Kapitel 27 – Martys Rausschmiss

13–20 Minuten
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Auffällig Unaufällig – ein Gemeinschaftsroman von Alexander WachterAnnika KemmeterArina MolchanIna MaschnerLydia WünschNina LischkeVerena Ullmann und Victoria Grader.

Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog

Marty versenkte eine Süßstofftablette in seinen Earl Grey. Die helle Milchwolke im orange-braunen Tee ließ sich aufwühlen und begann zu bitzeln. Marty stützte die Stirn in seine Hände und versuchte den Kopfschmerz zu vertreiben. „Du bist eine alte, braune, schlaffe Socke“, sagte er zu sich selbst. „So entspannt und zufrieden wie eine alte, schlaffe, braune Socke, die seit Jahren auf einem Schreibtisch in der Sonne liegt und keine Sorgen hat.“

Er hatte diesen Tipp aus einem Psychologie-Seminar, das er im Sommer letzten Jahres besucht hatte. Eigentlich war es um verbale und non-verbale Kommunikation gegangen, aber sie hatten auch jeden Abend verschiedene Entspannungsübungen gelernt. Heute brauchte er sie jedenfalls, denn den Anfang der Nacht hatte er damit verbracht, sich über eine rollige Katze zu ärgern, die genau unter seinem Schlafzimmerfenster Position bezogen hatte. Und als sie endlich still war und er in den Schlaf gefunden hatte, war er kurz darauf aus einem Albtraum aufgewacht: Frank und Aniko Senchi hatten sich im Inneren Sanktum auf dem Boden herumgerollt, und er hatte die zwingende Aufgabe gehabt, sie unter den höhnischen Blicken von Frau Molch und Verena Pfuhlmann mit Babyöl einzuschmieren. Senchi und Frank waren dabei immer wieder seinen glitschigen Händen entwischt, weil er vergessen hatte, eine Nachtsichtkamera aufzusetzen. Mit dem Gefühl völlig versagt zu haben war er schweißgebadet aufgewacht.

Er brauchte kein Psychologie-Seminar um zu verstehen, was das bedeutete: Er stand unter Druck. Gegen Verena Pfuhlmann hatte Marty nichts in der Hand, was er verwenden wollte, und Aniko Senchi meldete sich nun schon regelmäßig telefonisch in der Detektei. Langsam wurde auch Frau Molch argwöhnisch. Aber sie in diesen Fall einzubeziehen war freilich unmöglich. Er observierte die Pfuhlmann nun schon gut eine Woche. Aber die Frau war glatt wie eine ungebrauchte Induktionsplatte: Sie zahlte ihre Steuern, hielt ihr polizeiliches Führungszeugnis lupenrein und ihre Familie war, soweit er das beurteilen konnte, frei von Machenschaften. Freunde hatte sie eigentlich keine, nur lose Bekanntschaften. Nicht einen Krümel Dreck am Stecken. In solchen Fällen beauftragte Marty normalerweise Frau Molch. Manchmal ließ sich im Internet Schmutz auffinden. Aber diese Möglichkeit musste er dieses Mal ausschließen. Zu groß war die Gefahr, dass Frau Molch dabei etwas über die Pfuhlmann und Frank herausfand. Den Kratzer in der Platte musste er selbst finden. Das Ärgerliche dabei war: Er hatte ja schon einen gefunden! Einen tiefen! Verführung Minderjähriger. Aber das durfte den Schleier der Heimlichkeit nicht verlassen. Marty griff nach einem Schokoladenkeks, seinem Frühstück. Und dann das Innere Sanktum an sich … Das war sicherlich nicht angemeldet. Wenn er seinen Erinnerungen vertrauen konnte, und das konnte er meist, entsprach es nicht den Brandschutzvorschriften und konnte wahrscheinlich behördlich geschlossen werden. Doch bei dem Gedanken überkam ihn direkt ein schlechtes Gefühl. Ein schlechtes Gefühl, das hatte Marty im Laufe seiner Arbeit gelernt, war meist ein Konglomerat diffuser, aber wichtiger Erfahrungen, denen man besser vertraute.

