von Verena Ullmann Sie nimmt am Esszimmertisch Platz. Ihre bordeauxrot lackierten Nägel klappern auf der Tischplatte. Der Steinboden glänzt unter ihren Stilettos. Das Feuer im Kamin taucht den Raum in ein zauberhaftes, weiches Licht. Frank Sinatra beginnt im Wohnzimmer zu singen, kleine Glöckchen erklingen … alles ist perfekt für ihre kleine Weihnachtsfeier, stellt sie fest….
Kategorie: literatur
Ein Holzhaus am See (oder Homeoffice 2020)
von Annika Kemmeter Ein Holzhaus am See. Umgeben von Bäumen, von Libellen umschwirrt. Über dir ein Zwitschern in den Ästen, vor dir raschelt das Schilf, sonst ist Ruhe. Als hätte das Haus seine hölzerne Wand heruntergeklappt, liegt die Veranda vor dem schattigen Raum. Ein Stuhl, ein Tisch und ein Laptop. Kein Netz, kein Radioempfang. Ruhe….
Flashback
Als Kind habe ich meine Mutter nicht verstanden. Ich habe die gemachten Betten, die nach Weichspüler duftenden, weißen Gardinen und die fein säuberlich zusammengelegte Wäsche auf dem Maltisch in meinem Zimmer für selbstverständlich gehalten. Meine zwei Puppen und den Spielzeugstaubsauger, die kleine Kommode und das Plastikbügeleisen habe ich von meinem Vater geschenkt bekommen. Seine Arbeit hat damals einfach mehr Sinn ergeben. Davon konnte man sich schließlich etwas kaufen.
Bücher, aber unwahrscheinlich
von Arina Molchan Bücher, die es wahrscheinlich (noch) nicht gibt: Leserezensionen, gebunden, aber rein ausgedacht: Ein Roman in Tagebuchform über einen Vielleser. Jeder Eintrag beginnt mit der wortwörtlichen Widergabe des Buchrückentextes, gefolgt von seinen Gedanken und Gefühlen zum jeweiligen Werk. Der Clou: Alle erwähnten Bücher sind fiktiv und existieren gar nicht. Die Welt des Viellesers…
Der Pfanne zuhören
von Annika Kemmeter Die alte Frau hieß Magarete, so lange sie Arbeitskolleginnen hatte. „Magarete, du glaubst nicht, wo ich den Chef gestern gesehen habe!“ So viel Gerede. Die alte Frau konnte sich nicht erinnern, worüber sie, bei Gott, all die Tage gesprochen hatten. Gretel hatte sie als Kind geheißen. So hatte sie zuletzt nur noch…
Teigmännlein
von Sophia Thomsen. In meiner Welt gibt es nichts, was irgendwem von Nutzen sein könnte. Kinderschuhe aus Zeitungspapier. Eine Krone aus Angelschnur. Ein Grillhähnchen aus Wachs. Dazwischen zerfällt ein Nachtfalter. Das ist unsere lange Straße. Vor den verstaubten Auslagen sitzen die Händler und halten untätig ihre schlanken Hände im Schoß gefaltet. Die Gesichter haben sie…
Frühstück to go
von Verena Ullmann Guten Morgen! Schön, Sonne! Raus auf die Straße. Schlafanzug. Egal. Ich will jetzt einen Kaffee! Kaffeeee! Oder auch ein Eis. Himbeer am liebsten! He Sie! Geben Sie mir! Was? Ja was „Was“?! Ein Himbeereis sofort! Läuft weg, der Mensch. Komischer Mensch. Ich laufe hinterher. Er schreit. Ich auch. Hilfe! Ich will doch…
Ein gewogenes Leben
von Ina Nádasdy Julian hörte einfach auf zu essen. Er erinnerte sich noch genau an den Tag. Es war ein sonniger Dienstag. Ana war bei ihm gewesen. Sie hatte ihm gesagt, was er tun soll. Dass er jetzt das Stück Pizza wegwerfen solle. Aber so, dass es niemand sieht. Damals war er erst sechzehn gewesen….
Fischen
von Victoria Grader Gegenüber der Mädcheninsel, auf dem Festland von Kadiköy sitzen zwei Männer auf der Steinbrüstung und schauen aufs Meer. Ihre Angelruten sind ausgeworfen und lehnen an der Mauer hinter ihnen. Zafir, der ältere von beiden, hebt die Nase in die Luft, atmet die salzige Brise ein, kneift die Augen zusammen und sucht den…