Voraussichtlich ab 15. November 2023 bei lokalen Buchhändlern und online (z. B. bei RandomHouse und dem sozialen Buchhandel buch7) zu erwerben.
Aus dem Debütroman von Ina Maschner
Zu Hause ist es am schönsten
Ich fegte mit meiner Hand den Abrieb des Radiergummis von meiner Zeichnung und pustete die restlichen Gummikrümel, die noch am Papier klebten, fort. Ich betrachtete mein Bleistiftwerk. Ich hatte einen Garten gezeichnet mit einem Torbogen im Mittelpunkt, unter Berücksichtigung des Goldenen Schnittes. Der Torbogen war überwuchert mit Efeu. Im Hintergrund befand sich, ganz klein, eine schemenhafte Kapuzengestalt. Das Zeichnen der einzelnen Efeublätter um den Bogen war das schwierigste, aber ich hatte es geschafft. Ich war sehr stolz und zufrieden mit meinem Werk.
Plötzlich fing der Raum an, sich um mich zu drehen. Ich sah das Zimmer nur noch verschwommen. Dann ließ der Schwindel nach. Das war doch nicht schon wieder …?
Ich griff nach meinem Smartphone und sah auf das Display. 16:32 Uhr. Ich massierte meine Schläfen. Es war schon wieder passiert. Ich war so sehr in meine Zeichnung vertieft gewesen, dass ich Essen und Trinken vollkommen vergessen hatte. Das rächte sich nun.
Vorsichtig stand ich auf. Nur nicht zu schnell. Nicht, dass der Schwindel wiederkam. Dann ging ich hinunter in die Küche. Noch bevor ich die letzte Stufe der Treppe erreicht hatte, hörte ich die Stimme meines Vaters: »Hedwig, hol mal die Post von draußen rein!«
»Ja, mach ich«, rief ich zurück und trat durch die Haustür ins Freie. Die Sonne schien, und es war angenehm warm. Ich liebte Sommertage und Sonnenschein. Die Welt war in ein wundervolles Licht getaucht, und die Natur zeigte sich von ihrer besten Seite. Kurz genoss ich die Strahlen in meinem Gesicht und die Aussicht um mich herum. Ich nahm mir vor, öfter draußen zu sitzen und zu zeichnen.
Unser Haus war nichts besonderes. Es war ein Reihenhaus aus den 1960ern am Rande von Innsbruck. Im Hintergrund ragten imposant die mit Schnee bedeckten blauen Berge der Alpen empor.
Das obere Viertel des Hauses war mit Holz verkleidet, die Balkone sowie die Fensterläden waren ebenfalls aus Holz, das im Sonnenschein in einem warmen Hellbraun mit leicht orangener Färbung leuchtete. Das Haus fügte sich ins Gesamtbild des Viertels und stach nicht heraus. Es war wie jedes andere Haus in der Straße. Der Garten war gepflegt, aber nicht bemerkenswert.
Dann ging ich zum Briefkasten und holte die Post. Auf dem Weg zurück ins Haus sah ich die Sendungen durch. Darunter waren das Billa-Flugblatt mit den aktuellen Angeboten der Woche, ein Modekatalog, den meine Mutter immer durchblätterte, ein Brief von der Versicherung an meinen Vater, ein Brief von Greenpeace – sicherlich ein Spendenaufruf – und – ich konnte es kaum glauben und hätte fast alle anderen Sendungen fallen lassen – ein Brief an mich von der Akademie der bildenden Künste Wien.
Vor einiger Zeit hatte es mich gepackt, und ich hatte mich an der Kunsthochschule in Wien beworben, beseelt von dem Traum, Bildende Kunst zu studieren. Zeichnen war meine Leidenschaft, und ich wollte mehr lernen. Das Studium versprach eine vielseitige Ausbildung: eigene Formsprache, neue Techniken und Wahrnehmungsschärfung. Auch das wissenschaftliche Arbeiten faszinierte mich. Die Chance zur Zulassung stand günstig, und nach der Prüfung kam endlich die ersehnte Zusage.
Jetzt, Ende Mai, hielt ich einen Brief von der Akademie in den Händen. Ich sprang vor Freude in die Luft und ein quietschender Laut der Freude entwich mir. Ich freute mich wie ein kleines Kind, buchstäblich wie ein Honigkuchenpferd.
