Auffällig Unaufällig – ein Gemeinschaftsroman von Alexander Wachter, Annika Kemmeter, Arina Molchan, Ina Maschner, Lydia Wünsch, Nina Lischke, Verena Ullmann und Victoria Grader.
Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog
Aeneas
„Herr Von Wahle , wenn Sie mir bitte folgen würden.“ Aeneas wandte sich zu der Dame im violetten Abendkleid um. Sie wies ihm den Weg und schritt voran. Mit einem Klemmbrett unter dem Arm und einem Headset auf dem Kopf, das in ihre Hochsteckfrisur eingeflochten zu sein schien, lotste sie ihn durch die kahlen Gänge. „Passen Sie bitte auf die Kabel auf.“, sagte sie, als sie über ein Bündel Starkstromkabel hinüberstieg. „Sie wären nicht der Erste, der über dieses Gewirr hier stolpert. Ich sag nur so viel, Elyas M’Barek war letzte Woche hier. Mann, hat das gepoltert, als es ihn hingelegt hat.“ Sie kicherte. “Aber das haben Sie nicht von mir.” Aeneas nickte und stieg behutsam über das Bündel. Dass ein Backstage-Bereich so verwinkelt sein konnte, hatte er gar nicht für möglich gehalten. Das monotone Brummen der Lüftungen behagte ihm nicht. Er freute sich jetzt schon darauf, hier wieder rauszukommen.
Zwei schwarzgekleidete Männer mit Schildkappen und Werkzeuggürteln gönnten sich gerade ein Getränk aus einem Automaten. Die Klemmbrettdame begrüßte sie freundlich. „Oh bitte sagt mir, dass Mike das Problem mit den Spots gelöst hat. Wir brauchen sie in ein paar Minuten.“ Sie sah einen der Männer eindringlich an.
„Natürlich hat er das hinbekommen. Für wen hältst du uns?“, sagte dieser und musterte Aeneas interessiert. „Oh, Sie müssen Herr Von Wahle sein.“ Er streckte ihm die Hand hin und dieser schüttelte sie. Aeneas fiel das Tunnelpiercing am Ohr des Mannes auf und er fragte sich, ob er sich auch mal eines Stechen lassen sollte. „Es freut mich riesig, Sie einmal in Person zu treffen. Sie sind eine wahre Inspiration, wissen Sie das? Meine Frau vergöttert Sie.“ Der Mann kramte einen Stift aus seiner Tasche hervor und hielt ihn Aeneas hin. „Dürfte ich Sie vielleicht bitten?“
Die Dame mit dem Klemmbrett fuhr dazwischen. „Das ist wohl wirklich nicht der richtige Moment. Wir …“ Aeneas unterbrach sie: „Kein Problem. Dafür nehme ich mir gerne Zeit. Einfach hier?“ Er unterschrieb auf dem T-Shirt des Mannes. Dieser wünschte ihm viel Glück für seinen Talk, bevor Aeneas und die Dame weitereilten.
Seit sein Interview im Spiegel erschienen war, war es ihm schon des Öfteren passiert, dass Menschen ein Autogramm von ihm haben wollten. Aeneas freute sich, dass es Menschen zu gefallen schien, was er zu sagen hatte, obwohl er sich mit dem Rummel um seine Person nicht wirklich anfreunden konnte. Zuerst hatte er geglaubt, es handele sich um einen Scherz, als er die Anfrage zu dem Interview erhalten hatte. Was für eine Story hatte er denn schon zu bieten? Der Reporter überzeugte ihn jedoch davon, dass er seine Lebensgeschichte für sehr interessant hielt und sich vorstellen konnte, dass Aeneas bemerkenswerte Erkenntnisse mit der Welt teilen könnte. Aeneas war nicht wirklich überzeugt von der Idee gewesen, aber der Reporter schien aufrichtig zu sein, und da hatte er eingewilligt.
Das Interview gestaltete sich wie ein Gespräch unter Freunden. Aeneas vergaß die meiste Zeit, dass ein Aufnahmegerät auf dem Tisch lag und redete einfach drauflos. Sehr schnell erkannte er, dass der Reporter den Fokus nicht auf seine Inselerlebnisse legte, sondern auf seine Einstellung zu den Dingen des modernen Lebens. „Was sagen Sie zu den Einspielergebnissen des neuen Marvel-Films? Welche Vorhersagen würden Sie für den Klimawandel treffen? Wie schätzen Sie den BMW-Skandal ein?“ Am Ende des Nachmittages war Aeneas heißer.
