Ein Gemeinschaftsroman von Alexander Wachter, Annika Kemmeter, Arina Molchan, Ina Maschner, Lydia Wünsch, Nina Lischke, Verena Ullmann und Victoria Grader.
Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog
Lydia
Lydia hatte bis jetzt zwei Mal mit einem Anwalt zu tun. Das erste Mal, als sie John mit Nacktfotos erpresst hatte, damit er seine Frau für sie verlässt. Damals hatte sie Briefe von seiner Anwältin bekommen. Und auch wenn sie nicht jedes Wort verstanden hatte, war sie so beeindruckt gewesen, dass sie die Fotos sofort gelöscht hatte. Ja, die Anwältin hatte sie mit nur ein paar Sätzen von der Erpresserin zur Erpressten gemacht. Vielleicht könnte Dr. Heinemann Aeneas ähnliche Konsequenzen androhen, wenn er ihr nicht sofort drei Millionen auf ihr Konto überweist. Dann wäre die Sache schnell erledigt, dachte sie. Sie fragte sich, ob Johns Frau auch einen Anwalt hat, der ihren Mann erpresst, bei ihr zu bleiben. Denn wie sie auf der Sommerspendengala festgestellt hatte, waren die beiden immer noch zusammen –und selbst in dem teuren Abendkleid hatte Johns Frau wirklich hässlich ausgesehen. Ihre Oberarme und Backen hatten im Wind richtig geflattert.
Das andere Mal hatte Lydia selbst einen Anwalt gebraucht, weil sie mit einem italienischen Juwelier zusammen gewesen war, dem man vorgeworfen hatte, Mitglied in einer kriminellen Vereinigung zu sein –was auch immer das heißen sollte. Lydia hatte davon natürlich gar nichts mitbekommen. Sie war die zwei gemeinsamen Jahre mit Sergio ganz auf das Gold und die Diamanten fixiert gewesen, die er ihr um den Hals legte. Und plötzlich sollte sie vor Gericht aussagen und wurde sogar selbst belastet. Lydia hatte das ganz aufregend gefunden. Ja, sie hatte sich gefühlt, wie bei diesen Gerichtsshows im Fernsehen, oder wie diese It-Girls in Hollywood, die man mit Alkohol am Steuer erwischt hatte. Sie hatte eine hochgeschlossene weiße Bluse und eine Gucci-Sonnenbrille getragen, die perfekte Kombination aus Unschuld und Glamour, und als sie zusammen mit ihrem Anwalt auf dem Weg zum Gerichtssaal war, hatte sie sogar jemand fotografiert. Natürlich war sie freigesprochen worden. Allerdings hatte man Sergio weggesperrt und einen Großteil des Schmucks beschlagnahmt.
Dr. jur. Heinemann, wie es auf seiner Visitenkarte stand, trug einen teuren Anzug und hatte so weiße Zähne, dass sie Lydia fast blendeten. Leider hatte er auch ein Bild von seiner Frau und seinen drei kleinen Kindern auf dem Schreibtisch stehen, was ihrem inszenierten Dekolletee jede Bedeutung nahm. Der Anwalt hatte wohl wenig Zeit, denn er sprach so schnell und ohne Pause, dass Lydia nur mit gerunzelter Stirn da saß und versuchte, die wenigen eingestreuten Fragen ohne zu große Verzögerung mit Ja oder Nein zu beantworten, um die nächsten drei Sätze nicht zu verpassen. Gesetzlicher Güterstand, ehevertragliche Regelung, Zugewinngemeinschaft, Gütertrennung, Anspruch auf Unterhalt –die juristischen Begriffe flogen ihr nur so um die Ohren und alles, was sie aus Dr. Heinemanns Aussagen schließen konnte war, dass es alles nicht so einfach wäre, dass es lange dauern würde und er ihr mehrere Rechnungen schicken müsste, bevor sie und Aeneas geschiedene Leute wären. Um Lydias finanzielle Situation nach der Scheidung beurteilen zu können, bräuchte er noch weitere Unterlagen, sagte der Anwalt und zählte sie im selben Atemzug noch auf.