Ich lief zurück ins Haus. Ich musste meinem Vater davon erzählen! Ich spürte ein Kribbeln in meinem ganzen Körper, eine vitale Energie, die mich durchfuhr und dann ein Stich in den Magen. Ich blieb stehen und sah an die leere Wand. Ich fühlte mich plötzlich eben so leer wie es der Flur war. Ich konnte mich erinnern, dass eben hier die Medaillen und Pokale meines Bruders präsentiert wurden. Heute war davon nichts mehr zu sehen.
Dann hörte ich sie. Eine Stimme in meinem Kopf, sanft wie Watte, aber intensiv und klebrig wie geschmolzener Zucker.
Kannst du deinem Vater wirklich davon erzählen? Denkst du, er würde sich für dich freuen? Du kennst ihn doch. Er ist Realist, durch und durch. Träume sind Schäume, das sagt er doch immer.
Aber vielleicht, dachte ich, könnte ich ihm begreiflich machen, wie wichtig dieses Studium für mich wäre. Was für eine großartige Chance diese Zulassung für mich böte.
Eher würde er dein Bestreben, Künstlerin zu werden, nicht unterstützen. Zu unsicher, kein festes Gehalt. Was soll denn aus dir werden?
Was, wenn ich ihm Unrecht tat, fragte ich mich. Er machte sich nur Sorgen um mich. Er wollte doch nur, dass es mir gut ging. Ich beschloss, es einfach zu versuchen. Ich würde ja sehen, wie er reagieren würde.
Na klar. Renn in dein Verderben. Schön in den Abgrund hinunter.
Ich spähte in unsere Küche. Zuerst fiel mein Blick auf ein Blechschild, auf dem mit großen, geschwungenen Lettern stand: Zu Hause ist es am schönsten.
Mein Vater spülte Töpfe und Pfannen ab, während er in seinen weißen Bart hineinfluchte. Es roch nach geschmolzenem Käse, Tomatensauce und etwas Eisenhaltigem … Hackfleisch, vermutete ich. Dem Geruch nach hatte mein Vater Lasagne gemacht. Überlagert wurde der Geruch vom Zitronenduft des Spülmittels.
Ich legte die Post auf die Anrichte. Danach goss ich Orangensaft in ein Glas und leerte es in einem Zug.
»Papa«, sagte ich.
Als Antwort bekam ich ein undefinierbares Geräusch, das sich mehr nach einem Husten anhörte als nach einer kommunikativen Entgegnung. Das kannte ich von ihm. Er drehte sich nicht mal zu mir um. Ich spürte einen Stich in der Brust, atmete tief durch und straffte meinen Rücken.
»Ich habe mich entschieden«, versuchte ich es wieder. Irgendwie hoffte ich immer, dass mein Vater sich doch noch einmal zu mir umdrehte und mir zuhörte. Wenigstens einmal.
Er fluchte etwas, während er eine Auflaufform schrubbte. Der eingebrannte Käse wollte sich wohl nicht wegwaschen lassen. Dann schwieg er wieder, vertieft in seine Arbeit.
»Bist du wütend?«, fragte ich.
»Ich bin nicht wütend«, fuhr er mich an.
Eine Weile stand ich still neben ihm und hoffte darauf, dass ihm doch noch einfiele, dass ich hier war. Eine Minute verging. Dann die zweite.
Ich nahm ein Geschirrtuch zur Hand und trocknete die Sachen ab, die mein Vater abgespült hatte.
Dritter Versuch, dachte ich. »Weißt du, ich habe mir überlegt …«
»Ich muss noch einkaufen«, stöhnte er. »Ich muss doch wirklich alles alleine machen!« Er trocknete seine Hände ab und fuhr sich dann durch das graue Haar.
Mein Mund öffnete sich, aber bevor ich etwas sagen konnte, hörte ich wieder die Stimme.
Lass es einfach. Diesen Kampf kannst du nicht gewinnen. Halt lieber den Mund. Du machst es sonst nur schlimmer, und dann bist du schuld, wenn der Haussegen schief hängt.
Ich nickte innerlich und wollte gerade gehen, aber dann … dann hörte ich es: ein ganz leises Geräusch. Als ob jemand einen Finger auf die Lippen legte und leise Psst machte. Psssst. Pssssst …
Es war nicht meine bekannte, zuckrig klebrige Stimme in mir. Ich drehte mich um. Aber niemand war in der Küche außer mir und meinem Vater. Ich schaute noch in den Flur hinaus. Aber wir waren wirklich allein. Dann hörte ich es wieder. Psssst. Es klang, als wäre es ganz nah an meinem Ohr. Als stünde jemand hinter mir. Ich drehte mich erneut um, aber da war nichts.