Er war zufrieden mit seinen Antworten gewesen, rechnete allerdings damit, dass sich nicht viele Leute dafür interessieren würden. Umso überraschter war er, als sein Briefkasten bald von Interview- und Auftrittsanfragen überquoll. Nach sorgfältigem Aussortieren hatte er sich bereit erklärt, eine Rede auf dem Event zu halten, da er den guten Zweck der Veranstaltung unterstützen wollte. Aus diesem Grund war er heute Abend hier.
„Ich muss mich wirklich für sein Benehmen entschuldigen. Ich kann Ihnen versichern, dass das nicht wieder vorkommen wird“, versprach die Dame ihm, kaum als sie um die Ecke gebogen waren.
„Es ist wirklich überhaupt kein Problem. Ich tue es gerne. Nicht immer kann man jemanden so einfach glücklich machen.“
„Wissen Sie, wenn Sie das sagen, hört es sich echt aufrichtig an.“ Die Dame hob die Augenbrauen. „Sie sind gut.“
Sie waren an der Bühne angekommen. Dutzende Menschen wuselten herum. Vor sich sah Aeneas ein einsames Podium in gleißendem Licht stehen. Er spürte die Bewegung des Publikums hinter dem Vorhang.
„Zur Erinnerung: Dieter wird die Anmoderation übernehmen. Auf sein Signal werden Sie dann auf die Bühne gehen und seinen Platz übernehmen. Und keine Sorge“, fügte sie noch hinzu. „Ich werde Sie auf den Weg schicken. Sie werden das Signal nicht verpassen.“
Aeneas nickte und fragte sich, ob er nervös sein sollte. Er verspürte keinerlei Lampenfieber. Er schmunzelte. Lampenfieber. Ein lustiges Wort.
Dann betrat Dieter die Bühne und der Vorhang öffnete sich. Seine Einleitung war locker und unterhaltsam. Das Publikum lachte an den richtigen Stellen. Als er seinen Namen hörte, spürte Aeneas die Hand der Dame auf seiner Schulter und lief los.
Das Bühnenlicht blendete ihn und für einen Moment fühlte er sich zurückversetzt auf seine Insel. Es war als stünde er inmitten der Mittagssonne an einem glühend heißen Tag ohne eine Wolke am Horizont. Die Hitze, die von den Scheinwerfern ausging, war annähernd damit vergleichbar. Der große Unterschied war nur, dass er hier nicht nackt, sondern in einem dicken Baumwollanzug stand. Seine Krawatte fühlt sich plötzlich so eng an. Seine Atemwege waren zusammengequetscht, da konnte doch kein Sauerstoff durchkommen. Ohne nachzudenken, lockerte er sie und nahm sie schließlich ganz ab. „Viel besser“, sagte er, als die Luft wieder ungehindert in seine Lungen gelangen konnte.
Das Publikum lachte. Aeneas strengte sich an, die Menschen durch das helle Licht genauer zu erkennen. Sie waren für ihn nur als formlose Masse zu erkennen. Wie ein großes Ungestüm mit hunderten verschwommenen Klecksen als Köpfen. „Keiner hat mir gesagt, dass diese Scheinwerfer hier so heiß sein werden.“ Aeneas knöpfte sich die obersten drei Hemdknöpfe auf. Anerkennende Pfiffe drangen an seine Ohren. „Ich meine, ich bin ja die Hitze Spaniens gewöhnt, aber da bin ich auch nicht im Anzug herumgelaufen.“
Das Publikum lachte erneut. Aeneas hatte nicht darauf abgezielt, einen Witz zu machen, umso mehr freute er sich, dass sie lachten. Das zeigte ihm, dass sie ihn sympathisch fanden. Er ging noch einen Schritt weiter. „Ich würde euch echt gerne sehen. Ich möchte wissen, mit wem ich rede. Wäre es vielleicht möglich, das Licht etwas schwächer zu machen?“ Das Publikum grölte und applaudierte. Aeneas sah vor seinem inneren Auge, wie die Dame mit dem Klemmbrett Backstage aufgeregt Anweisungen gab.
Als das Licht gedimmt worden war, sah Aeneas sein Publikum klar. Unzählige gutmütige Gesichter lächelten zu ihm herauf. Alle verharrten in stiller Erwartung seiner Worte. Er räusperte sich. „Wunderbar. Nun kann ich euch begrüßen. Herzlich willkommen! Schön, dass ihr da seid.“ Das Publikum applaudierte. Einige riefen ein lautes „Hallo, Aeneas!“, was ihn besonders freute.
