Auffällig Unaufällig – ein Gemeinschaftsroman von Alexander Wachter, Annika Kemmeter, Arina Molchan, Ina Maschner, Lydia Wünsch, Nina Lischke, Verena Ullmann und Victoria Grader.
Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog
Marina
Marina prüfte in dem großen Fenster noch einmal ihr Makeup, bevor sie durch die Drehtür das Foyer der von Wahle Group betrat. Firmen wie diese machten kein Geheimnis daraus, dass sie jährlich Milliarden umsetzten und das Design ihrer Firmenhauptquartiere stellte sicher, dass auch ja niemand daran zweifelte: edler Marmorboden, verzierte Säulen, der Name der Firma in goldenen Buchstaben und ein zweistöckiger Brunnen in der Mitte des Foyers. Marina musste schlucken. Es war nicht die luxuriöse Eingangshalle, die sie einschüchterte, auch wenn diese vermutlich zu diesem Zweck gebaut worden war. Ihr war mulmig, weil sie hier war, ohne es mit Marty abgesprochen hatte. Und weil Aeneas Vorpahls Auftrag nicht der einzige Grund war, ihn hier aufzusuchen. Ihr schlechtes Gewissen hielt sich jedoch in Grenzen. Auch sie war sich mittlerweile nicht mehr so sicher, ob Marty der war, für den sie ihn hielt. Aber konnte sie sich wirklich alle die Jahre so in ihm getäuscht haben?
Marty hatte sich kaum am von Wahle-Fall beteiligt. Dass er sie bei bittrer Kälter stundenlang im Wald hatte herumirren lassen, nahm sie ihm noch immer übel. Zum Beschatten war sie nicht eingestellt. Nein, der Fall interessierte Marty nicht, denn es war ein anderer Fall, der Martys ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Ihr Chef würde es niemals zugeben, aber Marina kannte ihn zu gut. Er hatte sich Hals über Kopf in den Hutkunst-Fall verstrickt und stand nun in Aniko Senchis Schuld. Er versuchte verzweifelt, wieder herauszukommen. Er war diesem Ziel noch kein Stück nähergekommen, daher musste er jede freie Minute auf die Arbeit an der Pfuhlmann-Affäre verwenden. Und um die Pfuhlmann aus ihrem Leben zu vertreiben, dafür war Marina heute hier.
Die Dame an der Rezeption schickte Marina zu den Aufzügen und sagte ihr, sie fände Herrn von Wahles Büro im 22. Stock. Auf der Bürotür stand Aeneas von Wahle in einfachen grauen Buchstaben. Marina klopfte an. „Herein“, hörte sie aus dem Büro. Sie trat in ein überraschend schlicht eingerichtetes Arbeitszimmer, das im krassen Gegensatz zur luxuriösen Ausstattung stand, mit der die Firma im Rest des Gebäudes protzte. Herr von Wahles Arbeitsplatz war spartanisch eingerichtet: ein einfacher Holzschreibtisch samt Computer, ein Bonsai-Bäumchen, Klangschalen und ein Kugelstoßpendel.
„Guten Tag, Frau Molch“, begrüßte sie Herr von Wahle, „bitte, setzen Sie sich doch.“
„Vielen Dank“, Marina setzte sich auf den Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite seines Schreibtischs. Der ehemalige Firmenchef selbst nahm gerade einen Wasserkocher aus der Halterung und goss sich einen Tee auf.
„Brennessel-Tee, selbst gepflückt. Möchten Sie auch eine Tasse?“, fragte Herr von Wahle.
„Nein, vielen Dank, ich bin keine Teetrinkerin“, sagte Marina.
„Wie Sie wünschen. Tee hat viele Vorteile gegenüber Kaffee“ .
„Ich werde es mir überlegen“, meinte Marina.
„Darf ich Sie etwas fragen, Frau Molch?“, wollte Herr von Wahle wissen. Marina nickte. „Ich habe das Büro erst vor kurzem neu eingerichtet. Gefällt es Ihnen?“
„Es ist sehr hübsch“, meinte Marina, „schlicht, aber stilvoll. Nicht zugestellt mit unnötigem Nippes. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Wenn ich es in zwei Worten sagen solle: Einfach elegant. Waren Sie schon immer so?“
Herr von Wahle schmunzelte. „Nein, nicht immer.” Er verlor sich für einen Moment in seinen Gedanken, dann sagte er: „Lydia hat sich in dieser Welt heimisch gefühlt, aber ich nie. Auf meiner Insel ist mir das endlich klargeworden. Daher habe ich auch nicht vor, in meiner Firma jemals wieder den Ton anzugeben. Ich überlasse die Arbeit gerne anderen, die das ganze Business noch interessiert.“
„Sie haben also in Ihrer eigenen Firma nichts mehr zu melden?“, fragte Marina.
„Das stimmt nicht so ganz“, meinte Herr von Wahle, „aber es stehen zahlreiche Menschen über mir. Menschen, die so sind, wie ich früher war. Menschen, die immer mehr wollen. Und die dabei nicht merken, dass sie in Wahrheit Tag für Tag weniger haben.“
„Eine solche Einsicht könnten durchaus mehr Menschen vertragen“, meinte Marina.
