Kapitel 16 – Gebrochen

6–8 Minuten
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Ein Gemeinschaftsroman von Alexander WachterAnnika KemmeterArina MolchanIna MaschnerLydia WünschNina LischkeVerena Ullmann und Victoria Grader.

Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog

Come on babe, why don’t we paint the town, and all that Jazz, I’m gonna rouge my knees and roll my stockin’s down – And all that Jazz – Start the car, I know a whoopee spot, where the gin is cold but the piano’s hot. It’s just a noisy hall, where there’s a nightly brawl. And all that Jazz.“  

Ihre Stimme erfüllte den ganzen Raum, übertönte mit Leichtigkeit das Orchester. Da konnten sich die Bläser noch so anstrengen, gegen Victorias Stimminstrument kamen sie doch nicht an. Aber sie musste zugeben, dass die Trompeten mit Dämpfern einen wunderbar dunklen, runden Sound von sich gaben. Die Saxophone und die Posaunen ertönten mächtig und das Piano untermalte das ganze Stück. Aber die Oboe und das Fagott, die hatten da wirklich nichts verloren. Das fand Victoria zumindest. Aber natürlich wusste es diese Frau Pfuhlmann wie üblich einfach besser. Es war eine Schande. Wie Jazz im Allgemeinen. 

Auch dieses prostitutive Anbiedern, wie es auch von Victoria verlangt wurde, widerte sie an. Sie solle die Hüften kreisen lassen, hatte Verena gesagt. Sie solle sich über die Seiten streicheln und lasziv über ihre Schenkel fahren, hatte sie gesagt. Verabscheuungswürdig, hatte Victoria gedacht. Die Oper war so viel mehr. Sie war über alles erhaben. Das war überhaupt die Idee! 

Slick your hair and wear your buckle shoes, and all that jazz – I hear that Father Dip is gonna blow the blues, and all that jazz. Start the car, I know a whoopee spot, where the gin is cold but the piano’s hot. It’s just a noisy hall, where there’s a nightly brawl. And all that Ja – ah ah ah ah ah ah ah,  

Sie sang aus voller Kehle. Bei jedem ah ging ihre Stimme auf und nieder und fand so in die Musik der Oper. Die Musikanten waren zu überrascht davon, so dass sie allesamt aufhörten zu spielen. Aber das sollte Victoria nicht stören, gekonnt koppelte sie die bekannte Arie der Königin der Nacht an das liederliche Jazzstück. 

Und Victoria musste zugeben, dass die Instrumentalisten wirklich begabt waren. Nach kurzem Zögern stiegen sie einfach in die neue Wendung ein und spielten, so gut es ihnen möglich war, die Musik der Arie. Das Publikum schien sich nicht daran zu stören. 

Dann wurde es laut. Ein Jazz-Song aus der Musikanlage dröhnte im Saal. Die Lautstärke übertönte Victoria und die Instrumentalisten. Viele Leute im Publikum hielten sich die Ohren zu. Dann ging das Licht aus. Zuerst hörten die Musiker zu spielen auf, dann verstummte auch Victoria. Das musste Verena sein. Wie konnte sie nur Victorias Auftritt so unterbrechen? Victoria hatte nicht einmal Applaus bekommen! Sie reckte ihr Kinn und stolzierte von der Bühne. Die Musiker machten eine Pause. Die Musik aus der Anlage wurde wieder leiser und dudelte vor sich hin.  

Klick klack. Klick klack. Klick klack. 

Schuhabsätze trommelten in einem rhythmischen Tempo über den Boden, dann stockte der Schritt, die Tür ging auf und eine hohe, schlanke Gestalt trat – klick klack – ein. Verena legte einen Oscar-reifen Auftritt hin und mit dem Zurückwerfen ihrer schwarzen Locken rundete sie diesen elegant ab. Sie machte Victoria so ziemlich Konkurrenz. Und man machte einer Diva keine Konkurrenz. Dafür hasste Victoria sie in diesem Moment. Auch dafür, dass sie hier, in Verenas Büro, hatte warten müssen. 

„Ciao, Verena, Bellissima!“, flötete Victoria und kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Sie war einfach die ideale Schauspielerin, dachte Victoria. 

„Victoria, was für ein Auftritt“, sagte Verena und lächelte. 

Sie war gut, das musste Victoria zugeben. Keine der beiden fiel aus der Rolle. 

Fiorello schlich um Victorias Beine herum, sie hob ihn in ihre Arme und liebkoste das weiche Fell. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr wie Verena das Gesicht verzog. 

