Kapitel 36 – Ein Ritter ohne Rüstung

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Auffällig Unaufällig – ein Gemeinschaftsroman von Alexander WachterAnnika KemmeterArina MolchanIna MaschnerLydia WünschNina LischkeVerena Ullmann und Victoria Grader.

Ist dies dein erstes Kapitel von Auffällig Unauffällig? Dann starte am besten am Anfang: Auffällig Unauffällig – Prolog

Marty war extra am Marienplatz ausgestiegen, um am Platz etwas zu essen zu holen, bevor er ins Büro ging. Er entschied sich für Sushi, denn er wusste, dass Frau Molch das liebte. Und wenn er sich richtig erinnerte, hatte sie noch nichts zu Abend gegessen. Er stellte seiner beschäftigten Sekretärin die Tüte auf den Schreibtisch. Unsicher erwartete er ihre Reaktion. In letzter Zeit hatte sich etwas verschoben, in ihrem Verhältnis. Er konnte es nicht genau auf einen Punkt festnageln, aber es gefiel ihm nicht. Es sollte wieder so wie früher sein.

“Was ist das?”, fragte Frau Molch, ohne von ihrem PC aufzusehen. Sie tippte gerade etwas in rasender Geschwindigkeit in die Tastatur.

“Ich bin zufällig am Shoya vorbeigekommen”, murmelte Marty.

Jetzt sah Frau Molch auf und ihm direkt ins Gesicht: “Ist das so?” Sie schmunzelte. 

Marty meinte sein Herz hüpfen zu spüren. Er wagte ein verschmitztes Lächeln. “Ich bin am Shoya vorbeigekommen, der Teil stimmt.“

Frau Molchs Augen hatten so einen liebevollen Zug. Er hatte ihr schon lange nicht mehr ins Gesicht gesehen. Diese verfluchte Pfuhlmann war daran schuld. Doch das würde nun hoffentlich ein Ende haben. Er hatte unterwegs einen Anruf von Frau Senchi bekommen. Ihre Ausstellung im Tempel sollte heute Abend von Frau Pfuhlmann eröffnet werden. Bis zum letzten Augenblick hatten er und Frau Senchi noch damit gerechnet, dass etwas Unvorhergesehenes dazwischenkommen würde. Aber nun waren es nur noch sechzig Minuten bis zur Eröffnung. Er hatte in letzter Zeit auch jeden freien Abend damit verbracht, abwechselnd Frau Molchs oder Frau Pfuhlmanns Haus zu observieren. Frank und Frau Pfuhlmann hatten sich zumindest in der Zeit, in der er sie beobachtet hatte, nicht mehr getroffen. Über die anderen Zeiten konnte er freilich nichts mit Gewissheit sagen. Er konnte nur hoffen.

“Frank zieht in vier Monaten nach Genf”, sagte Frau Molch. Marty war nach so vielen Jahren immer noch überrascht, dass sie seine Gedanken erraten konnte.

“Nach Genf?”

“Ja, Herr Von Wahle hat ihm einen Praktikumsplatz in seiner Tochterfirma in Genf besorgt.”

Das waren hervorragende Neuigkeiten! Marty spürte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. Das würde Frank immerhin aus der Reichweite der Pfuhlmann bringen.

Frau Molch fuhr fort: “Wir sind unsere Probleme mit dieser kinderfressenden Verena Pfuhlmann dann hoffentlich ein für alle Mal los.”

Martys Mund öffnete sich und verharrte in diesem Zustand. “Sie haben es also gewusst?”

Seine arme Frau Molch! Wie musste sie gelitten haben. Und niemanden, mit dem sie sich darüber austauschen konnte. Er fühlte die Scham über sein Versagen tief in seinem Inneren. 

“Natürlich, Marty”, sagte Frau Molch. Sie legte eine Hand auf seinen Oberarm. “Und Sie haben versucht, mich zu schützen.” Sie trat einen Schritt näher. “Marty, mein edler Ritter.”

Sie tat bloß immer so, als sei sie hart wie Stahl. Aber Marty wusste, wie verletzlich sie war, wenn es um ihren Sohn ging. Er hob seine Hände. Gerne hätte er ihr Gesicht mit ihnen umrahmt, doch er wusste nicht wie. Da nahm Frau Molch seine rechte Hand, legte sie an ihre Wange und schmiegte sich hinein. Wenn Marty nur wüsste, was man in solch einem Moment tat. Die Frauen und Männer im Inneren Sanktum zu küssen war unvergleichlich einfacher gewesen. Unsicher griff er nach Frau Molchs freier Hand, führte sie zu seinem Gesicht und schmiegte es hinein. Frau Molch hatte die Augen geschlossen, doch er wagte es nicht. Er wagte nicht einmal zu atmen.

Endlich öffnete Frau Molch ihre Augen wieder und sagte: “Danke.”