„Es ist harte Arbeit. Die meisten Menschen sind viel zu sehr mit ihren Besitztümern beschäftigt und damit, was andere Leute von ihnen denken. Sämtliche Soziale Medien beweisen das. Auf meiner Insel musste ich mich mit mir selbst beschäftigen. Da fand ich Ruhe.“
„Die meisten Leute könnten sich so eine Insel nicht leisten“, sagte Marina.
„Die Insel, von der ich spreche, befindet sich nicht in der Südsee“, sagte Herr von Wahle, während er mit einem Zeigefinger auf seine linke Schläfe tippte, „sie ist hier, in meinem Kopf. Was ich getan habe, kann jeder tun.“
„Interessant“, gab Marina zu, „das hört sich so an, als wäre es einen Versuch wert.“
„Das ist es“, sagte Herr von Wahle, „aber genug davon. Ich hatte Sie am Telefon um einen Fortschrittsbericht gebeten.“
„Darf ich Ihnen vorher noch eine andere Frage stellen, Herr von Wahle?“,
„Nur zu.“
„Es ist vielleicht ein bisschen ungewöhnlich und hat mit Ihrem Auftrag an Herrn Trapington auch nichts zu tun. Es geht um meinen Sohn Frank.“
„Sie kommen zu mir? In Kinderangelegenheiten?”
„Er ist kein Kind mehr. Die Mädels drehen schon die Köpfe nach ihm um.“
„Das kann ich mir vorstellen“, meinte Herr von Wahle, „bei der Mutter.“
„Sie schmeicheln mir.“ Marina schmunzelte über den plumpen Versuch eines Kompliments. Dann fuhr sie fort: „aber genau das ist eben das Problem. Die falschen Frauen schauen sich nach ihm um.“
„Wie alt ist er denn?“
„Sechzehn.“
„Ich glaube in dem Alter kann es keine falschen Frauen geben.“
„Das ist es ja gerade“, erläuterte Marina, „er hat nichts anderes im Kopf. Ich weiß, auch das ist für einen Teenager nichts Ungewöhnliches, aber ich mache mir wirklich Sorgen.“
„Sie sind sehr fürsorglich. Doch manchmal bewirkt zu viel Fürsorge genau das Gegenteil von dem, was Sie erreichen möchten.“
„Eben darum brauche ich die Hilfe von einem Außenstehenden“, sagte Marina, „einem Menschen wie Ihnen, der sich ein ganzes Imperium alleine aufgebaut hat. Ich meine, wenn er von Ihnen lernt, wenn Sie ihn unter Ihre Fittiche nehmen, dann kann aus meinem Frank noch was werden.“
„Jetzt schmeicheln Sie mir“, sagte Herr von Wahle, „doch wie bereits gesagt, ich habe in der Firma nicht mehr den Einfluss, den ich früher einmal hatte. Aber ich werde gerne mit meinem alten Freund Simon sprechen, er ist der neue Firmenchef. Irgendwie bringen wir Frank schon unter.“
„Vielleicht irgendwo im Ausland? Sie haben auch einen Sitz in der Schweiz. Aus den Augen aus dem Sinn …“, sagte Marina.
„Hat Herr Trapington Sie also darum geschickt? Weil Sie die Männer so um den Finger wickeln? Ich muss sagen, darin sind Sie hervorragend.“
„Nein“, sagte Marina schmunzelnd, „das war meine Privat-Angelegenheit. Ich bin natürlich hier, um sie über den Fortschritt in Ihrem Fall zu unterrichten.”
„Dann schießen Sie los“, sagte Herr von Wahle.
„Was wir über Frau von Wahle wissen“, fing Marina an, „ist, dass sie sich offenbar in einen anderen verliebt hat.“
„Wie kommen Sie denn an diese Information?“
„Wir haben Spuren gefunden, die zu einer Wahrsagerin führten, die Frau von Wahle zu diesem Thema beraten hat … Ina Násowasz heißt sie.“
„Die ehemalige Besitzerin des Tempels?“, fragte Herr von Wahle.
„Sie kennen Sie?“ Das überraschte Marina.
„Nicht persönlich. Ich habe nach meinem Aufenthalt auf der Insel viel über diese“, Herr von Wahle deutete mit einer ausladenden Geste in den Raum, „alternative Lebensweise gelernt. Als ich dann nach München kam, wollte ich mich in der örtlichen alternativen Szene umsehen. Dort sprach man von Ina Násowasz mit Ehrfurcht. Doch als ich sie aufsuchen wollte, sagte man mir, dass sie ihren Laden aufgegeben hat. Keiner konnte mir sagen, wo sie wohnt. Sehr schade, ich hätte sie gerne kennengelernt.“
„Das können Sie immer noch“, erklärte Marina, „Frau Násowasz hat es nicht weit weg verschlagen.“
„Vielleicht werde ich sie einmal besuchen. Aber wie konnte sie Ihnen in Sachen Lydia weiterhelfen?“, wollte Aeneas wissen.
„Ina verdient ihren Lebensunterhalt jetzt hauptsächlich als …Wahrsagerin“, sagte Marina.