Marty führte die heiße Tasse an seine Lippen, pustete und trank. Die Temperatur war perfekt: zwischen heiß und warm. Die Wärme und der Geschmack des Earl Greys erfüllten ihn mit Ruhe. Der Kopfschmerz ließ kurz nach und ließ ihn seine Gedanken ordnen: Er brauchte nun mal etwas Handfestes gegen die Pfuhlmann, soviel stand fest. Die Frank-Angelegenheit konnte er nicht verwenden; etwas anderes hatte er nicht gefudnen. Wahrscheinlich fände er bei einem Besuch im Tempel direkt einen Leckerbissen, den er dem Fräulein Senchi servieren konnte? Er musste dieser Spur nachgehen, Gefühle hin oder her. Heute Abend würde er sich den Tempel noch einmal vornehmen. Und dann würde er schon etwas finden.

Im Büro erwartete ihn Frau Molch wie jeden Morgen. Das war schön. Marty liebte Routine in seinem aufregenden Job.  

„Guten Morgen, Marty, heute so früh dran? Haben Sie schlecht geschlafen?“

„Rollige Katze“, antwortete Marty und hängte Mantel und Hut auf den Ständer.  

„Miau“, machte Frau Molch zu seinem Erstaunen. Er warf einen Blick auf den Kalender und erstarrte.  

„Frau Molch“, sagte er und kratzte sich am Kinn. Frau Molch lächelte unschuldig und zuckte die Schultern. Sie war schon auf dem Weg zur Küche, um ihm einen Kaffee zu machen. Er folgte ihr wie ein Entenküken. „Frau Molch, warum ist für heute MKS im Kalender eingetragen? Das stand gestern Abend noch nicht da.“

„Ich weiß, Marty, ich habe es heute Morgen erst getan.“

„Was soll das? Ich habe dafür keine Zeit.“ Sie flog durch die Küche wie eine Feder, die vom Wind hierhin und dorthin geweht wurde. Zum Schrank mit den Tassen, zu den Tabs, zur Kaffeemaschine. Es brodelte und zischte. Marty hatte keine Ahnung, wie dieses Gerät funktionierte, aber der Kaffee war immer hervorragend. Frau Molch reichte ihm die Tasse.  

„Sie können mir dankbar sein, Marty. MKS wollte Sie überraschen. Ich dachte, ich bin so gnädig und warne Sie vor.“

„Um wieviel Uhr hat sie sich angekündigt?“

„Am Nachmittag. Sie treffen MKS um 15:38 Uhr am Hauptbahnhof, S-Bahn-Haltestelle S8. Den Nachmittag und Abend habe ich Ihnen freigeschaufelt. Sie übernachtet bei Ihnen. Morgen früh ist sie schon wieder weg.“

Marty stöhnte.

„Machen Sie sich wegen der Termine keine Sorgen“, fügte Frau Molch hinzu, „ich habe mich bereits um alles gekümmert.“

„Darum geht es nicht.“

„Ich weiß“, sagte Frau Molch und tätschelte Marty aufmunternd die Brust. „Aber es wird bestimmt trotzdem schön.“

Marty seufzte. Aufbegehren nützte nichts. Frau Molch würde nicht zulassen, dass er dieses Treffen schwänzte und er wusste, dass sie in solchen Dingen eigentlich recht hatte. „Was steht sonst an?“

„Sie müssten zu Ihrem Freund ins Europäische Patentamt und sich Hintergrundinformationen zum Bienenstockinhalator geben lassen.“

„Natürlich.“

„Und wenn Sie schon unterwegs sind, Sie hatten einen Anruf von Mosertäschel in der Bayerischen Staatskanzlei. Es gibt Informationen zum Krepfel-Kampmann-Fall.“

„Ich hatte mir schon gedacht, dass sich die Staatskanzlei melden würde. Reichlich spät. Wann haben wir die Anfrage gestellt? Vor zwanzig Wochen?“

