von Annika Kemmeter
Wir stehen nebeneinander und warten darauf, dass jemand die Tür öffnet. Ich sehe Daniel an, der mir die Hand auf die Schulter gelegt hat. „Hast du keinen Schlüssel?“ Da geht die Tür auf.
„Ah, da seid ihr ja!“, sagt eine fröhliche Frau, schlank und hübsch, natürlich schon älter aber ihre blondgefärbten langen Haare lassen sie fast jugendlich wirken. Ich erkenne sie von den Fotos in Daniels Wohnung wieder.
„Das ist Liane“, sagt Daniel. Seine Mutter nimmt mich in die Arme und gibt mir links und rechts ein Küsschen. Überrascht von der unerwarteten Herzlichkeit, schließe ich auch meine Arme hinter ihrem Rücken und küsse die Luft neben ihren Wangen. „Was für tolles Haar du hast“, jauchzt sie und greift hinein. Meine Hand fährt prompt in meine Spitzen. Ich kann nicht mal danke sagen, bevor sie mich zwinkernd auffordert: „Du musst mir alles über dich erzählen!“ Leichte Panik bei der Vorstellung, mein Leben gedanklich sofort zu einer Erzählung umzubauen, doch da hebt sie schon den Wäschekorb neben sich auf. „Nachher!“, ein Seitenblick zur Schmutzwäsche, dann drückt sie sich mit einem Lächeln zwischen Daniel und mir durch die Eingangstür zum Aufzug.
„Der Wäschespeicher ist oben“, erklärt Daniel. Das „Freut mich, Sie kennenzulernen“ klebt ungesagt an meinen Lippen.
Ich folge ihm durch den dunklen Flur. Es riecht nach Staub. An einer Garderobenstange hängen alte Mäntel. Freie Bügel gibt es nicht und offenbar zieht man hier seine Schuhe nicht aus. Hinter der Dunkelheit kommt die Küche, in der ein Mann steht. Sein riesiger Bauch hängt über die Bermuda-Shorts. Um dem Gesicht eine Kontur zu geben, steht ein kleines Bärtchen über dem Doppelkinn: dort, wo das Kinn eigentlich aufhören müsste. Er sieht aus, wie ein gigantischer Teddybär. Und seinem Bruder überhaupt nicht ähnlich.
„Boah, als du das letzte Mal hier warst, hat das Klo danach gestunken, wie eine Gasfabrik!“ Daniel wird rot. „Ich wäre fast umgekippt, die anderen Jungs auch.“
„Das ist Liane“, sagt Daniel und zeigt auf mich.
„So?“ Es klingt mehr wie ein Seufzer. Nicht länger als eine halbe Sekunde ruht sein Blick auf mir, bevor er sich wieder den Pfannen zuwendet. Es riecht köstlich nach gebratenen Bohnen, Paprika, Knoblauch. „Schön, dich kennenzulernen“, sage ich, aber er hört mich nicht.
Wir verlassen das Brutzeln und gehen weiter ins Esszimmer. Die Möbel sind herrschaftlich, ein Kronleuchter prangt über einer massiven Tafel aus Eichenholz, Kristallgläser und filigranen Porzellanfiguren bevölkern die Vitrinen.
„Mimi“, ruft Daniel in den oberen Stock der Maisonettewohnung, „komm runter!“
„Nö!“, höre ich eine junge Mädchenstimme.
„Doch, ich will dir Liane vorstellen!“
Ein Stöhnen, gefolgt von Schritten und einem Poltern auf der Treppe. Mimi sieht aus wie Daniel und wie Daniels Mutter. Erst durch sie fällt mir die Ähnlichkeit zwischen Daniel und Frau Maurer auf und erweckt endlich ein Gefühl von Vertrautheit. Ich lächle. „Hallo, ich bin Liane“, sage ich und reiche Mimi die Hand. Daniel hat mich natürlich vorher gebrieft, ich weiß, dass Mimi mit ihren zwölf Jahren ein Nachzügler ist, eher ungewollt. Mimi macht so was wie einen Knicks. Dann schweigt sie.
„Setzen wir uns doch“, sagt Daniel ungewöhnlich steif und macht es uns vor. Ich kenne ihn ungezwungen, heiter, als einen Anführer. Wir setzen uns an den Tisch. Das Stoffpolster meines Stuhls drückt sich unter meinem Po auf die Dicke eines Tischdeckchens zusammen. Seine Ränder stehen unberührt weiter aufrecht. Wir wissen nicht, worüber wir reden könnten. Mir fallen nur Fragen zur Schule ein, und ich weiß, wie ich selbst diese Fragen gehasst habe: Was sind deine Lieblingsfächer? Was willst du mal werden, wenn du groß bist? Mimi nimmt sich eine der herumliegenden Zeitschriften und schlägt das Kreuzworträtsel auf.