„Sie sagen das Wort so, als glaubten Sie keine Sekunde daran, dass an Frau Nasowasz’ Worten etwas Wahres ist“, meinte Herr von Wahle.
„Glauben Sie an Wahrsagungen?“, fragte Marina.
„Dazu müssten Sie erst einmal definieren, was Sie unter ‚Wahrsagen‘ verstehen“, sagte Herr von Wahle. „Wenn Sie aber meinen, dass es Menschen gibt, die Dinge sehen, die nahezu allen anderen verborgen bleiben, dann definitiv: Ja.“
„Nun, Frau Násowasz scheint eine aufmerksame Beobachterin zu sein. Offenbar kommen viele Frauen zu ihr, meistens mit der Frage, wie sie in ihrer Beziehung weiterkommen können. Lydia bat Frau Násowasz offenbar, in den Tarot-Karten und der Glaskugel zu schauen, für welchen Mann Sie sich entscheiden solle: Sie, Herr von Wahle, oder einen gewissen Alex.“ Marina beobachtete Herrn von Wahles Reaktion auf ihre Worte genau. Seine Kaumuskeln zuckten vor Anspannung.
„Und was hat Frau Násowasz Lydia geraten?“
„Sie riet Lydia, auf ihr Herz zu hören, und zu dem Mann zu gehen, den Sie wirklich liebt, ohne auf das Geld zu achten“, flunkerte Marina.
„Stattdessen hätte sie ihr beibringen sollen, sich selbst zu lieben. Aber gut … Wissen Sie, wie sich Lydia entschieden hat?“
„Nein“, behauptete Marina, „Frau Násowasz gibt nur grobe Richtlinien, keine Schritt-für-Schritt-Anweisungen. Wie sich Lydia entschieden hat, werden wir erst erfahren, wenn wir sie gefunden haben.“
„Und das ist alles, was Sie haben?“, frage Herr von Wahle.
„Ist es nicht das, was Sie wissen wollten?“, fragte Marina.
“Ehrlich gesagt, weiß ich das noch nicht.”
Herr von Wahle stand auf und ging ans Fenster, wobei er Marina den Rücken zudrehte. Sie brauchte keine Worte, um zu verstehen, dass Sie nun besser ging. Sie nahm ihre Handtasche und streckte die Finger bereits nach der Türklinke aus, als Aeneas noch einmal ansetzte.
„Wissen Sie, warum ich Sie und Herrn Trapington angeheuert habe?“ Marina hielt inne. Herr von Wahle fuhr fort: „Ich will wissen, ob sie sich ändern kann. Vielleicht möchte ich sogar herausfinden, ob wir uns noch einmal lieben könnten.” Da stand er, der große Mann, und rang um seine Fassung. Er räusperte sich kurz und einen Moment später hatte er sich wieder gefangen. „Ich kann Ihrem Sohn keine Praktikumsstelle versprechen, aber ich werde ihm ein Bewerbungsgespräch verschaffen. Wenn Simon glaubt, dass Frank fleißig und lernwillig ist, wird er ihn ohne zu zögern als Praktikanten annehmen. Auf Wiedersehen, Frau Molch. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Nachmittag.“
Zurück in der Detektei schaltete Marina wie immer zuerst ihren Computer an, bevor sie gedankenverloren in die Küche schlenderte, um sich einen frischen Kaffee aufzubrühen. Marty war noch unterwegs und sie ganz froh, dass sie im Moment nicht mit ihm reden musste. Zu viel ging ihr durch den Kopf und das Gespräch mit von Wahle ließ sie nicht los. Es hatte sie gerührt zu sehen, wie tief seine Liebe zu Lydia sein musste und etwas in ihr aufgerüttelt, von dem sie schon lange glaubte, es verloren zu haben. Diese Verbundenheit mit einem anderen Menschen. Manchmal hatte sie gedacht, Marty könnte derjenige für sie sein.
Das laute Ploppen ihres IMacs riss sie aus ihren Gedanken: Arilux hatte eine neue Information für sie. Schnell ging sie zu ihrem PC und las was auf dem Bilderschirm zu sehen war. Ein neuer Post: “Hüte sind meine neue Leidenschaft! Meet me soon auf Aniko SenchisOpening in meinem absoluten Lieblingsplace, dem Tempel! ❤ #sechilove #tempellove”, stand da, verfasst von Lydia von Wahle.
Soso, dachte Marina. Marty hatte es also irgendwie doch geschafft und Aniko Senchis Hutausstellung bei der Pfuhlmann untergebracht. Und ausgerechnet Lydia von Wahle würde zu der Vernissage kommen. Und was, wenn Herr von Wahle wirklich noch eine Chance hatte? Versuchen musste er es. Vielleicht bekam ja wenigstens einer sein verdientes Happy End. Sie griff zum Telefonhörer und wählte Aeneas Nummer.
Wie geht die Geschichte weiter?
Lies gleich weiter und finde es heraus: Kapitel 35 – Ina sieht alles
Was ist Auffällig Unauffällig“?
Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.
Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?
Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede(r) Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Marina wurde von Annika Kemmeter verfasst.


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