Marty konnte gar nichts sagen. Er spürte noch den Schatten ihrer Berührung auf seiner Wange. So eine kleine, zarte Berührung. So viel Wirkung. Damit hätte er nie gerechnet.

“Ich bin froh, dass es vorbei ist”, sagte Frau Molch und zupfte an ihrer Bluse. Auch damit hatte Marty nun nicht gerechnet. “Nun ja, es ist wohl auch viel angenehmer, eine zarte, weiche Wange zu berühren, als einen stacheligen Bart”, antwortete er sachlich.

Frau Molch lachte und boxte ihm gegen die Schulter. “Das meinte ich doch nicht! Ich meinte, dass die Sache mit Frau Pfuhlmann vorbei ist. Gestern Abend, als sie im Patentamt eingebrochen sind, war Frank bei ihr und hat ihr die Neuigkeiten erzählt. Ich weiß es, weil er sich hinterher bei mir ausgeheult hat. Stellen Sie sich vor, Marty: Er verkündet ihr, dass er wegzieht und sie sich nicht mehr sehen können. Und was tut sie? Sie schmeißt ihn ohne ein weiteres Wort aus ihrer Wohnung. Was für ein Miststück, nicht wahr, Marty?” Marinas Augen funkelten. Es war nur ein Moment, aber Marty hatte nie zuvor so viel Hass in Frau Molchs Augen gesehen. Das ist Mutterliebe, dachte er.

Marty nickte. Frau Pfuhlmann brachte so viel Unheil mit sich. Wie viel schöner wäre eine Welt ohne sie?

“Morgen müssen wir unbedingt hingehen.”

“Wohin, Frau Molch?”

“Zur Eröffnung von Senchilove natürlich, zur Hutausstellung. Ich möchte sehen, wie Frau Pfuhlmann Aniko Senchis Hüte preist. Wie ist es Ihnen schlussendlich  gelungen, Marty? Jetzt können Sie es mir doch verraten.”

“Ich würde es lieber nicht tun, Frau Molch”, sagte Marty.

Frau Molch sog die Luft ein und verdrehte die Augen. “Und ich hatte gehofft, die Geheimniskrämerei zwischen uns hätte nun ein Ende.”

“Sagen wir so”, wich Marty aus: “es werden hoffentlich nie wieder neue Geheimnisse dazukommen.”

Nachdem sie sich das Sushi geteilt hatten – Marty hatte sich eine Gabel geholt, mit diesen umständlichen Stäbchen kam er nicht zurecht – warf Frau Molch sich einen Schal um und ließ sich von Marty in den Mantel helfen. Dann reichte sie ihm seinen Hut. “Herr Von Wahle wird übrigens auch da sein. Ich konnte ihn davon überzeugen, dass er sich über seine Gefühle für Lydia Von Wahle am besten klar würde, wenn er persönlich mit ihr spricht. Und Lydia Von Wahle können wir gleich auch endlich live erleben …”

“Wie Sie das immer hinbekommen, ist mir ein Rätsel, Frau Molch.”

Als sie auf die Straße traten, entschuldigte sich Marty bei seiner Sekretärin. “Ich muss noch einmal hoch, ich habe etwas vergessen.”

“Wehe, Sie berühren meine Levitationslampe, Marty!”

Er schaltete den Aktenvernichter ein, zog das Foto aus seiner Manteltasche und sah zu, wie es in Streifen unten rauskam. Sorgfältig sammelte er sie alle auf und legte sie in die Feuerschale, die zu diesem Zweck in der Küche stand. Er zündete das Papier an und betrachtete die bunten Feuerzungen, die das Papier krümmten. Als alles verbrannt war, schüttete er die Asche in den Mülleimer und eilte zurück zu Frau Molch.

Sie sah ihn spitzbübisch an. Dann nahm sie eine Hand und führte sie zu ihrer Nase. “Sie haben gekokelt, Marty.”

“Ihnen kann man nichts verheimlichen, Frau Molch.”

Sie lächelte, er lächelte, seine Hand in ihrer und ihre in seiner.

Wie geht die Geschichte weiter?

Lies gleich weiter und finde es heraus: Kapitel 37 – Hüte, Hysterie und ein tödlicher Sturz

Was ist Auffällig Unauffällig“?

Neun gescheiterte Persönlichkeiten und ein Mord. Das ist die Ausgangsituation in diesem skurrilen Kriminalroman.

Alle neun Personen treffen an verschiedenen Punkten ihres Lebens zusammen. Alle werden vom Leben ausgepeitscht und scheitern auf so liebenswerte Weise, dass es fast schon auffällig ist. Die Szene-Bar Der Tempel ist ihr Treffpunkt und jeder verdächtig, den Mord an Tempelbesitzerin Verena Pfuhlmann begangen zu haben. Oder war es doch nur ein Unfall?

Auffällig Unauffällig ist ein Gemeinschaftsprojekt der Prosathek. Jede(r) Autor:in hat einen Charakter geschrieben. Marty wurde von Annika Kemmeter verfasst.


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