„Willst du auch ein Wasser?“, fragt Daniel. Eine leichte Berührung an meiner Schulter. Ich nicke und er steht auf, um mir eines aus der Küche zu holen. Zu meiner Erleichterung kommt Daniels Mutter zurück und setzt sich neben mich.
„Daniel hat erzählt, dass du kein Fleisch isst – und, also bei uns gibt’s sonntags immer Schweinebraten. Ich hoffe, es verdirbt dir nicht den Appetit, wenn wir den essen. Für dich haben wir natürlich was anderes vorbereitet.“
„Nein, um Gottes Willen“, sage ich. „Lassen Sie sich von mir nicht in ihren Bräuchen stören! Und vielen Dank!“
Daniels Mutter fährt mit ihren Fingerrücken über meine Wange. „Du kannst mich ruhig duzen: Brigitte.“ Dann steht sie auf. „Ich hole mal Daniels Vater.“
Ich weiß von Daniel, dass sein Vater in der Nachbarwohnung eine Anwaltpraxis hat. Daniel hatte ihn als streng, aber im Herzen liebenswürdig beschrieben, was mich an meinen Großvater erinnert hatte. Ich nippe an meinem Wasserglas. Durch die Glastür zur Terrasse sehe ich eine schnelle Bewegung, dann höre ich den Hund. „Könnte mal jemand den Hund reinlassen?“, bellt Daniels Bruder aus der Küche. Daniel springt auf und lässt einen gigantischen, blonden Hund herein, der sofort auf mich zugaloppiert und meine Beine und Hände beschnuffelt.
„Ist ein Rhodsian Ridgeback. Gezüchtet um zu dritt ein Rudel Löwen zu treiben“, sagt Mimi ohne aufzusehen.
„Hey, Thor, lass Liane in Ruhe, hopp, ab in deinen Korb!“, befiehlt Daniel, aber der Hund hört nicht.
Daniels Bruder erscheint im Esszimmer: „Ssst, Thor, Körbchen!“ Sein Kopf schnickt dabei leicht zum Korb. Der Hund verzieht sich.
„Ah, Liane, richtig? Sie sind es also! Wir sind froh, Sie endlich kennenzulernen! Ist doch immer gut zu wissen, wem man seine Liebsten anvertraut!“ Daniels Vater kommt in seinem weißen, über dem Bauch spannenden Hemd, seiner schicken scharzen Hose und seinen glänzenden Lackschuhen auf mich zu. Meine Hand wird herzlich geschüttelt. Seine Augen sind von gutmütigen Lachfältchen umgeben. Ich lächle aufrichtig, er macht einen netten Eindruck.
„Schön, Sie kennenzulernen. Daniel hat mir schon viel von Ihnen erzählt. Also von der ganzen Familie.“
„Schön, schön!“, ruft Daniels Vater. „Sie sind ja jetzt also auch Teil dieser Familie, also herzlich willkommen!“
„Danke.“
„Ich bin übrigens Rolf“, sagt Daniels Bruder und streckt mir seine Hand hin. Ich schüttele sie. „Liane.“
„Also, wie wäre es mit einem Aperitif?“, schlägt Brigitte vor.
„Au ja!“, ruft Mimi und alle lachen.
„Für dich nicht, du Naseweis“, sagt ihre Mutter liebevoll. Rolf geht in die Küche, Brigitte holt Kristallgläser aus dem Schrank und stellt sie auf den Tisch. „Räum die Zeitschriften weg, Schätzchen, ja?“, sagt sie zu Mimi.
„Und Sie? Kommen also aus… Frankreich?“, fragt Daniels Vater.
„Ja, aber meine Mutter ist Deutsche.“
„Ah, deshalb das gute Deutsch!“ Daniels Vater nickt.
„Liane hat vom dritten bis zum sechsten Lebensjahr in Deutschland gewohnt“, erklärt Daniel.
„Tatsächlich“, sagt Daniels Vater, „die Kindergartenjahre! Sehr gut! Rolf, brauchst du Hilfe mit dem Sekt?“ Er ist schon auf dem Weg in die Küche. Mimi hinterher, eines der Gläser in der Hand.
„Langsam mit dem Sektglas, Mimi!“, ruft Brigitte. Sie schaut mich verschwörerisch an. „Kinder, was?“ und zuckt schmunzelnd die Achseln.
