Ein Gemeinschaftsroman von Alexander Wachter, Annika Kemmeter, Arina Molchan, Ina Maschner, Lydia Wünsch, Nina Lischke, Verena Ullmann und Victoria Grader.
Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog
Lydia
Im Tempel sang Victoria Burana. Sie sah live viel besser aus, als auf diesen fiesen Paparazzi-Bildern im Fernsehen, stellte Lydia fest. Das schwarze Samtkleid betonte ihre Kurven perfekt und der filigrane, asymmetrische Hut, der einen Teil ihres Gesichts verschleierte, verlieh ihr eine extravagante und gleichzeitig verruchte Aura. Und dann noch diese Stimme! Wenn ich so eine Stimme hätte, dann wäre das mit dem Job viel einfacher, dachte Lydia. Sie stellte sich vor, wie sie die Bühne im Tempel betreten würde, alle Augen auf sie gerichtet. Sie träumte sich ins Finale einer Castingshow und aufs Cover ihres ersten Albums. Tatsächlich hatte sie schon vor zehn Jahren feststellen müssen, dass ihre Stimme für eine Gesangskarriere einfach nicht geeignet war. Gemeinsam mit ihrer damaligen besten Freundin Jennifer hatte sie Rihanna gecovert und auf YouTube viel Hass geerntet. Seitdem sang sie nur noch unter der Dusche.
Wie es wohl Céline ging? Als Lydia ihr gestern geschrieben hatte, hatte die Arme immer noch behauptet, dass sie im Urlaub sei. Jetzt musste sie an Kate denken und spürte Wut in sich aufsteigen. Sie versuchte, sich in Alex’‘ blauen Augen abzukühlen. Auf seine Worte konnte sie sich ohnehin kaum konzentrieren, so aufgekratzt wie sie war. Beim dritten Glas Bio-Rotwein wurde es besser. Auch Alex kam langsam in Fahrt. Als Victoria ‚La vie en rose‘ trällerte, setzte er ihren Divenblick auf und sang mit, wobei seine Worte nicht im Entferntesten etwas mit Französisch zu tun hatten. Lydia verschluckte sich am Wein, vor lauter Lachen. Ihr fiel auf, dass sie immer noch nicht wusste, was Alex beruflich machte, eine Frage, die sie in der Regel innerhalb der ersten Stunde eines Dates klärte, wenn sie es nicht schon lange vorher wusste. Irgendwie war Alex ihren Fragen geschickt ausgewichen. So, wie sie selbst es auch immer machte. Und jetzt saßen sie hier und lachten, und es war ihr egal, dass sie kaum etwas über ihn wusste. Gerade versuchte sie, sich mit einer Stoffserviette die Tränen aus den Augenwinkeln zu wischen, ohne ihren Eyeliner zu verschmieren, als Victorias Katze auf die Bühne trat.
„Oh mein Gott!“, Lydia schnappte nach Luft und packte Alex‘ Unterarm.
„Was?“
„Da vorne, auf der Bühne! Ach du Scheiße! Die Katze! Die … die Katze hat …!“ Lydia lachte hysterisch auf ohne den Satz zu Ende bringen zu können.
„Die hat … einen Hut auf?“, stellte Alex fest und prustete dann selbst los. „Vielleicht hat sie heute einen Bad Hair-Day …“ Er fuhr sich durch seine Haare.
Die Katze spazierte durchs Scheinwerferlicht und wackelte dabei leicht mit dem Kopf, da sie wohl der kleine Schleier irritierte, der ihr über das linke Auge hing. Lydia klammerte sich an Alex’‘ Arm fest, um nicht vom Stuhl zu kippen.
„Wie sie läuft!“, sagte Alex und wackelte mit seinen Gesicht auf Lydia zu, die daraufhin mit der linken Hand auf den Tisch schlug und von einem weiteren Lachanfall geschüttelt wurde. „Ist doch hübsch!“, kommentierte er. „Als hätte man sie in schwarze Farbe getunkt und ihr dann den geschrumpften Hut ihrer Besitzern auf den Kopf getackert.“
„Oh mein Gott!“ Lydia begann wieder zu atmen, ließ seinen Unterarm los, der schon ganz rot war und griff noch einmal zur Serviette. Die Katze hatte sich inzwischen an einem der vorderen Tische niedergelassen.
„Aber süß ist sie schon! Sieht voll flauschig aus!“, sagte sie, trank ihren restlichen Rotwein aus und versuchte nicht zu stark zu lallen.
„Kannst sie ja fragen, welchen Conditioner sie nimmt“, schlug Alex vor.
„Ja?“, Lydia betrachtete ihre Haarspitzen und wickelte eine Strähne um ihren Finger. „Ich trau mich aber nicht! Danach kratzt sie mich doch, bei dem Pech, das ich immer habe.“
Sie zog einen Schmollmund.