„Heute 21, aber Sie wissen ja …“

„Ich weiß.“

„Und Frau Senchi hat heute Morgen angerufen. Ich meine, eine anonyme Person hat angerufen. Codewort Hutkunst. Aber da haben Sie ja schon was in der Hand und den Fall fast abgeschlossen. Nicht wahr?“

Marty nickte. „Alles im grünen Bereich.“ Er bemerkte ihren forschenden Blick.  „Alles im grünen Bereich“, wiederholte er. „Stellen Sie mir alles über den Bienenstockinhalator zusammen, Frau Molch. Und ich brauche alle Akten zum Krepfel-Kampmann-Fall.“

„Liegen auf Ihrem Tisch für Sie bereit.“

„Natürlich, Frau Molch.“

„Dasselbe gilt für mich. Wenn Sie etwas von mir brauchen …“

Marty verschluckte sich an dem heißen Kaffee. „Dann …?“

„Dann finden Sie mich an meinem Schreibtisch.“

„Natürlich.“

***

Um 15:38 Uhr stand Marty am S-Bahn-Gleis des Münchner Hauptbahnhofs. Die S8 fuhr ein und spuckte massenweise Koffer und ihre Träger und Trägerinnen aus. Sie sah er lange, bevor er von ihr entdeckt wurde. Doch er machte keine Anstalten, ihr entgegen zu laufen.  

„Marty!“, rief sie winkend und rannte mit einem überdimensionierten, wackelnden Rucksack auf ihn zu. Bei ihm angekommen warf sie ihn mit ihrer Umarmung fast um und gab Marty einen Kuss auf die Wange. Eine klebrige Substanz blieb zurück. Marty wischte sie weg. Oder vielmehr verschmierte er sie auf seiner Wange und auch seine Finger klebten jetzt. Er sah, dass ihre Lippen von Lipgloss glänzten. Den hatte sie vor nicht allzu langer Zeit aufgetragen, sicherlich erst nach der Ankunft am Flughafen. Warum machten Frauen das? Marty fielen auch ihre geröteten Wangen auf. Das war kein Puder, das war echte Wangenröte, vor Freude und von der Last des Rucksacks. Martys kleine Schwester griff an seinen Hut. „Ist der neu? Der ist cool!“

„Hattest du einen guten Flug?“

„Es ging. Sie hatten nicht genug Essen für alle Fluggäste. Ich habe einen Riesenhunger! Gehen wir irgendwo hin? Oder wir kochen was in deiner Wohnung. Aber, ne, halt, dann müssen wir erst einkaufen, oder? Du hast ja nie was da. Dann holen wir lieber doch gleich hier etwas. Ich habe Lust auf was Bayrisches.“

„Wir gehen zur einem Döner-Stand“, bestimmte Marty. „Danach fahren wir in meine Wohnung und du ruhst dich ein wenig aus. Ich muss am Abend noch wohin.“ Er ging los. Sie folgte ihm fast hüpfend. Selbst für Mitte zwanzig bewegte sie sich unangemessen mädchenhaft.

„Was Detektivisches?“, fragte sie. Marty schwieg. „Oh, es ist was Berufliches, wie cool! Wo musst du hin? Observation aus einem Auto? Verfolgungsjagd? Um was geht es? Hexenversammlungen im Wald?“

„Du hast keinerlei Ahnung von meiner Arbeit.“ Er führte sie am Arm um eine Ecke in die unterirdischen Imbiss-Meile.

„Erzähl! Du kannst mich ja nicht zu Hause lassen, wie ein kleines Mädchen, wenn ich einmal komme, um dich zu besuchen. Morgen bin ich schon wieder weg. Ich möchte doch ein bisschen Zeit mit meinem großen Bruder verbringen.“

„Halbbruder“, lag auf seiner Zunge, doch er schluckte es runter. „Es ist in einem Restaurant, aber du kannst nicht mitkommen.“

„Restaurant ist doch perfekt! Ich bin dabei. Wir essen da zu Abend.“ Konnte sie immer nur ans Essen denken? Marty stellte sich beim Döner an. Ruth ließ ihn stehen und ging zum Sushi-Imbiss. Durch die ganze Halle brüllte sie: „Ein Mann allein im Restaurant ist viel auffälliger als ein Mann mit einer hübschen, jungen Dame an seiner Seite!“  


