Licht

2–3 Minuten
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von Arina Molchan

Um 22:53 Uhr, am 11. August 1999 verlangsamte eine dänische Physikerin das Licht. Dieses war zuvor mit vagen 1.080.000.000 Kilometer die Stunde unterwegs gewesen, und dann, einen halben Augenblick später, verlor es all die Nullen und Nachkommastellen und kroch mit 61 Stundenkilometern durch den Versuchsraum. Wie furchtbar anders ihm die Welt vorgekommen sein musste…

Einen Bruchteil der Sekunde davor war es noch, etliche tausend Kilometer von dieser verhängnisvollen Falle entfernt, über neblige Morgenfelder geflohen, hatte sich durch die fragilen Beine von Fischreihern geschlängelt, das Rohr eines Gewehrs entlang, in das Auge eines Jägers.

Natürlich war es nicht das Licht, sondern nur Teilchen davon, die sich wie Körner über die Welt verstreuten, als hätte irgendwann, irgendeine Göttlichkeit den Salzstreuer umgekippt. Vielleicht waren genau diese Teilchen gar nicht da gewesen bei der Entschleunigung.

Vielleicht waren sie vom Jäger zu mir geeilt – klopften an, kamen aber nicht hinein. Da waren die abgesenkten Rollladen, die zugezogenen Vorhänge und eine plüschrosane Schlafmaske.

Den Moment also, in dem das Licht sich fangen ließ, verschlief ich.

Neben meinem Bett, auf dem Boden, stand ein ungewaschener Porzellanteller, mit dem gewellten Rand und den Krümeln des Mitternachtssnacks. In meinem Traum: ein anderer Teller. Firmamentgroß, schattenseitig und außerweltlich. Unter ihm: ein anderes Ich – das Traum-Ich – und  ganz viel Licht.

Zwei Jahre und drei Monate später, um 10:45 Uhr: Dieselbe Frau – das Licht hätte es wissen müssen – dieselbe Frau ging einen Schritt weiter. Sie drückte einen Knopf, schleuderte Strahlen in eine kalte Masse und – stoppte das Licht. Hielt die ewige Flucht an. Fror seine Erinnerung an vorhin ein: an das karge Feld, bedeckt mit dem ersten Schnee und Wildtierspuren, an die Federn der aufgescheuchten Raben und an die leeren Augenhöhlen eines Körpers.

Währenddessen saß ich vor meinem Teller und spürte nichts vom Rütteln an den physikalischen Grundpfeilern. Im Hintergrund sprach das Fernsehen über eine Reihe mysteriöser Tode in einer abgelegenen Gegend. Leichen im Schnee. Ich hörte kaum zu. Stattdessen wagte ich einen Blick über den Tellerrand. Dort sah ich die wassergeschädigte Tischplatte, gewellt wie mein Teller, eine Zeitung, ein Glas und nichts mehr. Ich bildete mir ein, dass dies Charakter zeigte – so ein Tisch, so ein Teller. Ich schob die Zeitschrift näher und las erneut meinen kleinen Text am Rand – den unscheinbaren – neben den großen Weltverschwörungstheorien: „Fliegende Untertassen über Sachsen gesichtet“. Das war mein großer Beitrag, mein Geschenk an die Menschheit. Diese Wahrheit.

Ein Lichtstrahl verfing sich im Wasserglas und ich trank ihn aus.


4 Antworten

  1. Arrogant | Prosathek

    […] langsam mit der Zunge über die Zähne, signalisiere, dass sie aufhören soll, diese Folter. Das Weiß lächelt verwirrt. Ich lecke nochmal. Mit Nachdruck. Und nochmal. Sie muss doch verstehen. […]

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  2. Deutschlandwetter | Prosathek

    […] Schatten rollen. Lust haben, die Hände in einen Eiskübel zu stecken. Die Mittagshitze meiden. Das Licht beißt in die Augen. Mittags noch mal losmüssen. Sengende Strahlen. Nichts wirft Schatten. Die […]

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  3. Der Traum | Prosathek

    […] Fiel er aus der Hand oder hat sie ihn geworfen? Ihn vielleicht sogar nach dir geworfen? War es ein Traum oder Realität? Ist das der Grund, wieso du heute Nacht alleine schläfst, mich boxt und mir das vergilbte […]

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  4. Horrorfilm | Prosathek

    […] dem Licht fällt auch das Lied der Schlange in die Nacht, gedämpft zwar, aber die Ohren der Wallabys wackeln […]

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