„Ich glaube, ich bin … verflucht!“
„Verflucht? Klingt spannend.“ Alex stütze sein Kinn auf die Hand. „Was ist das für ein Fluch?“
„Ein Liebesfluch. Ganz gefährlich!“ Und jetzt küss mich endlich, dachte sie, doch Alex tat genau das Gegenteil.
Er sprang auf und sagte: „Dann sollte ich mich jetzt ganz schnell aus dem Staub machen!“
„Hey!“
Lydia griff nach ihrer Tasche und torkelte ihm hinterher auf die dunkle Straße. Er hatte noch nicht einmal gezahlt!
„Warte, du!“
„Ich?“
„Ja! Du kannst doch nicht einfach ohne mich abhauen!“, empörte sie sich.
„Reine Vorsichtsmaßnahme“, sagte er grinsend und ging einen Schritt auf sie zu.
Lydia ließ sich gegen ihn fallen und küsste ihn. Endlich!
„Ich geh noch mal schnell zurück und zahle, ok?“, fragte er etwas später.
„Nein!“ Lydia drückte ihn gegen die Hauswand, kicherte und küsste ihn noch mal.
„Wenn wir verhaftet werden, bist aber du Schuld.“
„Ich sag doch, ich bin verflucht!“
„Und jetzt?“
„Vier Jahreszeiten?“, schlug sie vor.
„Mmmh, ja. Ich mag Pizza vier Jahreszeiten!“, scherzte er, „Und ich hab sowieso schon wieder Hunger.“
„Ich mein das Hotel, Mann!“
Lydia verdrehte die Augen und winkte ein Taxi herbei. Dachte er etwa, sie würde mit zu ihm nach Hause fahren? Ausgeschlossen! Außerdem war sie schon lange nicht mehr im Vier Jahreszeiten gewesen, dabei war es ihr absolutes Lieblingshotel. John hatte für sie immer das Deluxe Zimmer gebucht. Aber wenn sie heute nur das Superior bekommen würden, wäre das auch in Ordnung, dachte sie.
Das Deluxe Zimmer war noch frei! Lydia konnte ihr Glück kaum fassen. Sie zog Alex hinter sich her, der sich die ganze Zeit umsah, als wäre er noch nie in einem Hotel gewesen, schloss die Zimmertür hinter ihnen, befreite ihre Füße von den Highheels und ließ sich aufs Bett fallen. Sie liebte frische, faltenfreie Bettwäsche! Dann merkte sie, dass es wohl nicht gerade besonders sexy aussah, sich wie ein besoffener Seemann auf ein Bett fallen zu lassen. Sie drehte sich auf die Seite, stütze sich mit einem Arm auf, zupfte ihr Kleid zurecht, Brust raus, Bauch rein, Haare nach hinten … „Ahhlex?“ Er hatte sich eben im Badezimmer umgesehen und blickte sie ertappt an. Sie warf mit einem der Seidenkissen nach ihm. „Wo bleibst du denn?“
Er fing das Kissen auf, legte es zurück zu den anderen elf und küsste sie. „Bin schon da.“
„Hast du jetzt noch Hunger? Der Butlerservice hier ist super! Die holen dir wirklich alles …“
Lydia wollte schon zum Telefon greifen, aber Alex warf sich auf sie „Nein! Ich … vernasche lieber dich.“
Als Lydia am nächsten Morgen aufwachte, schlief Alex noch tief und fest. Sie mochte es, Männern beim Schlafen zuzusehen. Sie sehen dann alle so zart und unschuldig aus. Alle?, fragte sie sich. Ja, erstaunlicherweise war es sogar bei Sergio so gewesen. Sie betrachtete Alex’‘ Lippen, die sie gerne noch einmal geküsst hätte, aber sie traute sich nicht, und wollte ihn jetzt auch nicht wecken. Als hätte er ihre Blicke gespürt, drehte er sich auf die andere Seite. Ob sie sich noch einmal treffen sollten? Sie schlich sich ins Bad, verwarf dann aber ihren Plan, zu duschen. Stattdessen zog sie sich blitzschnell an, schrieb mit ihrem Yves Saint Laurent-Lippenstift ihre Nummer auf den runden, gold umrandeten Spiegel über dem Bett, drückte noch einen pinken Schmatzer daneben und verließ dann fluchtartig das Hotel. Das hatte sie schon immer mal machen wollen.
Wie geht die Geschichte weiter?
Lies gleich weiter und finde es heraus: Kapitel 20 – Mutterliebe auf Abwegen
Was ist Auffällig Unauffällig?
Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.
Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?
Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede(r) Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Lydia wurde von Verena Ullmann verfasst.


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