„Nein!“, rief Ruth. „Nein!“ Ihre Augen leuchteten, als Marty einige Stunden später vor dem Tempel stehen blieb. „Nein! Wir essen im Tempel? Niemals! Nicht möglich! Hier muss man vorher reservieren, weißt du das? Hast du reserviert? Wir bekommen nie einen Tisch.“ 

Marty schob sie am Ellenbogen durch die Tür und durch die Vorhänge.  

„Trapfen, zwei Personen“, sagte er dem Kellner, der ihnen gleich entgegengeeilt war. Marty meinte einen abschätzigen Blick beim Kellner wahrgenommen zu haben, als er das Kostüm von Ruth musterte. Marty hatte sie gebeten, etwas elegantes, schlichtes anzuziehen. Nicht zu auffällig. Aber solche Kleider hatte sie natürlich nicht in ihrem Rucksack. Am Ende hatte sie sich für ein sommerliches Blumenkleid mit einer langen Strickjacke entschieden. Ja, sie kam gerade von einer Rucksacktour aus Madagaskar, aber es war unangemessen für diese Lokalität. Und unangemessen ist immer auch auffällig. Sie setzten sich an einen kleinen Tisch in der Ecke, wie Marty ihn bestellt hatte. Von hier aus hatte er einen Überblick über das gesamte Restaurant und über den Zugang zu den Toiletten. Den Zugang zum Inneren Sanktum. Ruth griff nach seiner Hand.

„Was soll das?“, zischte Marty.  

Ruth beugte sich zu seinem Ohr, damit er sie über die Live-Musik hören konnte, als sie flüsterte: „Ich dachte, wir spielen reicher Schnösel mit seiner heimlichen Geliebten.“

„Nein. Wir spielen überhaupt nicht. Du isst und ich arbeite.“

Ruth sah sich um. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich im Tempel bin. Kennst du die Besitzerin? Sie ist eine Art Kunstmäzenin. Vielleicht kann ich ihr ein paar meiner Bilder auf dem Handy zeigen. Ich habe einiges fotografiert. Meinst du, sie taucht überhaupt hier im Tempel auf? Oder besitzt sie den Laden nur, ist aber nie selber da?“

Marty beschloss, Ruths Geplapper einfach auszublenden und die Gäste zu beobachten. Sie bestellten irgendetwas, das Ruth ausgewählt hatte. Sie aßen es. Es kamen Cocktails. Ruth pikste Marty zwischen die Rippen: „Wen beobachten wir denn überhaupt?“

Marty fiel auf, dass sie nun wirklich eine Weile sehr still gewesen war. „Rate“, sagte er, um ihr eine Freude zu machen.  

„Die Frau dahinten, die schrullige, die allein an der Bar sitzt. Die hat schon ihren vierten Wodka runtergekippt. Was macht die hier? Ihre Schuhe sind verklebt von Schlamm, wahrscheinlich von einem Waldboden und ihre Klamotten sehen aus wie von einem der Araberläden am Hauptbahnhof. Zwanzig Euro für das ganze Outfit, mehr hat das bestimmt nicht gekostet. Und dann kippt die Wodkas im Tempel? Ein Glas kostet hier acht Euro. Das passt nicht zusammen.“

„Nicht schlecht“, sagte Marty. Die Bayerische Bildungsministerin verschwand gerade im Gang zu den Toiletten. Marty sah auf seine Uhr. 20:12 Uhr. „Aber sie ist es nicht.“

Ruth sah sich um. „Die Sängerin mit ihrer cringen Katze. Die hat bestimmt jemanden umgebracht. Sie hat so dunkle Vibes … Und was soll das, dass sie und die Katze gleiche Hüte tragen? Die hat hundertpro ein Rad ab.“

