Kapitel 18 – Sechzehn mit Wodka

9–13 Minuten
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Ein Gemeinschaftsroman von Alexander WachterAnnika KemmeterArina MolchanIna MaschnerLydia WünschNina LischkeVerena Ullmann und Victoria Grader.

Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog

Die Straßenlaterne warf ihr fahles Licht auf einen buschigen Rhododendron. Der Strauch legte einen klaren Schatten auf alles, was sich hinter ihm befand und hüllte Marty in Schwärze. Im Schatten ist schlecht Zeitunglesen. Überhaupt konnte man wenig Sinnvolles tun, wenn man auf einer Straße stand und eine Haustür beobachtete. Den morgigen Tag hatte Marty gedanklich bereits durchgeplant. Da gab es also nichts mehr zu überlegen. Ja, doch! Es gab etwas zu tun! Das heutige Gespräch mit seiner Sekretärin fiel ihm wieder ein. Er musste sich eine Überraschung für sie ausdenken. Marty verdrehte die Augen bei dem Gedanken an dieses Gespräch, das ihn genau zu diesem Fleck hinter dem Rhododendron geführt hatte. Spitzfindig und elegant hatte er sein wollen. Die Informationen hervorlocken, ohne dass Frau Molch ein Verdacht kam. Den ganzen Tag hatte er auf eine Gelegenheit gewartet, Frau Molch über den Verbleib ihres Sohnes Frank zu befragen, doch es hatte sich keine dargeboten. Schließlich hatte er in seinem Bürozimmer das Licht ausgeknipst und im Empfangsbereich seiner Detektei gestanden, unschlüssig seinen Hut aufgesetzt, dann den Mantel zugeknöpft. 

„Dann noch einen schönen Abend, Frau Molch!“, hatte er gesagt. Und gewartet.  

Sie war in ihren Bildschirm vertieft gewesen. „Ihnen auch, Marty“, hatte sie geistesabwesend geantwortet. 

„Danke.“ Martys Räuspern. Und dann: „Apropos Abend … Was machen Sie eigentlich heute Abend?“ 

Frau Molch hatte aufgesehen. Mit geweiteten Augen. Sie hatte eine Haarsträhne ergriffen. Ertappt!, hatte Marty automatisch gedacht. Doch bei was sollte er sie ertappt haben?  

„Ich? Ähm … Nichts.“ Sie war aufgestanden und auf Marty zugegangen.  

Warum war sie aufgestanden? Das Nebensächliche, das Marty der Frage unbedingt hatte anheften wollen, hatte sich durch ihr Aufstehen in Bedeutsames verwandelt.  

„Und Sie, Marty?“ 

Nun war es Marty, der sich ertappt fühlte. „Ich … ach, ich hole mir was auf die Hand und werde dann wohl was lesen.“  

Frau Molch sah ihn an, als hätte er noch nicht zu Ende geredet. „Seneca, denke ich“, fügte er folglich hinzu. 

Marty verlagerte sein Gewicht auf sein anderes Bein. Er spürte erneut Hitze aufsteigen, im kühlen Dunkel der Straße. Wie schon vorher, im Büro. Sie konnte doch nicht schon erraten haben, dass er heute etwas ganz anderes vorgehabt hatte? Sie hatte ihn lange angesehen. So lange, dass er, um die Stille zu füllen, gefragt hatte: „Lesen Sie eigentlich gern, Frau Molch?“ 

„Ja. Warum?“ 

„Ach nur so. Dann werden Sie wahrscheinlich heute auch lesen, zum Einschlafen …“ Immer noch hatte er das Gespräch nicht auf Frank gelenkt. Es war deutlich schwieriger gewesen, als er gedacht hatte. Und auf Frau Molchs verwirrten Blick hin hatte er dann gefragt: „Oder lesen Sie vielleicht mit Ihrem Sohn gemeinsam? Also, so auf der Couch und einer liest vor?“ 

Frau Molch hatte laut gelacht. Dabei hatte sie Martys Schulter berührt. „Nein, Marty! Das bestimmt nicht!“ 