»Hörst du das?«, fragte ich.
Mein Vater sah zum ersten Mal auf und lächelte. Es war ein Lächeln, das nicht seine Augen erreichte, sondern nur sein Gesicht verzerrte. »Ich höre nur einen Haufen Arbeit, der nach mir ruft.«
Ich verdrehte die Augen. Mein Vater sah nur das, was nicht erledigt wurde.
Wieder hörte ich das leise Pssst. Woher kam es?
War es das Surren des Kühlschranks? Oder die Heizung? Konnte das sein? Ich ging zu den beiden vermeintlichen Verursachern und horchte. Aber die Heizung war aus und gab kein Geräusch von sich. Der Kühlschrank schnurrte wie eine Katze vor sich hin. Auch er war nicht für dieses Pssst verantwortlich.
»Sieh dir das an«, sagte mein Vater mit einem Lächeln, das ebenso echt war wie Margarine echte Butter war.. »Kochen ist wirklich eine Traumarbeit.« Der Sarkasmus, den er an den Tag legte, troff aus jeder Silbe.
»Du musst das doch nicht tun«, sagte ich. Meine Stimme war leise, und trotzdem kam sie mir hoch und brüchig vor. Um meine Unsicherheit zu verstecken, legte ich das Geschirrtuch sorgfältig über den Griff des Backofens.
»Das verstehst du eh nicht. Außerdem: Wer sollte es sonst tun?«, blaffte er. »Du?«
»Franz hat das doch auch gemacht«, sagte ich.
»Ist auch egal jetzt«, fuhr er mich an. Was er allerdings meinte, war: »Sprich nicht von deinem Bruder«. Sein Gesicht verfinsterte sich. Seine Augen waren zugekniffen, seine buschigen Brauen zusammengezogen, seine Lippen nur noch ein dünner Strich. Eine Ader an seiner Stirn stand leicht hervor und pulsierte.
Du weißt es doch besser, Hedwig. In diesem Haus spricht man nicht über Franz.
»Entschuldige«, antwortete ich fast tonlos und wusste nicht, ob ich mich bei meinem Vater oder der Stimme in meinem Kopf entschuldigte.
»Wie du meinst, egal«, sagte er nur und setzte seine Klagen fort: »Alles muss ich alleine tun!« Dann sah er mich eindringlich an. »Aber schön, wie du deine freie Zeit hier nutzt und dich durchfüttern lässt.«
Ich verließ mit schnellen Schritten die Küche. Ich fühlte, dass mein Körper einige Millimeter an Größe verloren hatte.
Darüber hatte ich ja mit dir reden wollen, dachte ich, sprach es aber nicht aus. Mit meinen sechsundzwanzig Jahren hatte ich mir natürlich etwas Zeit gelassen, aber ich wollte einfach sicher sein. Mit achtzehn Jahren hatte ich die Matura erhalten, und danach lag ich nicht etwa auf der faulen Haut, wie es mein Vater vermutete. Ich hatte Praktika gemacht und kleinere Jobs ausprobiert. Meinen letzten Job, Büroarbeiten in einer kleinen Kunstgalerie, hatte ich schweren Herzens kündigen müssen, da sich meine Eltern mehr Unterstützung von mir erwarteten. Mein Vater wollte Hilfe im Haushalt, meine Mutter wollte mich als stille Gesellschafterin. Das Richtige war also nicht dabei. Aber mein größter Wunsch war mir schon früh klar gewesen: ein Kunststudium in Wien.
Leider war Wien an die fünf Stunden von uns entfernt. So sehr ich Innsbruck liebte mit seiner romantischen Altstadt und den Bergen im Hintergrund, hätte ich aber in Wien viel mehr Möglichkeiten. Obwohl meine Eltern noch nie begeistert von der Idee waren, dass ich Künstlerin werden wollte, war es all die Jahre mein Traum geblieben. Und er gedieh jeden Tag ein bisschen mehr.
Ich hatte mich nur nicht getraut, ihn zu verwirklichen. Dafür hätte ich nach Wien ziehen müssen.
Dort wärst du ganz allein gewesen.
Und noch schlimmer, dachte ich. Ich hätte meine Eltern allein gelassen. Meine Mutter war zwar oft schwierig, aber ich wusste, dass sie sich davor fürchtete, einsam zu sein. Und mein Vater brauchte Hilfe mit ihr und dem Haus.