Marty lachte. „Das ist die gefallene Opern-Diva Victoria Burana. Wenn sie wüsste, wen sie für ihren Untergang verantwortlich machen kann, würde sie ihn bestimmt umbringen lassen. Oder sie. Allerdings ist sie scheinabr selbst dafür verantwortlich. Ihre Attitüden sollen untragbar geworden sein.“

„Du kennst ja den ganzen Glamour-Gossip, Marty!“ Ruth schien beeindruckt. Marty zuckte die Schultern und nahm einen Schluck Mineralwasser. Ruth schlug noch etliche Observationsopfer vor. Die Geschichten, die ihr zu den Restaurantgästen einfielen, hatten durchaus amüsante Elemente. Marty interessierte aber viel mehr, dass sowohl die Bildungsministerin als auch Bernd, der Landeskriminaldirektor, nach einem kurzen Aufenthalt an der Bar ins Bad gegangen und von dort nicht mehr zurückgekehrt waren. Es war jetzt 20:35 Uhr.  

Als sich der Vorhang an der Tür wieder öffnete, ließ er Mosertäschel ins Restaurant. Nicht auch er! Missmutig beobachtete Marty, wie Mosertäschel erst an die Bar ging, und nach einem kurzen Gespräch mit dem Barkeeper auf der Toilette verschwand. Marty fragte sich, nach welchem Kriterium heute die Gäste in das Innere Sanktum geladen worden waren. Alle waren schon etwas älter, anders als bei seinem Besuch in diesem Sündenpfuhl. Vielleicht ging es heute um ernstere religiöse Praktiken? Frau Molch hatte ihm erzählt, dass die Pfuhlmann mal eher erotisch angehauchte, mal eher künstlerisch oder spirituell inspirierte Feste gab. Als neben unzähligen, ihm unbekannten Personen auch noch eine Kollege aus Prien, dann Martys Informantin aus dem Innenministerium und schließich sein Hals-Nasen-Ohren-Arzt hintereinander im Gäste-WC verschwanden, stieß er innerlich einen Fluch aus. Es war zu heikel, das Innere Sanktum auffliegen zu lassen. Wenn rauskam, dass er dahintersteckte, würde er wertvollste Kontakte verlieren. Andererseits – es ging ja nur darum, der Pfuhlmann damit zu drohen. Als Gegenleistung sollte sie ihre Finger von Frank lassen und Frau Senchis Hutausstellung in ihrem Restaurant kuratieren. 

„Mein Gott, ist das langweilig mit dir!“, empörte sich plötzlich Ruth neben ihm.  

„Ich arbeite.“

„Und ich besuche dich! Weißt du, was ich jetzt mache? Ich frage die Komische mit den Wodkas nach ihrem Leben aus. Die ist heillos betrunken, die erzählt mir bestimmt ihre komplette Geschichte. Guck mal: Die Katze von der Operndiva hat sich auch schon zu ihr gesellt.“

„Tu das.“ Auch gut. Dann konnte er sich besser konzentrieren. Eine knappe Stunde saß Marty allein und fokussiert am Tisch. Ab und zu warf er seiner kleinen Schwester einen Blick zu, doch die schien ganz fasziniert von der Frau zu sein. Plötzlich spürte er auf seiner Schulter den festen Griff einer kalten Hand. Er drehte sich um. Hinter ihm fiel lautlos eine Tür ins Schloss und verschmolz direkt wieder mit dem auberginefarbigen Samt der Wandtapete. An der geheimen Tür hing ein großer venezianischer Spiegel. Innerhalb von Millisekunden fiel Marty die Beleuchtung über dem Spiegel auf, die es möglich machte, dass die es im Gastraum sehr viel heller war als im vermuteten Beobachtungsraum hinter dem Einwegspiegel. Frau Pfuhlmann überließ wohl nichts dem Zufall … Die unangenehm starre Hand, die seine Schulter gepackt hatte, gehörte zu einem großen, muskulösen Mann in Schwarz, der hinter ihm stand.  

„Bitte verlassen Sie unser Restaurant“, sagte er höflich, aber bestimmt. Seine Augen waren ausdruckslos.