Lydia ärgerte sich in dem Moment, dass sie sich vor der Hochzeit nicht besser informiert hatte. Dabei hatte sich selbst einmal Jura studiert! Damals, als man in München noch Longchamp-Taschen trug und falsche Perlenohrstecker. Ein Semester lang war sie jeden Tag in der Staatsbibliothek auf und ab stolziert, hatte mit Doktoranden geschlafen, und manchmal hatte sie sogar in den Gesetzbüchern geblättert, die alle irgendwelche Abkürzungen hatten: BGB, StGB, GG … Sie hatte sich auch noch ein paar dickere dazu gelegt, damit keiner dachte, sie nähme das nicht ernst, mit dem Studieren. Aber dann kam die erste Prüfungsphase und sie konnte die Übungsfälle nicht lösen. Sie hatte ja um Hilfe gebeten, aber ihre Bewunderer in der Bib hatten sich plötzlich in verbissene Einzelkämpfer verwandelt, die sie ignorierten und ihr den Mund verboten. Und selbst die Doktoranden, die ihr bestimmt die Klausurlösungen hätten geben können, hatten ihr plötzlich die kalte Schulter gezeigt. Da war ihr klar geworden, dass sie niemals einen Juristen heiraten würde und das Studium eine wirklich blöde Idee war.
Weil Dr. Heinemann so schnell gesprochen hatte, war Lydia heute ausnahmsweise mal pünktlich. Tatjana hatte sie ins Padadakis Munich eingeladen, um gemeinsam im Spa-Bereich die neuen Body Contouring-Methoden auszuprobieren. An der Spa-Rezeption kam sie ihr gleich im weißen Frotteebademantel entgegengeschlurft.
„Süße! Wie war’s beim Anwalt? Springt was raus für dich?“
„Hm. Ich denke schon. Das ist alles ein bisschen kompliziert, weißt du.“
„Glaub ich. Zieh dich mal um! Wir fangen an mit Bum Treatments!“
„Oh, ok.“
Fünf Minuten später lagen sie nebeneinander auf zwei rosafarbenen Behandlungsliegen. Die beiden Spa-Angestellten erklärten, dass bei der Kryolipolyse das überschüssige Fettgewebe mit dem Coolsculpting-Verfahren kontrolliert auf 3 bis 4 °C heruntergekühlt und sich bereits nach einigen Wochen auflösen würde. Ich friere mir quasi den Arsch ab, dachte sich Lydia, und als das surrende Gerät ihren Hintern berührte, fühlte es sich auch genauso an.
„Siehst du Erik noch?“, wollte Tatjana sofort wissen.
„Nein. Hast du doch gesehen auf Instagram, dass er nur noch mit dieser ukrainischen Schlampe rumhängt, die sich ‚Performancekünstlerin‘ nennt.“
„Anastasia? Ich dachte die arbeiten nur zusammen …“
„Was sollen die denn zusammen arbeiten! Er spielt seine komische Musik ab und sie hampelt so dämlich rum die ganze Zeit. Das ist ja noch nicht mal richtige Musik. Das hab ich ihm auch gesagt!“
„Du hast Erik von Bergen gesagt, dass er keine richtige Musik macht?“
„Ja, und dann hat er gesagt, dass ich zu blöd bin für seine Musik, weil es ja irgendwie um das ‚Konzept‘ und die ‚Atmosphäre‘ und keine Ahnung was geht, und man muss sich da ‚einfühlen‘ und so Scheiß. Und dann hab ich gesagt, dass man dazu ja noch nicht mal richtig tanzen kann, wenn man besoffen ist. Und dann sagt er mir ins Gesicht, dass ich nicht tanzen kann! Ich mein, hallo? Geht’s noch?“
„So ein Arschloch! Und wie du tanzen kannst!“
„Ja eben! Ich war so sauer … Dann hab ich ihn angeschrien und sein Scheiß Macbook an die Wand geschmissen, und jetzt schreibt er mir natürlich nicht mehr! Aber ist mir doch egal!“
„Männer …“ Tatjana verdrehte die Augen. Dabei hatte sie selbst gar keinen Grund dazu. Mit Alexandros war sie sogar glücklicher als erwartet und das nicht nur wegen der Wellness-Behandlungen, die er ihr und ihren Freundinnen spendierte.