Während er sich auslachen ließ, fasste Marty den Entschluss, einfach direkt zu fragen. „Also, wie Sie sehen, kann ich mir ihr Privatleben schlecht vorstellen. Wie gestaltet sich denn die Beziehung zwischen Ihnen und Ihrem Sohn? Sind Sie sehr vertraut? Ich weiß noch, wie Frank Sie früher immer mit Fragen gelöchert hat und bei jedem kleinen Wehwehchen zu Ihnen gerannt ist. Wie alt ist Frank jetzt?“ 

„Sechzehn. Und mit mir redet er nicht mehr. Er grunzt nur noch. Gemeinsam lesen, Marty! Sie sind gut!“ Sie hatte noch immer gelacht. „Nein, nein, ich als Mutter wurde natürlich durch Kumpels ersetzt. Und bald wird er eine Freundin haben und dann, eines Tages fliegt er auf und davon und lässt mich einsam zurück.“ Dabei warf sie einen Blick von unten zu ihm hinauf, als würde diese Aussicht sie sehr traurig stimmen.  

Sie tat ihm auch leid, aber er war noch keinen Schritt weitergekommen.  

„Warum interessiert Sie das plötzlich, Marty?“ 

„Ich dachte nur… Vielleicht gehen Sie ja noch manchmal zusammen ins Kino?“ 

„Marty, wollen Sie mich fragen, ob ich mit Ihnen ins Kino gehe?“ 

„Was? Nein! Ich meinte, ob Sie manchmal mit Frank noch ins Kino gehen?“ 

Marina hatte ihn lange nachdenklich angesehen. Sie war ihm da etwas geschrumpft erschienen. Wahrscheinlich nahm es sie sehr mit, dass Frank bald aus dem Haus sein würde. Sie war so sensibel, was ihren Sohn anging, deswegen musste er sie ja auch vor der schrecklichen Wahrheit beschützen. 

„Frank geht mit mir nirgendwohin. Er trifft sich immer mit Sam, seinem besten Freund. Und das ist auch gut und normal so.“  

Marty hatte genickt. So war er also doch noch auf einen Namen gestoßen. Einen Spitznamen. Ohne Adresse. „Soso“, hatte er gemurmelt. „Sam Wer?“ 

„Samuel Greubel. Marty, horchen Sie mich aus?“ 

„Was? Nein! Keineswegs!“ 

„Sie haben doch irgendwas vor!“ 

Marty hatte das dringende Bedürfnis, sofort das Büro zu verlassen. 

„Marty? Was haben Sie vor?“ 

„Nichts!“, hatte er gesagt, aber geahnt, dass er sie so nicht würde abschütteln können. „Eine Überraschung!“, hatte er hinzugefügt.  

Und hier stand er nun. Vor Samuel Greubels Elternhaus und versuchte sich eine Überraschung für Frau Molch zu überlegen. Vielleicht Blumen? Aber zu welchem Anlass? Geburtstag hatte sie im Winter, krank war sie auch nicht. Vielleicht als Glückwunsch zur Gehaltserhöhung. Dann müsste er ihr Gehalt erhöhen. Schon wieder! Marty sah auf seine Uhr. Seit drei Stunden und vierundzwanzig Minuten war Frank nun schon in Samuel Greubels Haus. Zwei weitere Freunde waren noch dazugestoßen, seit Marty im Schatten des Rhododendrons stand und das Haus beobachtete. Er versuchte sich auszumalen, was Frank und seine Freunde wohl gerade taten. Was hatte Marty selbst in diesem Alter getan? Mit sechzehn? Jetzt fiel es ihm ein. Als er sechzehn war, hatte er einen Lockpicking-Verein gegründet. Es waren in seiner Stadt nie mehr als fünf Mitglieder geworden. Wenn er jetzt so darüber nachdachte, mit wem er damals Schlösserknacken geübt hatte, überkam ihn der Verdacht, dass alle anderen Mitglieder möglicherweise Einbrecher geworden sein könnten. Sie hatten sich auf den Schneemann konzentriert, einem der Schere nicht unähnlichen Werkzeug, dessen Spitze wie ein Schneemann aussah. Marty beschloss in der Kriminalstatistik jener Zeit mal nach den Einbruchsarten zu recherchieren. Eine Bewegung! „Hab acht!“, dachte Marty. Die Tür öffnete sich und entließ Frank und die beiden anderen jungen Männer. Sie verabschiedeten sich, indem sie einander mit ihren Fäusten auf die Schulter schlugen. Frank ging allein in Richtung Bushaltestelle. Marty hinterher. An der Bushaltestelle setzte sich Frank. Marty setzte sich daneben. 

