von Annika Kemmeter
Das Publikum applaudierte. Höflich. Abwartend. Meine Wangen brannten, mussten karminrot leuchten, dabei war ich noch gar nicht auf die Bühne getreten. Anna gab mir einen Klapps auf die Schulter, drückte mir die schwarze Mappe in die Hand und mich sanft durch den Vorhang.
Die Bühne war schwarz, eine richtige Theaterbühne, darauf standen ein Tisch und ein Stuhl. Und jetzt ich. Ich sah in die Dunkelheit vor der Bühne, aus dem mir unzählige weiße Augenpaare entgegengestarrt hätten, wenn das hier eine Szene bei den Simpsons wäre. So aber war es nur schwarz. Die Augenpaare waren unsichtbar auf mich gerichtet. Auf mich, die ich sichtbar auf den Tisch und seinen Stuhl zuging, mich setzte, lächelte und die Mappe aufschlug.
Das war der erste Schreck. Die Mappe enthielt nicht meinen Text. In schnörkeliger Schrift, wahrscheinlich French Script MI, las ich die Worte „Verliebt, Verlobt“, den Titel von Medinas Text. Und sie hielt wahrscheinlich meine Mappe in der Hand. Und wartete auf ihren Auftritt. Und darauf, dass ich endlich anfing zu lesen, so wie all die Augen in den Stuhlreihen darauf warteten, dass ich endlich mein Können bewies. Oder ihnen mit einem grausig schlechten Text Inhalt für ihren Rückweg lieferte, denn am liebsten unterhält man sich nach der Lesung ja über den schlechtesten Text. Ich mache das auch so. Jemand im Publikum begann zu hüsteln. Ich würde nicht zurück hinter den schwarzen Vorhang laufen, so viel stand fest. Zu lange hatte ich nun schon auf den falschen Titel gestarrt und eine affektierte Kunstpause eingelegt. Jedenfalls musste es den Augen da draußen so vorkommen.
Ich würde auch nicht Medinas Text vorlesen. Medina schreibt Liebesschnulzen. Immer und immer wieder. Ihre Charaktere heißen Jeff und Zoey oder Tony und Claire. Sie verbringen ihre Tage in Parks oder am Meer. Sie kennen sich am Anfang der Geschichten nicht oder kaum und wissen am Ende der Geschichten, dass sie miteinander ein glückliches Leben führen werden. Ohne Alltagsödnis, ohne Geldprobleme, ohne kinderbedingten Schlafmangel. Einen solchen Text kann ich nicht mal still vor mich hin lesen. Geschweige denn laut als den meinen präsentieren – mal ganz davon abgesehen, was Medina dazu sagen würde. Papier raschelte, jemand schnäuzte sich die Nase.
Zu meinem Glück bin ich eigentlich keine Schriftstellerin. Ich stelle keine Schrift her, ich stelle keine Schriftzeichen in einen neuen vorher unbekannten Zusammenhang. Nein. Ich fabuliere. Ich erzähle. Ich spreche Text, ich spreche ihn in ein Diktiergerät, ich habe das schon getan, bevor es Diktier-Apps gab und freue mich, dass mir die Technologie so entgegenkommt. Schrift ist Schnee von gestern! Und das war mein Glück.
Ich räusperte mich und sagte, teils aus Übermut und teils aus Größenwahn: „Mein Name ist Charlotte und ich lese heute aus meiner Kurzgeschichte Tod und Trotz und Traum.“ Das Schnäuzen hörte auf. Ich holte Luft. Es existierte keine solche Kurzgeschichte. Noch nicht.