„Warum?“ 

„Bestimmung von ganz oben. Frau Pfuhlmann hat ungern Gäste Ihrer Berufsgruppe in Ecken lauern. Wenn Sie etwas von ihr wollen, sollen Sie sie persönlich aufsuchen.“

Marty nickte. Er stand auf und dachte auch daran, Ruths Umhängetasche mitzunehmen.  

„Zahle ich bei Ihnen?“, fragte er, indem er seinen Geldbeutel aus der Jackeninnentasche zog. Seine Finger berührten dabei das Foto.

„Geht aufs Haus.“ Der Mann zog sich an die Wand zurück und beobachtete Marty und Ruth, wie Marty nicht entging, bis sie zur Tür draußen waren.  

Die Luft war kalt und der Himmel grau. „Warum mussten wir so schnell gehen?“, fragte Ruth in ihrer üblichen lauten Stimme.  

„Ich habe noch einen Telefontermin“, antwortete Marty.  

Als sie um die Straßenecke gebogen waren, hielt Ruth ihn an beiden Armen fest. „Sag bloß, du wurdest rausgeworfen.“

Marty, der schon sichergestellt hatte, dass ihnen niemand gefolgt war, nickte.  

„Du glaubst nicht, was ich alles über die Frau an der Bar, die Opernsängerin und sogar über die Pfuhlmann rausbekommen habe. Stell dir vor …“ Ruth flüsterte jetzt und das war auch gut so, sonst hätte Marty ihr die Hand vor den Mund halten müssen und der klebte womöglich schon wieder von irgendwelchen Substanzen. „Marty, die Bar gehörte mal der Esotheriktante mit den Schlammschuhen. Sie hasst Verena Pfuhlmann, weil sie sie übelst betrogen hat, und ihr die Bar unter dubiosen Umständen abgenommen hat. Trotzdem ist sie fast täglich dort. Irgendwie kann sie wohl nicht loslassen. Und die Operndiva hasst Verena Pfuhlmann auch. Sie hasst nämlich Jazz. Aus irgendeinem Grund kommt sie aber trotzdem jeden Abend in die Jazzbar und singt. Weil die Verena Pfuhlmann das so bestimmt. Die scheint alles zu bekommen, was sie will. Irgendwie bewundere ich diese Frau.“

„Hm.“ Marty schwieg. Verena Pfuhlmann hatte viele wichtige Kontakten und ebensoviel Macht. So viel war klar. Das Innere Sanktum anzugreifen, an dem offenbar ihr Herz hing, war, als stiege er mit rohem Fleisch bekleidet in ein Haifischbecken. Er würde Frau Molchs und seine berufliche Zukunft aufs Spiel setzen. Auf der anderen Seite verlor Fräulein Senchi allmählich ihre Geduld. Folgte er den neu gewonnenen Hinweisen seiner kleinen Schwester, würde kostbare Zeit verstreichen, mit ungewissem Ausgang. Unwillkürlich tastete er nach dem Foto. Er hatte explosiven Zündstoff in seiner Innentasche. Dieser würde Frau Pfuhlmann gehörig erschrecken, aber nicht gleich alles in die Luft jagen. Marty folgte seiner vor sich hinplappernden Halbschwester über eine grüne Ampel. Jawohl, es war am sinnvollsten, an diesem Haken zu ziehen und die Pfuhlmann direkt mit dem Foto von ihr und Frank zu konfrontieren. Sie wünschte ja die direkte Aussprache … Als er die Rolltreppe zur U-Bahn betrat, machte sich eine Mischung aus heikler Aufregung und Erleichterung in ihm breit. Es wurde Zeit! Er machte schon seit einer Woche allmorgendlich einen Umweg, um nicht an Fräulein Senchis Laden vorbeigehen zu müsssen. Dieser Zustand musste sich ändern, aber hurtig!

Wie geht die Geschichte weiter?

Lies gleich weiter und finde es heraus: Kapitel 28 – Zwischen den Stühlen

Was ist Auffällig Unauffällig“?

Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.

Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?

Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede(r) Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Marty wurde von Annika Kemmeter verfasst.


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