Mimi hat ihr Glas mit Orangensaft gefüllt. Rolf kommt mit großer Geste zurück ins Esszimmer, den Vater im Schlepptau: „Lass mich das doch machen!“
„Meinst du, ich bin zu blöd, um Sekt einzugießen?“
Brigitte verteilt die vollen Gläser an Daniel, ihren Mann, an Rolf und nimmt sich selbst das letzte. „Na dann Prost!“, sagt sie, „auf Liane! Unser neues Familienmitglied, wie Heinrich so schön gesagt hat!“ Sie zwinkert ihrem Mann zu. Ich stehe unschlüssig am Tisch. Merkt keiner, dass ich kein Glas bekommen habe? Ich sehe Daniel an, der schon im Kreise prostet, dann dreht er sich strahlend zu mir und stockt. „Oh, Liane, hast du gar kein Glas?“
„Sie hat ja ein Wasserglas“, sagt Brigitte. „Stoß doch mit dem Wasser an, Liane, wir sind da sehr offen! Es muss ja kein Alkohol sein.“
„Ich selbst trinke fast nie etwas!“, sagt Daniels Vater. „Übrigens: unter meinen Bürodamen sind fast nur Muslime!“ Meine Gedanken verknoten sich mitten in ihrem Gang.
„Ich bin keine Muslimin“, wende ich ein, doch Daniels Vater redet weiter: „Aus Libyen und Syrien und eine ist auch Französin, wie Sie, Liane! Aus welchem afrikanischen Land stammt sie jetzt noch mal? Brigitte? Mensch, dass ich das immer vergesse!“
„Ich hab‘s auch nicht mehr auf dem Schirm“, sagt Brigitte.
„Jedenfalls sind das die besten Mädchen! Zuverlässig wie Taschenuhren! Und nichts im Vergleich zu den Deutschen, die wir hier hatten! Die haben den ganzen Tag nur Nägel gefeilt!“
„Oh, das stimmt“, sagt Rolf, „erinnert ihr euch noch an Nadine, diese Zicke?“ Alle rollen die Augen und nicken zustimmend. Dass Daniel über Leute herzieht, ist neu, vermerke ich in meinem Kopf. Und bisher hat er auch alle Missverständnisse, was mich anging, gleich aufgeklärt. Wird er gar nichts sagen?
„Es ist schön, dass sie so ein Glück mit ihren Sprechstundenhilfen haben“, beginne ich, da posaunt Rolf erneut: „Oder diese Anne-Sophie! Mein Gott! War die eingebildet!“
Daniels Mutter macht ein nachdenkliches Gesicht. „Und dazu noch dumm. Wie eine Gans.“
Ich gebe vorerst auf und nehme ein Schluck Wasser. Als alle Sprechstundenhilfen in ihren herausragendsten Eigenschaften durchgemangelt sind, wage ich es noch mal: „Ich bin übrigens katholisch. Keine Muslimin.“
Daniels Eltern schauen von mir zu Daniel und zurück. „Aber du hast doch gesagt …“, stockt Daniels Vater.
„Was denn?“, fragt Daniel interessiert.
„Sie isst kein Schweinefleisch.“
„Ne, sie isst überhaupt kein Fleisch. Sie ist Vegetarierin.“ Daniel und ich tauschen einen leicht belustigten Blick aus.
„Ach so“, sagt Daniels Mutter, „ich dachte, das wäre ‘ne strengere Form von Islamismus.“
Dann lachen alle und es wird Zeit, den Tisch zu decken.
„Kann ich irgendwie helfen?“, frage ich in das geschäftige Hinundher. Rolf hat offenbar in seiner Wohnung im dritten Stock einen Braten im Ofen, sowie das Essen für mich. Die Beilagen werden hier, in Brigittes Küche, gekocht.
„Ja, Schätzchen“, sagt Brigitte. „Du und Mimi, ihr könntet das Besteck und die Schüsseln für den Salat holen. Mimi, zeigst du Liane, wo alles ist?“ Wir gehen in die Küche.
„Hier ist wohl das Besteck“, sage ich und zeige auf die einzige Schublade. Es soll ein bisschen lustig sein, aber Mimi sagt lahm ja, ohne zu lächeln. Sie holt aus dem Schrank die Schüsseln, tritt einen Schritt zurück, wo sich plötzlich Thor befindet, der aufjault und Mimi so erschreckt, dass sie die Schüsseln fallen lässt. Scherben am Boden. Bevor jemand hineintritt, hebe ich die größeren Scherben auf und staple die heilen Schüsseln ineinander, als Rolf und Brigitte in die Küche stürzen. Rolfs Augen wollen mich vernichten, sie feuern Schüsse aus dem roten Gesicht, als er sich um Thors angezogene Pfote kümmert.