„Aus Karls geschwungener Ohrwindung rann ein kleines Bächlein Blut. Er hatte schöne Ohren. Seine Ohrmuschel sah aus wie der Kopf eines kleinen Spatzen. Schauen Sie sich um, alle Ohren verbergen einen kleinen Vogel in sich, manche auch Enten oder Gänse. Und die wenigen Ohren, die das nicht taten, mochte Kommissarin Christiane Abermaas nicht. Karls Ohren schon. Sehr sogar, so, dass sie sich ärgerte, dass der Besitzer dieser Ohren hatte sterben müssen. Ja, so sehr, dass sie sich mit den Notizen und Aufzeichnungen bemühte, was sie schon lange nicht mehr getan hatte. Sie hatte nur noch drei Monate bis zur Rente. Und das hier war vielleicht ihr letzter Fall. Es war auch ihr wichtigster. Doch das wusste Christiane Abermaas nicht. Noch nicht.“
Während ich fabulierte, dachte ich über die Namenswahl nach. Karl ist der Name meines Freundes. Er taucht nicht gerne in meinen Texten auf. Ich verwende seinen Namen also nie, wenn ich Geschichten verfasse. Aber heute Abend war er nicht da. Er war auf dem Junggesellenabschied eines alten Schulfreundes, den er kaum noch kannte. Ich war etwas enttäuscht darüber, dass er die Sauftour unserer Lesung vorgezogen hatte. Und deshalb hatte Karl sterben müssen. Aber er wusste ja nichts davon. Die Worte waren raus, waren davongeweht und würden sich nirgends verfestigen. Christiane heißt eine sehr begabte Schriftstellerin aus unserer Autorengruppe. Ihr Nachname ist Heinze. Beinahe hätte die Kommissarin ihren Namen getragen. Aber das wäre dem Publikum aufgefallen und so bin ich noch mal scharf abgebogen und habe ihr den Nachnamen meiner alten Mathelehrerin gegeben. Christiane Abermaas. Nicht schlecht. Klingt gut und ich kann ihn mir gut merken, was beim freien Fabulieren vor Publikum, das glaubt, man lese einen Text, durchaus hilft. Dieser Gedanke erinnerte mich daran, dass ich vielleicht mal umblättern sollte.
Ich blätterte um.
„Christiane Abermaas trat zur Seite und versuchte, Gustavs Quäkstimme von ihren Ohren fernzuhalten. Sie konnte ihren neuen Vorgesetzten nicht leiden. Er hatte kein Gefühl für Kriminalfälle. Seine Haare sahen aus, wie von einem riesigen Köter abgeleckt. Vielleicht dachte Christiane Abermaas das nur, weil sie wusste, dass ihr neuer Vorgesetzter mit einer Dogge zusammenlebte. Zusammenlebte, das hatte er gesagt, nicht sie. Sie schüttelte sich.“
Gustav war ein weiterer Schriftstellerkollege von mir. Er hat eine sehr angenehme, weiche und tiefe Stimme. Seine Texte waren auch gut, aber wenn er sie las, wurden sie phänomenal. Er würde sogar Medinas Geschichte zur Tiefe verhelfen. Gustavs Idee war es gewesen, dass wir alle mit einer schwarzen Mappe auftraten. Er hatte also Teilschuld an dieser Situation, die mir allerdings immer besser gefiel. Ich mochte die Kommissarin, die ich mir gerade ausdachte. Wo und wie aber sollte die Geschichte später enden? Ich hatte keinen Plan.
„‚Was machen Sie hier, haben Sie die Fußmatte nicht gelesen?!‘ Die Kommissarin verdrehte die Augen, dann trat sie zur Seite und ließ ihn rein.“
Ich senkte meine Augen einmal mehr auf den Text, den ich nicht las, um den Eindruck zu vermitteln, ich täte es. Da tat ich es. Und das war der zweite Schreck.
Meine Augen blieben an drei Wörtern hängen, die in Medinas Text nichts zu suchen hatten: „Charlotte und Karl“. Mein Name. Und der meines Freundes.
„‚Nehmen Sie bitte auf der Couch im Wohnzimmer Platz, bis ich zu Ende gebadet habe‘, Christiane Abermaas entwirbelte den Handtuchturban von ihrem Kopf. „Das kann noch gut fünfzehn Minuten dauern“, sagte sie trocken. Als er sich unsicher die Schuhe abstreifte, fügte sie hinzu: ‚Und fassen Sie nichts an!‘“
Ich gönnte mir eine Kunstpause. Ich trank einen Schluck Wasser und überflog dabei Medinas Manuskript. Ja, es erzählte, wie Karl und ich uns kennengelernt hatten. Am Rhein. In Köln. An Karneval. Keine allzu romantische Geschichte. Und schon gar nicht die romantische Gesichte von Jordan und Alice, die Medina heute Abend vorlesen wollte. Ich blätterte um. Die Augen da draußen mussten glauben, ich hätte den Text in Schriftgröße 48 gedruckt, so oft blätterte ich während der darauffolgenden Sätze um. Es juckte mich am Hals, hinten im Nacken, wo meine Bluse auflag.