„Hallo Frank.“ 

„Ohaaa, Marty! Mann, Alter, dich habe ich lange nicht mehr gesehen. Wie geht’s dir?“ Er machte Anstalten, Marty zu umarmen, was Marty nur zuließ, weil er davon überrumpelt wurde. 

„Ja, Frank. Gut. Danke.“ 

„Das ist ja ein fetter Zufall! Übelst nice, Mann! Ich freu mich grad voll. Äh, ich meine Herr Trapington. Lustig, ist das, oder? Herr Trapington. Mister Trapington müsstest du eigentlich heißen. Auch voll komisch, dass Mama dich Siezt. Also Sie. Können wir uns nicht einfach duzen? Ist doch viel einfacher. Machen wir das?“ 

„In Ordnung. Von mir aus“, antwortete Marty mürrisch und wurde dafür von Frank angestrahlt, als sähe der das Christkind vor sich. Wie jung er noch war. Er sah aus, wie ein kleines Kind. Mit seinen blonden Locken. 

„Darauf sollten wir anstoßen, Marty!“ Frank sah Marty lange in die Augen. „Weißt du was? Ich habe mir früher oft vorgestellt, du wärest mein Vater. Kann aber nicht sein, oder?“ 

„Was? Nein! Keinesfalls.“ 

„Na, jedenfalls, zum Anstoßen, da muss ich noch mal zurück zu Sam, der hat noch die Wodkaflasche auf seinem …“ 

„Frank?“, unterbrach ihn Marty. 

„… auf seinem Bett, weil wir vorhin…“ 

„Frank?“, versuchte Marty es erneut. „Frank, sei mal still. Bist du betrunken?“ 

Frank kicherte. 

„Welche Beziehung pflegst du zu Verena Pfuhlmann?“ 

Frank kicherte. 

„Frank, lass uns mal ernsthaft miteinander sprechen.“ 

Franks Kichern ließ die blauen Gitterstühle unter Martys Po erzittern. Marty seufzte. Er knöpfte seinen Mantel auf und wollte in die linke Innentasche greifen, da schrie Frank. 

„Nein! Nicht schießen! Ich … ich habe nix bei mir. Außer, hier!“ Er griff in seine Hosentasche und holte ein paar Münzen heraus. 

Marty hielt Frank das Foto unter die Nase und wartete auf eine Reaktion. 

„Oh“, sagte Frank.  

Er schien sich an den Abend zu erinnern. Gedankenverloren steckte er das Kleingeld zurück. Jetzt würde Frank auspacken. Was hatte er an diesem Abend gesehen und getan? Alles schien sich noch einmal vor Franks innerem Auge abzuspielen. Verzweifelt schloss Frank die Augen und lehnte sich an die Glasscheibe der Bushaltestelle. Marty spürte das angenehme Kribbeln, das er immer spürte, wenn er kurz vor der entscheidenden Entdeckung stand. Er wartete. In einer solchen Situation musste man besonders geduldig sein. 