„Ich komme heute zu euch mit einem persönlichen Anliegen“, begann Aeneas seine Rede. „Ich habe meiner Rede auch einen passenden Namen gegeben: Der Wert des Seins und die Wichtigkeit menschlicher Aufrichtigkeit und Achtsamkeit gegenüber den Mitmenschen und der Natur in Zeiten von Social Media. Ich weiß“, fuhr Aeneas fort. „Es klingt ein wenig anspruchsvoll, aber keine Sorge, ich werde euch langsam an die ganze Thematik heranführen. Ich selber hatte sehr viel Ruhe und Zeit, um mich in diesen Themenbereich einzulesen und es für mich selbst auszuprobieren. Von diesen Beobachtungen und auch von den Erkenntnissen möchte ich euch heute gerne erzählen.“
Aeneas bemerkte nicht, wie schnell die Zeit verging, als er redete. Er fühlte sich nicht annähernd am Ende von all dem, was er den Menschen sagen wollte, als das rote Lämpchen bereits leuchtete und ihm anzeigte, dass er nur noch fünf Minuten Redezeit zur Verfügung hatte. Als er seinen letzten Satz gesprochen hatte, wartete er. Das Publikum war ihm in den letzten Minuten sehr still vorgekommen und Aeneas, wusste nicht, ob ihnen gefallen hatte, was er erzählte. Dann brach plötzlich ein tobender Applaus aus. Die Menschen in den Reihen sprangen von ihren Stühlen. Männer schwangen ihre Krawatten wie ein Lasso über ihren Köpfen. Ein Chor aus Frauen in der ersten Reihe schrie „Aeneas for President!“.
Aeneas war umnebelt von so viel Zuneigung und Anerkennung. In seinen kühnsten Träumen hätte er nicht mit so einer Reaktion gerechnet. An den Weg in die Garderobe erinnerte er sich im Nachhinein nicht einmal mehr. Er wusste auch nicht, woher die junge Frau kam, die er plötzlich in seinem Arm hielt. Er wusste nur, dass sie Camilla hieß, italienische Wurzeln hatte und das schönste Dekolleté aller Zeiten. Ihre lockigen Haare verfingen sich in seinen Hemdknöpfen, als sie in der Limousine über ihn herfiel. „Oh, diese Muskeln. Du bist ein richtiger Tarzan“, schwärmte sie und fuhr ihm über die Brust. Aeneas schaute hinab. „Normal, nicht?“, fragte er. Sie schüttelte den Kopf und presste ihre Brüste darauf.
In Aeneas Wohnung angekommen, stutzte sie. „Wo ist das Bett?“ Sie sah sich in der spartanischen Wohnung um, aber ein Bett war nicht in Sicht. Abgesehen von einer Einbauküche und einer dünnen Yogamatte in einem Eck befand sich nur vereinzelter Kleinkram darin.
Aeneas zuckte mit den Schultern. „Ich mag es ohne Möbel lieber.“ Nachdem er nach seiner Rückkehr zum ersten Mal seine alte Wohnung am Gärtnerplatz in München betreten hatte, hatte ihn beinahe der Schlag getroffen. Er hatte sich nicht mehr daran erinnert, so viel unnützes Zeug besessen zu haben. Sogleich hatte er alles Überflüssige an wohltätige Organisationen gespendet. Ihm bereitete der Gedanke Freude, dass sein Hugo Boss-Anzug von irgendeinem Bedürftigen getragen wurde. Er hätte zu gerne dessen Gesicht gesehen, als er den Anzug bekommen hatte.
Camilla lachte laut auf. „Du Spinner! Du bist einfach unglaublich.“ Sie kickte ihre Stöckelschuhe in den Raum und ließ sich vor ihm auf den Boden fallen. „Ich will dich. Hier und jetzt.“ Sie schob ihr Becken von der einen auf die andere Seite und zog sich dabei einen knallroten Tanga aus. Aeneas verstand nicht wirklich, warum sie ihn so sehr wollte, aber er entschied sich, dass es bessere Momente gab, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Solange er noch auf seiner Endorphin-Welle ritt, wollte er sich nicht beschweren und Camilla mitreiten lassen.