„Es gibt da etwas, darüber sollten wir reden“, fuhr Verena fort. 

Victoria, immer noch mit ihrem Kater schmusend, ließ sich genüsslich Zeit, ehe sie Verena ansah und nickte. 

„Schön, dass du es einrichten kannst. Ich weiß ja, wie beschäftigt du bist. Damit, den Tempel zu ruinieren! Für dieses Mal habe ich dich nur übertönt. Aber noch einmal so etwas und du fliegst schneller raus als du dieses „ah ah“ trällern kannst. Und lass dieses Vieh hier nicht so frei rumlaufen, sonst werfe ich es hinaus auf die Straße. Herrgott! Victoria, das ist ein Luxus-Etablissement, da hat Ungeziefer nichts verloren!“ 

„Maledetta! Was erlaubst du dir? Mein Fiorello ist doch kein Ungeziefer, mein Gott!“ Victoria drückte ihren Kater fest an sich. Ihren Liebling, ihren Schatz, den würde sie nie hergeben. Lieber würde sie verhungern. „Außerdem“, fuhr sie fort, „finde ich, der Tempel – der so elitär und elegant und besonders ist – verdient eine ebensolche Musik. Jazz … das ist so drückend, deprimierend und unharmonisch. Ich sollte hier Opern singen. Das wäre die passende Stimmung. Das wäre angebracht für diesen Ort. Nicht aber dieses …“ 

„Genug“, gab Verena ruhig zurück. „Ich bin hier die Chefin, und du bist nur eine Angestellte von vielen. Weißt du noch? Jazz ist gut. Er ist modern und lockt Kunden an. Opern sind verstaubt. Das will hier niemand hören, Victoria. Sie wollen nichts von Verdi und Wagner. Schau dir doch die BMW Welt an: Sie veranstalten Jazz-Events. Weil es besser ankommt. Wenn dir das aber nicht gefällt, dann steht es dir frei, zu gehen.“ 

Am liebsten hätte Victoria nun ihre Sachen gepackt und wäre gegangen. Aber leider musste sie sich eingestehen, dass dies nicht möglich war. Verflucht noch eins, sie war auf diese Einkünfte angewiesen. Sie bekam weder Engagements an Opern noch andere Auftritte. Und wenn sie sich ihr kleines Zimmer weiterhin leisten wollte, dann musste sie wohl oder übel hinnehmen, dass sie wirklich nur eine Angestellte ohne jegliches Mitspracherecht war. 

Auf den größten Bühnen der Welt hatte sie bereits gestanden, in Sydney, New York, Sankt Petersburg, Dresden. Aber nun war sie hier, in München, das mehr einem Dorf als einer Stadt glich, auf einer Bühne, die sich zwar in einem noblen Etablissement befand, aber wo sie weniger Aufmerksamkeit als die Kellner bekam. Den Applaus des Publikums bekam sie nur, weil man es halt so macht, nicht aber, weil die Musik begeisterte. 

Vor Kurzem musste Victoria ihren gesamten Schmuck veräußern, damit sie ein finanzielles Polster für die Zukunft hatte. All die Ketten, die Ringe, die Armbänder, alles war nun weg. Aber sie hatte es nicht übers Herz gebracht, Fiorellos Diamanthalsband zu verkaufen. Es war das Einzige, das in Victorias Welt noch glitzerte. Sie fühlte sich an ihre Kindheit erinnert. An die ärmlichen Verhältnisse in einem kleinen italienischen Dorf, das mehr aus Ruinen, denn aus Wohnhäusern bestand. 

Nur durch sehr viel Glück wurde ihr Talent entdeckt, als sie zehn Jahre alt war. Dann schickte man sie mit einem Stipendium zur Gesangsausbildung nach New York an die Met. Es war der Beginn einer aufstrebenden Virtuosin bis hoch hinauf ins Rampenlicht. Und sie wollte doch beweisen, dass sie Erfolg haben konnte. 

“Ich verstehe“, sagte Victoria und senkte den Kopf. „Ich werde weiterhin Jazz singen und mache keine Probleme mehr.“ Dann wandte sie sich um und ging hinaus.  

Wie geht die Geschichte weiter?

Lies gleich das nächste Kapitel und finde es heraus: Kapitel 17 – Schmetterlinge in der Sauna

Was ist Auffällig Unauffällig?

Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.

Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?

Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede(r) Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Victoria wurde von Ina Maschner verfasst.

Bild von hollywut (Kathrin) auf Pixabay.


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