„‚Was läuft hier bloß?‘, flüsterte Christiane Abermaas. Sie fuhr mit den Fingern am Blusenkragen entlang, wie sie es immer tat, wenn sie unsicher wurde. Und jetzt war sie nicht nur unsicher. Sie wusste, dass hier jemand etwas drehte, etwas um sie persönlich herum strickte. Sie war mitten in ein Spiel geraten, dessen Regeln sie nicht kannte.“
Blätter. Blätter. Blätter. Ich blätterte vor bis zur letzten Seite. Und da kam der dritte Schreck.
Die letzten Sätze von Medinas Text fehlten. Sie hätten nicht von mir vorgelesen werden sollen. Karl hätte sie gesagt. Er wäre auf die Bühne gekommen und hätte mich gefragt. Mich gebeten, seine Frau zu werden. Das war los!
„Christiane Abermaas dämmerte, dass sie die Sache vollkommen falsch angegangen war. Alle Prämissen, die sie vorausgesetzt hatte, basierten darauf, dass Karl tot war. Und statt den Weg zu gehen, den ihr Vorgesetzter ihr vorgesetzt hatte, wie es nun mal sein Job war, hatte sie auf eigene Faust ermittelt. Und sich für schlauer gehalten. Was konnte sie tun?“
Ich hasse solche Sätze. Was konnte sie tun? Wie konnte ich so was nur sagen? Als nächstes würde ich Frau Abermaas die Worte „Was hätte ich denn machen sollen“ in den Mund legen, Worte die in dieser Reihenfolge nur in Gerichts- und Talkshows vorkommen. Aber das eigentlich knifflige war natürlich, professionell zu bleiben. Denn ich liebe Karl und ich wartete schon lange, lange, lange auf einen Heiratsantrag. Dabei hatte ich allerdings an etwas Plumpes gedacht. Eine Fahrt auf dem Riesenrad und oben ein Ring. Niemals hätte ich gedacht, dass mein Karl, mein Literaturbanause und Angsthase, mein lampenfiebernder Drückeberger sich auf eine Bühne wagen würde, für mich, und mich vor allen fragen würde. Und nun saß er da draußen im Schwarzen, bibberte vor Aufregung, weil ich seine Pläne durchkreuzt hatte, und würde nie wieder den Mut aufbringen etwas Größeres als ein kleines Abendessen zu organisieren. Und ich hatte es versemmelt. Ich musste es gerade biegen. Aber wie das ganze kunstvoll biegen, so dass die Geschichte der guten Frau Abermaas nicht umgebrochen wurde? Ein Schluck Wasser musste her. Und ein Geistesblitz.
„Ein Geistesblitz musste her. Entschlossen schlug Christiane Abermaas die Wochenzeitung auf, die sie vor ein paar Tagen achtlos auf den Tisch gelegt hatte. Das half immer. Die Worte mussten nur umgemünzt werden, es waren schon alle richtigen Worte da, sie mussten nur richtig angeordnet werden. Ein Artikel vereinte all ihre Aufmerksamkeit auf sich. Was war das? Ging es hier etwa um ihren Karl? Es war scheinbar die Geschichte seiner Liebe. Dass Karl eine Freundin hatte, war ein bisher unbekannter Faktor gewesen. Aber hier war eindeutig ein Bild, das ihn zeigte. Die Ohren waren unverwechselbar.
Christiane Abermaas glaubte nicht an solche Zufälle und schlug deshalb die Zeitung wieder zu. Es erscheinen keine Zeitungsberichte über das Privatleben von gerade ermordeten Personen, das wäre viel zu offensichtlich! Andererseits… – die Kommissarin schlug die Blätter wieder auseinander. Anderseits konnte sie den Artikel doch nicht ignorieren, nur weil er ihr auf dem Präsentierteller serviert wurde. Was würde Gustav dazu sagen? Christiane seufzte. Sie wandte ihren Blick ein letztes Mal angewidert von der Schnulzgeschichte ab, die sie gleich lesen würde, dann gab sie sich dem Schicksal hin und las den Text mit dem grausigen Titel „Verliebt, Verlobt“.“