Er legte sich zu ihr auf den Boden. Camilla verlor keine Zeit und kletterte auf ihn drauf. Ihre Lippen knabberten seinen Hals entlang. „Wie hast du es denn eigentlich so lange auf dieser Insel ausgehalten? So alleine? Ohne Sex?“ Aeneas wusste nicht, wo er seine Hände zuerst hinlegen sollte.
“Mit Tantra lernt man seine Sexualität zu kontrollieren. Ich könnte dir ein paar Bücher empfehlen.“ Camilla roch so gut nach Kokosnüssen.
Sie biss ihm in die Wange. „Bereit für einen Kontrollverlust?“ Eine Gänsehaut zog sich seinen Rücken hinauf. Sein Atem beschleunigte sich.
„Du bist einmalig, Aeneas“, stieß Camilla ein ums andere Mal hervor. Aeneas bemühte sich mit ihrer Wollust mitzuhalten, doch sie war eine Naturgewalt. Er überließ ihr das Ruder und verlor sich in ihren Armen. Er fühlte sich geborgen. Er spürte so viel Liebe. „Lydia“, brach es plötzlich aus ihm hervor.
Camilla verharrte. „Was hast du gesagt?“ Sie schlang ihre Arme und seinen Hals und verwuschelte seine ohnehin schon stürmischen Haare. „Oh, wie putzig. Du hast mich Lydia genannt. Ist das nicht deine Ex?“ Aeneas nickte. Es war ihm sichtlich unangenehm. Er verlor merklich an Höhe. „Entschuldige, meine Gedanken sind gerade irgendwo.“
Camilla gab ihm einen Schmatzer. „Oh, so süß. Musst dich doch nicht entschuldigen. Mich hat noch keiner wie seine Ex genannt. Ich schein dir wohl schon ans Herz gewachsen zu sein. Aber keine Sorge“, fügte sie mit einem Beckenwackeln hinzu. „Ich bring dich schon noch dazu, dass du meinen Namen stöhnst.“
Aeneas hörte den anschwellenden Lärm des Morgenverkehrs vor seinem Fenster. Camilla lag schnarchend auf seiner Brust, doch er hatte in der Nacht keinen Schlaf gefunden. Seitdem Lydias Name über seine Lippen gekommen war, hatte sich etwas verändert. Camillas Berührungen hatten sich danach immer noch angenehm, ihr Körper immer noch unfassbar zart angefühlt. Die Losgelöstheit und das Geborgenheitsgefühl waren jedoch nicht zurückgekehrt. Lydia schwirrte in seinem Kopf herum und ließ ihn nicht los. Aeneas hatte versucht, zu meditieren, aber seine Gedanken wollten nicht stillhalten. Was war nur mit ihm los? Hatten einige Wochen zurück in der Gesellschaft ihn wieder Jahre in seiner inneren Selbstfindung zurückgeworfen? Sollte er auf die Insel zurückkehren, um seine Chakren wieder ins Gleichgewicht zu bringen? Oder sollte er aufhören, sich so viele Fragen zu stellen und stattdessen handeln?
Es war offensichtlich, dass seine Gefühle für Lydia noch nicht aus der Welt waren. Irgendwo in seinem Inneren warteten sie darauf, von ihm erforscht zu werden. Seine Bekanntschaft mit Camilla hatte den unterbewussten Konflikt scheinbar an die Oberfläche gebracht. Aeneas wusste, dass Lydia und er niemals wieder ein Paar werden würden. Ihre Persönlichkeiten waren einfach zu verschieden. Auf Dauer konnte eine Beziehung zwischen ihnen überhaupt nicht funktionieren. Und doch …
Die Monate auf der Insel hatten Aeneas gelehrt, dass er nicht tatenlos herumsitzen und warten konnte, bis etwas passierte – er musste proaktiv handeln. Er würde Lydia ausfindig machen und herausfinden, wie es ihr ging. Danach würde er weitersehen. Doch bevor er irgendetwas davon in die Tat umsetzten konnte, musste er erst einmal die schnarchende Schönheit von sich herunter und aus der Wohnung bekommen. Er hoffte inständig, dass sie nicht noch eine Runde von ihm wollte. Das würde er nicht überstehen.
Wie geht die Geschichte weiter?
Lies gleich weiter und finde es heraus: Kapitel 26 – Cappuccino, Champagner und ein dunkles Geheimnis
Was ist Auffällig Unauffällig“?
Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.
Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?
Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede(r) Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Aeneas wurde von Alexander Wachter verfasst.
Bild von Trang Pham auf Pixabay.


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