„Ist nicht so schlimm, Liane“, sagt Brigitte, „das kann jedem mal passieren.“ Meine Augenbrauen schießen in die Höhe. Ich schaue zu Mimi, doch die hat sich von uns weg zur Schublade gedreht und zählt das Besteck heraus. Brigitte nimmt mir die heilen Schüsseln aus den Händen und grummelt vor sich hin. „Nimm halt die Glasschüsseln“, sagt Mimi und geht aus der Küche.
Die Schalen, Platten, Saucieren und Teller tragen alle dasselbe feine Blumenmuster. Die Glasschüsseln stören das Bild überhaupt nicht, aber Brigitte ärgert sich immer noch. Mimi kann mir nicht mehr in die Augen sehen. Wenn ich sie nicht darauf anspreche, wird sie mir vielleicht irgendwann gewogen sein. An meinem Platz steht kein Teller, aber immerhin ein Weinglas. Alkohol kann ich jetzt gut gebrauchen. Daniel gibt sich Mühe und versucht seine Familie auf meine Vorzüge aufmerksam zu machen. Aber Rolf würgt jeden Ansatz ab, indem er mit immer wieder anderem technischen Schnickschnack seines neuen Autos prahlt. Seine Eltern tun so, als wären sie fasziniert.
„Wollen wir uns dann setzen?“, fragt Daniels Vater. Tatsächlich umhüllt der Dampf der Knödel, des Rotkrauts, des Schweinebratens und des Gemüses bereits den Kronleuchter. Gemüse ist leider nicht ganz korrekt. Auf jede Scheibe Karotten kommen etwa vier Speckwürfel. Schade. Stühle werden gerückt. Ich bleibe stehen.
„Oh, Liane, Schätzchen, sag doch was!“, ruft Brigitte aus. „Sie hat ja noch nichts zu essen. Ist das noch oben, Rolf?“ Rolf sitzt schon und sieht so aus, als würde er ungern noch mal aufstehen und in den dritten Stock seiner Wohnung laufen.
„Ich hol‘s schon“, sagt Daniel.
„Nein, ich mach das!“, sagt Rolf und hievt sich schwerfällig aus seinem Stuhl. „Für Liane mache ich doch alles.“ Es klingt weder ironisch noch ernst.
„Danke“, sage ich sicherheitshalber und setze mich.
„Also, hast du den kleinen Emil schon kennengelernt?“, fragt Brigitte.
„Ja natürlich!“, sage ich. „Er ist ein Prachtkerl!“
„Nicht wahr? Er ist ja unser einziger Enkel, deswegen sind wir ganz besonders in ihn vernarrt!“, stimmt Brigitte zu.
„Und Sie kommen mit ihm klar?“, fragt Daniels Vater.
„Ja, natürlich! Warum denn nicht?“ Er ist zweieinhalb Jahre alt und wahnsinnig niedlich. Gestern hat er mein Gesicht gestreichelt und gesagt: „Du bist goldig!“
„Warum nicht? Na hör mal, es ist immer schwer, eine Mutter zu ersetzen, Liane!“
„Aber ich ersetze seine Mutter doch nicht. Seine Mutter ist doch immer noch für ihn da.“
Daniels Eltern tauschen einen vielsagenden, verächtlichen Blick. Schweigen.
Messer und Gabeln knirschen auf dem Porzellan. Ich sehe Daniel beim Essen zu. Das Schweigen dauert an. Ich warte auf mein Essen. Daniel schaut auf.
„Was ist denn, Mama?“
„Nichts“, sagt sie. Dann fügt sie hinzu: „Nichts, ich finde nur, es ist nicht richtig, was ihr macht.“ Sie bedenkt mich mit einem denkbar kurzen Blick. Ihre Kiefermuskeln zucken. Ich bin ihr nicht recht.
Daniels Augen rollen. „Es ist aber unsere Entscheidung.“ Stumm entschuldigt er sich bei mir. Und wieder Schweigen.
Rolf kommt zurück und stellt einen Mehrwegplastikteller vor mir ab. Darauf sitzt eine Portion Käsenudeln. „Oh, danke, Rolf!“, sage ich. „Mmh, sieht lecker aus.“
„Wenn du noch irgendwelche Kräuter willst, die sind in der Küche“, sagt Rolf, setzt sich und nimmt sich aus allen Schalen eine große Portion.
„Ich habe auch einen großen Kräutergarten mit frischen Kräutern“, sagt Brigitte ohne vom Teller aufzusehen.