Ist das dein Problem?
Sie hatten sich so lange um mich gekümmert. Ich konnte nicht so undankbar sein und einfach gehen. Franz war ja schon weg. Isabel, meine kleine Schwester, konnte ich hier nicht alleine lassen. Nur, damit ich woanders leben konnte.
Einmal hatte ich es versucht. Es war an einem Sonntag. Ich saß auf der Couch im Wohnzimmer und suchte über meinen Laptop eine Wohnung in Innsbruck. Mein Vater hatte nur gelacht, als er davon erfuhr: »Du könntest doch gar nicht alleine leben. Wie stellst du dir das vor?«
Außerdem: Ich war ja schon zu viel weg, als ich noch in der Galerie gearbeitet hatte. Wie sollte es dann erst werden?
Ich stieg die Treppen zu den Schlafzimmern meiner Familie hoch. Heute erschien mir der Flur entsetzlich lang und trostlos. An der Wand hingen keine Familienfotos, sondern Ölgemälde von Landschaften. Auf der Kommode stand eine Vase mit Trockenblumen. Eigentlich mochte ich die Gemälde, aber heute kamen sie mir trist und düster vor. Ebenso die Blumen. Heute sah ich sie an und dachte, das Leben sei vollständig aus ihnen entwichen. Ein Lufthauch und sie würden zu Staub zerfallen. Schnell ging ich weiter, denn der Gedanke betrübte mich.
Mein Zimmer lag neben dem meines Bruders Franz. Er war vor Jahren ausgezogen, versprach aber, dass er bald wieder heimkommen würde. Keiner von uns betrat jemals sein Zimmer. Wenn er wiederkam, würde alles so sein, als wäre er nie weg gewesen. Auf der anderen Seite meines Zimmers lag das meiner Schwester Isabel.
Sie hat die besseren Anlagen geerbt. Ihr Haar ist viel fülliger und perfekt gelockt. Deines hängt nur kraftlos herab.
Ich strich meine dünnen Haare, die ich zu einem Zopf gebunden hatte, über die Schultern nach vorne und drehte Strähnchen.
Isabel ist auch die mutigere von euch. Sie kommt aus sich heraus und steht gern im Mittelpunkt.
Das stimmte. Es war nicht so, dass es nur um sie gehen sollte, aber sie mochte es, gesehen zu werden. Ich hingegen lebte in mir zurückgezogen.
Ich drehte mich zur Tür am Ende des Flures. Dahinter lag das Zimmer meiner Mutter Margarethe, Gretel wie sie von allen genannt wurde. Ich wollte mit ihr reden, um ihr von meiner Unizulassung zu erzählen. Vielleicht hatte sie heute einen guten Tag und würde stolz auf mich sein. Ich klopfte leise an. So, dass ich sie nicht wecken würde, falls sie schlief, aber es hören könnte, wenn sie wach wäre.
»Was?«, dröhnte es zu mir hinaus. Ich musste schlucken. Das klang nicht nach einem guten Tag.
»Hörst du nicht, dass ich schlafe?«, schrie sie aus dem Zimmer heraus.
Sie will dir auch nicht zuhören. Sieh es doch endlich ein. Deine Eltern scheren sich nicht um dich. Du bist nicht wichtig.
»Entschuldige, Mama«, flüsterte ich und ging.
Sie erinnerte mich immer mehr an meine Großmutter, die bis zu ihrem Tod im Haus nebenan gewohnt hatte. Sie war eine sehr harte Frau gewesen. Viele Kinder aus der Nachbarschaft fürchteten sich vor ihr. Je älter ich wurde, umso mehr fürchtete auch ich mich. Egal, wann ich nach Hause kam, ging der Vorhang am Fenster beiseite, sie lauerte dort und beobachtete mich. Als sie schließlich starb, blieb der Vorhang an seinem Platz. Nur manchmal, wenn ein Luftzug ihn bewegte, dachte ich noch nach vielen Jahren, dass sie dort stünde, um mein Heimkommen zu beschatten. Mehr Kontakt gab es nicht. Weder besuchten noch redete meine Familie und sie je miteinander. Ihr Haus wurde schließlich verkauft. Die neuen Nachbarn kannte ich bis heute nicht.
Wieder hörte ich das Geräusch von vorhin. Psssst. Pssssst. Pssssssst.