von Annika Kemmeter
Wenn man nicht genau hinsieht, ist alles in Ordnung. Glückliche Menschen, verputzte Häuser, satte Hunde, saubere Straßen. Sie pfeift eine lustige Melodie, während sie sich umsieht. Wie schön kann die Welt sein, wenn man das Wichtige übersieht! Da leuchtet ein Detail zwischen den Bahngleisen. Sie kneift die Augen zusammen. Was ist das da vorne, das unentwegt näher kommt? Ein Mann mit Ruß im Gesicht und mit blutigen Händen. Dass er die Schienen entlanghumpelt, irritiert sie. In Ordnung scheint es auch nicht. Wenn man genau hinsieht.
Aber was heißt schon in Ordnung? Ist sie denn ordentlich, ohne Oberteil und ohne Schuhe? Mit ungewaschenen Haaren und mit abgenagten Nägeln? Im Grunde ist die ganze Welt Chaos. Die Ansagen über Verspätungen und geänderte Wagennummern. Sind denn die Anzeigen auf der Bahnhofstafel in Ordnung? Und all die Menschen, die über ihre Smartphones wischen? Und ein gelbes Viereck für Raucher? Und im Mülleimer türmen sich die Schuhe, weggeworfen aus purem Überfluss. Der ein oder andere ist sicher noch tragbar. Und der Weg ist steinig. Sie zieht sich einen Schuh an und hüpft über die Bahngleise.
Beim letzten Workshop der Prosathek entstanden Texte nach dem Verfahren “Tireur a la ligne” der französischen Gruppe Oulipo. Die Regeln: Alle Autorinnen beginnen mit demselben ersten Satz und enden mit einem anderen, der ihnen zugelost wurde. Die dazwischen entstehenden Geschichten werden von der Mitte her geschrieben.
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