„Ja, der ist ihr ganzer Stolz, den müssen wir Ihnen bei Gelegenheit mal zeigen“, sagt Daniels Vater freundschaftlich.
„Mhm.“ Ich nicke beeindruckt, doch keiner sieht es.
„Es ist doch schade, dass Jana heute nicht bei uns sitzt, findet ihr nicht?“ Jana ist Emils Mutter.
„Papa!“, ruft Daniel. Seine Lippen sagen nichts weiter, aber seine Augen: Wir haben das doch besprochen! Es ist die Fortsetzung und das Ende eines vorangegangenen Gesprächs, soviel wird mir klar.
Daniels Vater steckt ein großes Stück tropfenden Schweinbraten in seinen Mund. Kaut, stockt und zieht eine Schnur zwischen seinen Lippen heraus. Er bemerkt meinen Blick. „Nichts gegen Sie, Liane, Sie sind ein tolles Mädchen.“ Er räuspert sich. „Wir sind froh, dass Sie da sind!“ Ich lächle halbherzig. Natürlich.
Auf meinem weißen Bett zu Hause liegt zwischen den kuscheligen Decken und bunten Kissen ein blau-grün-gestreifter Pulli, den ich gerade für Emil stricke. Als nächstes sind die Ärmelchen dran, für die ich ein Kraus-Muster vorgesehen habe.
„Das Auto hat einen ecoFLEX-Motor. Ratet wieviel Sprit ich spare!“, sagt Rolf. Ich schalte ab.
Der Nachtisch ist ein Apfelkuchen. Wir können alle von den gleichen Tellern dasselbe Essen essen. Ich überlegte mir, ob ich Daniels Vater etwas zu seiner Anwaltspraxis fragen soll, aber es scheitert schon daran, dass ich nicht weiß, wie ich ihn anreden soll.
Da fragt Rolf an Daniel gerichtet: „Von wo in Frankreich kommt sie denn?“
„Ich komme aus der Nähe von Nantes“, antworte ich. Rolfs Gesicht ist vollkommen blank. „Etwa 50 Kilometer bis zur Atlantikküste.“
„Ah, schön!“, seufzt Brigitte.
„Ich will auch am Meer wohnen“, mault Mimi in ihre Kuchengabel.
„Das kannst du ja machen, wenn du groß bist“, sagt Daniel.
„Aber Mimi hat recht!“, ruft Daniels Vater. „Lasst uns diesen Herbst ans Meer fahren!“
„Pornic ist sehr schön“, sage ich, aber meine Worte gehen in Rolfs Ausruf unter: „Gran Canaria!“ Ich seufze und finde es schwer, weiterzulächeln. Ich beuge mich zu Daniel hinüber und frage ihn, wo das Klo ist.
Dort höre ich jedes Wort der Maurers und frage mich, ob sie auch alles hören, was ich hier mache. Kraftlos stehe ich vor dem Spiegel und habe keine Lust, zu spülen, denn dann müsste ich wieder raus. Ein hohes Sssssssss. Eine Schnake senkt sich zu mir hinunter, die ich vertreibe. Mein Spiegelbild sieht müde aus. Die Schnake setzt sich darauf ab. Das war dein letztes Sekündlein, denke ich, hole aus, die Augen fest auf den filigranen Schnakenkörper gerichtet, und höre Brigitte sagen: „Konntest du denn keine Weiße finden? Wenn schon nicht deutsch?“, da knallt meine Hand gegen den scheppernden Spiegel. Die Stimmen verstummen. Ich drücke die Spülung und verlasse das Bad. Ein Blutfleck wird dem nächsten Klobesucher zusammen mit einem zerquetschten Schnakenkörper entgegenblühen.
„Du siehst müde aus“, sagt Daniel mitfühlend.
Ich nicke: „Bin ich auch. Außerdem treffe ich in einer Stunde meinen Freund. Ich würde vorher noch mal gerne nach Hause“, antworte ich. Irgendwie ist mir nicht mehr wichtig, was Emils Großeltern von mir halten. Ich weiß jetzt, dass ich diese ganze Familie einfach nur furchtbar finde – mit Ausnahme von Daniel, Jana und vor allem Emil, und darauf kommt es ja an. Das nächste Mal denke ich mir wie Jana eine Ausrede aus, um nicht zum Sonntagsessen mitzukommen, nehme ich mir vor und lasse mir von Brigitte zum Abschied die Wangen küssen. Und dieses Au-Pair-Jahr ist ja hauptsächlich eine Chance, näher bei meinem Jonas zu sein.
(Bild: by alegri / 4freephotos.com)
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