„Frank?“, fragte er nach einer Weile und schreckte den Jungen damit aus seinem Schlaf. „Du bist eingeschlafen?“ 

„Hm? Was? Marty? Kann ich dich was bitten? Kannst du mich nach Hause bringen, aber Mama nix davon sagen? Das wäre echt voll …“ 

„Mal sehen“, antwortete Marty. „Beantworte mir erst ein paar Fragen: Wie bist du in das Innere Sanktum gelangt?“ 

„In was?“ 

„Hier“, Marty tippte auf das Foto, „in dieses Etablissement.“

„Ach so. Ja. Das war leicht. Mama hatte ja das Codewort.“ 

Marty überlegte. „Sie hatte es irgendwo aufgeschrieben und du hast es dir gemerkt, dich als ich ausgegeben und dich in das Innere Sanktum eingeschlichen?“ 

Frank zuckte mit den Schultern. Dann kicherte er. 

„Kanntest du Frau Pfuhlmann schon vorher?“ 

Frank schüttelte kichernd den Kopf. „Heiß ist sie schon. Findste nicht?“ 

„Wo hast du sie kennengelernt?“ 

„Ja, dort halt. Das Foto ist nice, Marty. Kann ich das behalten?“ 

Marty steckte das Foto ein. Er griff sich an die Stirn und rieb dann seine Augen. 

„Habt ihr noch Kontakt?“ 

„Auf jeden! Die Verena und ich …“ Frank kicherte. „Hat sich mega in mich verknallt.“ 

Frank beugte sich plötzlich vor. Kurz hatte Marty Angst, er würde sich übergeben. Stattdessen griff Frank mit beiden Händen nach Martys Knie, um sich abzustützen und fragte: „Jetzt mal so von Mann zu Mann: Findest du mich sexy? Ich meine, nicht du!“ Frank kicherte, wurde dann aber schnell wieder ernst. „Aber die Frauen. Meinst du, die finden mich, also … gut?“ Marty war unentschlossen. Was sollte er mit Frank tun? „Weil, ich meine, ich denke nämlich schon. Weil sonst wäre das ja nicht so abgegangen. Irgendwas ist an mir, oder? Also, nicht, dass du mich jetzt so für so eingebildet hältst oder so. – Ich red grad voll den Scheiß!“ Frank lachte laut auf. 

Die weißen Scheinwerferlichter kündigten den nahenden Bus an. 

„Na komm,“, sagte Marty und griff Frank am Oberarm. „Wir steigen ein.“ 

Sie fuhren schweigend. Die Lichter der Stadt zogen an ihnen vorüber. Marty war müde. Er würde Frank an der richtigen Haltestelle raushelfen und dann sich selbst überlassen. 

„Frank.“ Marty weckte ihn einmal mehr aus seinen Träumen. „Wir machen einen Deal: Ich erzähle deiner Mutter nichts von heute Abend, wenn du dich vom Inneren Sanktum, vor allem aber von Frau Pfuhlmann fernhältst.“ 

„Okay“, sagte Frank. „Aber mit der Verena darf ich mich noch weiter treffen.“ Marty runzelte die Stirn. „Und …“, fuhr Frank fort, „ich bekomme das Foto.“ 

„Nein. Beides nein.“

Frank sah beleidigt aus. „Das ist echt fies, Mann! Und der Verena, der wird das nicht gefallen.“ 

„Das sind die Bedingungen.“ Marty wartete. 

„Okay, okay! Du bist der Boss…“ 

Der Bus hielt. Marty half Frank beim Aussteigen, fuhr selbst noch zwei Stationen weiter und rief sich dann über sein Handy ein Taxi. „Es gibt noch Hoffnung für Frank“, dachte er, als er die roten Ziffern des Taxometers beobachtete. Er fühlte in der linken Innentasche nach dem Foto. „Aber das muss ich noch behalten, bis ich sicher sein kann, dass Frau Pfuhlmann wirklich ihre Finger von Frank lässt. Und Frau Molch kaufe ich am besten morgen Vormittag ein gutes Buch.“ 

Wie geht die Geschichte weiter?

Lies gleich das nächste Kapitel und finde es heraus: Kapitel 18 – Roter Wein und ein Kuss zu viel.

Was ist Auffällig Unauffällig?

Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.

Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?

Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede(r) Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Marty wurde von Annika Kemmeter verfasst.

Bild von Nicolae Baltatescu auf Pixabay.


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