„Wo ist eigentlich Céline? Sie hat mir irgendwas von Urlaub erzählt, aber keine Ahnung wo und mit wem …“
Lydia hatte sie seit dem Vorfall im Souls nicht mehr gesehen.
„Ach, die Arme, sie ist wieder in Therapie wegen ihrer Essstörung. Nach der Trennung wollte sich doch gar nichts mehr essen und dann wollte sie sich sogar noch mal Fett absaugen lassen“, klärte sie Tatjana auf.
„Oh Gott, in der Psychiatrie?“
„Ja, schon wieder!“
Céline sollte lieber dieses Kryo-Irgendwas machen, dachte sich Lydia, denn ihr Hintern war inzwischen vollkommen taub geworden. Das Fett würde vielleicht nicht ganz verschwinden, aber wenn man es gar nicht mehr spürt, fühlt man sich ja auch schlanker …
Am liebsten wäre Lydia noch mit Tatjana in den Tempel gegangen, aber Alexandros entführte seine untenrum noch etwas unterkühlte Flamme direkt aus dem Spa-Bereich. In ihr neu angemietetes Single-Apartment wollte Lydia noch nicht zurück, und Céline in der Klinik zu besuchen, wäre auch zu frustrierend gewesen. Dann eben nochmal zu First Class Nails, beschloss sie, während ihr immer noch die Worte des Anwalts im Kopf herumschwirrten. Im Nagelstudio stellte sie fest, dass Aeneas ihre Kreditkarte gesperrt hatte. Einfach so, ohne ihr Bescheid zu geben! Sie kramte ihre alte EC-Karte heraus und versuchte peinliche drei Minuten lang, sich an ihre PIN zu erinnern, bis Maria endlich sagte „Ach Lydia, das kannst du auch nächsten Montag zahlen, gar kein Problem“. Lydia zwang sich zu einem Lächeln, stürmte aus dem Studio und schmiss ihre Mastercard Platinum in den nächsten Mülleimer.
Als die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss fiel, konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie wusste gar nicht, wie viel Geld sie noch auf ihrem Girokonto hatte und ob sie damit überhaupt ihre Miete bezahlen konnte. Sie hatte noch etwas Schmuck aus ihrer Zeit mit Sergio, den sie verkaufen könnte. Aber lange würde das nicht reichen. Und wenn dann auch noch die Kosten für den Scheidungsanwalt hinzukommen … Lydia schleuderte ihre High-Heels in die Ecke. Wie konnte er ihr das nur antun! Sie warf sich aufs Bett und schaltete den Fernseher ein. Es lief gerade das Promi-Magazin. Eigentlich sollte ich diese Sendung boykottieren, dachte Lydia. Schließlich war Kate, die knapp bekleidete Moderatorin, die unter ihrem Camouflage-Make-Up eine Kratzspur verbarg, Schuld an Célines Misere. Aber gerade als sie umschalten wollte, kam ein Beitrag über Victoria Burana: „Absturz einer Diva! Katzen, Alkohol und Cellulite … was ist nur aus Victoria Burana geworden!“ Lydia hatte Victoria Burana immer für ihren Glamour und ihre Ausstrahlung bewundert. Einmal hatte sie sie sogar live gesehen, als sie mit einem Geschäftspartner von Aeneas in der Bayerischen Staatsoper waren. Diese stimmgewaltige Frau in ihrem smaragdgrün-glitzernden Kleid hatte sie total beeindruckt. Dabei konnte Lydia diesen unerträglich lange dauernden Opern sonst gar nichts abgewinnen. Man verstand ja noch nicht einmal, um was es ging. Schockiert starrte sie nun auf die Schnappschüsse der ungeschminkten Opernsängerin, die sich mit zerzausten Haaren und einem unvorteilhaft engen Kleid bückte, um eine Katze zu füttern. Auf dem nächsten Bild verlor sie fast das Gleichgewicht und Kate spöttelte aus dem Off „ … das ging nicht nur modisch voll daneben. Autsch!“
