann nahm ich mein Handy aus der Hosentasche und fotografierte jedes einzelne. Was ich damit machen würde, konnte ich mir immer noch überlegen. Jetzt waren sie jedenfalls sicher.


Später, auf der Fahrt zu Angelina, würde ich mich fragen, welches der sieben Gedichte wir zuerst finden würden. Ich würde mich fragen, ob und wie wir an die Flaschenpost gelangen würden. Nicht nur aus Neugierde. Die Flaschenposten auf legitime Weise in Besitz zu nehmen, die Gedichte ohne schlechtes Gewissen lesen zu können, und sie dann in einer wissenschaftlichen Arbeit zu untersuchen – ohne Angelina den nächtlichen Ausflug gestehen zu müssen, schien mir wie ein überraschender Freispruch, als würde sich ein Verbrechen in Luft auflösen. Es war einer der wenigen erbauenden Gedanken auf meiner langen Fahrt nach Lindau.

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