von Verena Ullmann
Irgendwann im Oktober hatte sie aufgehört, sich im Spiegel zu betrachten. Der Prozess war nicht aufzuhalten. Das Gesicht zersplitterte nach und nach in Einzelteile, über die ihre Blicke stolperten. Linkes Auge. Rechte Augenbraue. Lippen. Irgendein Nasenflügel. Fremde Wangenfragmente. Blass zu dieser Jahreszeit. Zu viel Arbeit, alles zu schminken, ohne etwas zu vergessen. Das Rouge zerbröselte auf dem Fußboden. Die Wimperntusche landete im Müll.
Die Haare bleiben hochgebunden. Tag und Nacht. Den Friseurtermin hat sie ausfallen lassen. Der dunkle Ansatz fettet sich. Ab und zu fällt ein Büschel herab. Vielleicht schafft sie es, morgen zu duschen. Vielleicht auch nicht.
Es ist kalt. Was vom Körper übrig ist, ist in Wolle gewickelt. Auf dem Weg zum Supermarkt erhascht sie seine Gestalt im Schaufenster. Die Schultern nach vorne geklappt, gegen den Wind gelehnt. Nicht wiederzuerkennen. Jemand grüßt sie. Nichtsdestotrotz. Zu schnell und zu laut. Außerhalb des Tunnelblicks. Brot kaufen und zurück. Nur Brot kaufen heute.
Den Klang ihrer Stimme hat sie vergessen. Die Schritte verlieren gegen den Wind. Schließlich lässt sie ihr Körper neben einem Baum stehen. Die Hand hängt sich an die Rinde. Der Kopf lässt sich nach hinten kippen, bleibt auf den Schultern liegen, atmet durch den engen Hals. Stücke von Himmel stürzen durch die nackten Äste. Im Frühling kommt die Krone zurück. Grün und saftig. Mit Blüten vielleicht. Es ist November. Nur Brot kaufen heute.