Lydia schaltete schluchzend den Fernseher aus. Sie sah sich schon selbst in Secondhand-Klamotten auf der Leopoldstraße herumirren. Kate würde sich im Fernsehen über ihren herausgewachsenen Ansatz lustig machen und Tatjana würde sie aus Scham nicht mehr ins Spa einladen. Vielleicht war es keine gute Idee gewesen, zurück nach München zu gehen, dachte sie. Tatsächlich kam ihr dieser Gedanke inzwischen fast jeden Abend, den sie alleine in diesen dreißig Quadratmetern verbrachte. Sie musste sich eingestehen, dass sie Aeneas sehr vermisste. Immer wieder dachte sie an seine traurigen Augen, als sie ins vollbeladene Wasserflugzeug gestiegen war, fest entschlossen, nie zurückzukehren. Sie erinnerte sich an die Flitterwochen, wie er sich angestrengt hatte, sie bei der Yogastunde zu beeindrucken und wie streng sie mit ihm gewesen war, obwohl sie es doch selbst gar nicht richtig konnte. Erst jetzt merkte sie, wie fordernd und undankbar sie gewesen war. Dabei hatte er sie stets auf Händen getragen – wenn sie darunter auch nicht immer dasselbe verstanden hatten. Nun hörten ihre Tränen gar nicht mehr auf zu fließen. Aeneas hätte sich jetzt zu ihr aufs Bett gelegt und sie in den Arm genommen. Ohne blöde Fragen zu stellen, hätte er sie einfach festgehalten. Er war immer so gefasst und vernünftig gewesen. Selbst wenn Lydia kurz davor gewesen war zu explodieren, hatte er ihr sanft aber entschlossen die Gegenstände aus der Hand genommen, die sie eben noch nach ihm werfen wollte und dann einfach gewartet, bis sie sich beruhigt hatte. Manchmal hatte er sich sogar bei ihr entschuldigt, obwohl sie es war, die sich ohne Grund aufgeführt hatte. Sie hatten sich doch so gut ergänzt, wie Feuer und Wasser, oder wie Yin und Yang, stellte Lydia fest und drückte ihr Gesicht noch fester auf das nasse Kissen. Warum musste diese verfluchte Insel das alles kaputt machen! Warum hatte sie sich auf diesen abgehobenen Erik eingelassen! Aeneas hätte sie nie als dumm bezeichnet, obwohl sie von seiner Arbeit nun wirklich gar keine Ahnung hatte. Nein, er hatte sie immer für ihren guten Geschmack bewundert und ihre Meinung geschätzt. Und wie sie tanzte, hatte ihm sehr gefallen. Lydia war immer Aeneas‘ Nummer Eins gewesen, da war sie sich sicher. Bei John war sie immer nur die zweite Wahl gewesen, der Plan B – wenn überhaupt.
Aeneas hatte sofort zu ihr gestanden. Auch wenn manche seiner Geschäftspartner sie nicht gleich als die Frau an seiner Seite akzeptiert hatten. Aeneas war immer ehrlich gewesen. Er hatte keine Geheimnisse vor ihr gehabt und sich nicht hinter Lügen versteckt, wie bei Sergio. Obwohl es ihm schwer gefallen war, hatte Aeneas ihr eines Nachts sogar von seiner Kindheit erzählt, von seiner Mutter, die für ihn so vieles auf sich genommen hatte, von seinem verstorbenen Vater – alles. Und Lydia hatte auch etwas von sich erzählt. Nicht alles, aber mehr, als sie sonst je jemandem erzählt hatte. Langsam dämmerte es Lydia, dass Aeneas tatsächlich der beste Mann war, den sie jemals kennengelernt hatte. Bestimmt auch besser als Hendrik, mit dem sie sich für morgen verabredet hatte. Sie holte ihr Smartphone aus ihrer Handtasche und sagte das Date ab. Auch wenn er eine Arztpraxis direkt am Starnberger See hatte.
Wie geht die Geschichte weiter?
Lies gleich das nächste Kapitel und finde es heraus: Kapitel 15 – Die Chance seines Lebens?
Was ist Auffällig Unauffällig?
Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.
Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?
Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede(r) Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Lydia wurde von Verena Ullmann verfasst.


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