von Arina Molchan
Wenn man nicht genau hinsieht, ist alles in Ordnung.
Wir wohnen in einem Haus mit Geranien auf dem Balkon, wir abonnieren die Lokalzeitung und zahlen den Sportvereinsbeitrag. Nach Außen hin ist meine Familie normal: Vater ist Steuerberater, Mutter ist Hausfrau. Aber Abends ziehen wir die Vorhänge zu – denn nach Innen hin sind wir anders.
Mama glaub, sie sei eine Gute Fee – sie bemüht sich, es immer allen recht zu machen. Mein Vater ist natürlich ein Vampir – er saugt Mutter auch den letzten Nerv aus. Meine Oma erzählt immer, sie wäre früher nachts durch das Fenster herausgeflogen um dann in dem See die Mondspiegelung zu bestaunen. Was sie sein sollte, habe ich keine Ahnung. Stoned, wahrscheinlich. Weil sie den nächtlichen Himmel so mochte, heiratete sie einen Astrologen. Ja, einen Astrologen, nicht einen Astronomen. Kurzum: Familienfeiern werden bei uns schnell … besonders.
Ich habe zum Geburtstag von der Oma Flügel geschenkt bekommen, die man abmontieren können sollte – aber etwas stimmte nicht. Ich zog sie an: Schaut mal, hehe, lustig, wie krieg ich die jetzt wieder ab?
Oma schwor, dass sie das Modell originalverpackt im Internet ersteigert hatte – also sei das wohl ein Produktionsfehler (meine Tante ist Wahrsagerin).
Ich zog also die Flügel an, sie breiteten sich aus und ich flog. Das heißt, eigentlich kratzte ich zuerst die Decke entlang, nahm die Hängelampe im Wohnzimmer mit und ein bisschen Deko, klatschte paar Mal an das Glas im Wintergarten, bis jemand die Terrassentür aufmachte.
Ich flog.
Zu weit, zu schnell, zu hoch, und fiel dann in den See. Besser gesagt, ist es das, was man mir erzählte, nachdem mein Bruder, ein Meermann mit Tauchschein, mich wieder herausgefischt hatte. Ich fiel wohl, weil dort oben die Luft so dünn wurde, dass sich mein Bewusstsein verabschiedete. Vielleicht war die Ohnmacht aber auch eine Spätfolge des Klatschens gegen das Wintergartenglas.
Sobald ich wach war, sagte mein Bruder: „Alter! Das war geil! Jetzt nochmal, für Youtube!“
Und dann, mit dem Flügelschlag einer Taube, begann alles erneut.
Beim letzten Workshop der Prosathek entstanden Texte nach dem Verfahren “Tireur a la ligne” der französischen Gruppe Oulipo. Die Regeln: Alle Autorinnen beginnen mit demselben ersten Satz und enden mit einem anderen, der ihnen zugelost wurde. Die dazwischen entstehenden Geschichten werden von der Mitte her geschrieben.