Die Legende der O’Keeffe-Zwillinge

von Alexander Wachter

Die Familie O’Keeffe besaß bereits seit vielen Generationen ein Anwesen neben dem Lough Inagh [lɒx aɪnᵊ] im Landkreis Galway. Sie waren die Nachfahren eines edlen Familiengeschlechts und über alle Landesgrenzen hinaus für ihren Ehrgeiz und Fleiß bekannt. Die jüngsten Nachkommen der O’Keeffes waren die Zwillinge Darragh [diɹə] and Méadhbh [mef].

Es ranken sich viele Mythen um die Geburt der ungleichen Geschwister, bestätigt ist jedoch Folgendes: Sie wurden in einer Vollmondnacht im Kreise ihrer Familie geboren. Obgleich dies eine freudige Nachricht gewesen war, blieb die Nacht bei allen Menschen als ein trauriges Ereignis in Erinnerung, denn sowohl die Mutter als auch der Vater und dessen drei Brüder erlebten den nächsten Morgen nicht. Während der Tod der Mutter durch überraschendes Kindbettfieber erklärt werden konnte, war der Arzt ratlos, was den Tod der vier jungen Männer betraf. Bis zum heutigen Tag weiß keiner, wie die Männer ihr Ende fanden. Die beiden neugeborenen Zwillinge wurden zu ihren letzten lebenden Verwandten, ihren Großeltern, gegeben, in deren Fürsorge sie aufwuchsen.

Schon bald war ersichtlich, dass die Geschwister unterschiedlicher nicht hätten sein können. Darragh war ein Haudegen sondergleichen. Wenn er nicht gerade sein Geld in den Pubs vertrank oder in den Gassen mit seinem Shillelagh [ʃəleli] Draufgänger verprügelte, dann verscherzte er es sich mit seinen Gönnern durch üble Nachrede. Er sorgte sich nur darum, wann er sein nächstes Bier bekam und wer es mit ihm trinken würde. Um seine Frau kümmerte er sich kaum. Mitunter sah sie ihn tagelang nicht und klagte an diesen Tagen immer seiner Schwester ihr Leid.

Seine Schwester Méadhbh hingegen war eine arbeitsame und tugendhafte Frau. Nach dem Tod der Großeltern heiratete sie jung und war froh darum, verbrachte sie mit ihrem Ehemann und ihrem kleinen Sohn doch die glücklichsten Jahre ihres Lebens. Zusammen pflegten sie das Anwesen und die umliegenden Felder. Méadhbh hätte bis ans Ende ihrer Tage ein ruhiges Leben geführt. Das Schicksal hatte jedoch andere Pläne für sie.

Es geschah nun so, dass eines neumondabends Darragh aufgeregt zu seiner Schwester eilte. Er habe Neuigkeiten zu verkünden. Seine Schwester zog ihn auf einen Stuhl und setzte sich neben ihn auf einen weiteren. „Schwesterherz! Mir ist ein Männlein im Traum erschienen. Es sagte mir, was ich tun muss, um wahres Glück zu finden.“ Méadhbh hatte nur ein mitleidiges Lächeln für ihren Bruder übrig. Er war schon des Öfteren mit irgendwelchen Offenbarungen aufgetaucht, die sich allesamt als Ammenmärchen seiner Trunkenheit herausgestellt hatten. „Nein, so glaub mir doch!“, sagte Darragh, der den Gesichtsausdruck seiner Schwester richtig gedeutet hatte. „Dieses Mal ist es anders. Das Männlein hatte drei Augen. Zwei normale, so wie wir und ein geschlossenes auf der Stirn, und mit diesem Auge hat es mich gefunden.“ Um seine Schwester endgültig zu überzeugen, holte er eine Bodhrán [‚bɔ:ɹɑn] aus seiner Tasche. „Als ich aufwachte, lag sie neben mir. Schau dir den Schlagstock an!“ Méadhbh nahm den Schlagstock in die Hand und erkannte es sofort als das, was es war: ein Fingerknochen.

Méadhbh sprang auf. „Darragh, was hast du getan? Das ist der Fingerknochen eines Riesen.“ Darragh nahm ihr den Knöchel wieder aus der Hand. „Das Männlein meinte, es sei mit einem Zauber versehen. Ich muss mich zum Lough Inagh begeben und die Stelle finden, wo das Meer stirbt und der Riese begraben liegt. Wenn ich dort die Bodhrán spiele, werde ich wahres Glück finden, Méadhbh.“

„Aber, Darragh. Du hast doch bereits dein Glück gefunden mit deiner Frau.“ Darragh lachte. „Wahres Glück, Schwesterherz. Morgen ist Vollmond, dann werde ich es versuchen.“ Mit diesen Worten eilte er ins Dunkel davon und ließ seine Schwester mit einer schlaflosen Nacht zurück.

Zwei Tage später klopfte es so heftig an die Tür, dass Méadhbh glaubte, das Holz würde bersten. „Ich war dort, Schwesterherz.“ Darragh stürmte durch die Tür. „Ich habe die Stelle gefunden und auf der Bodhrán gespielt. Und ich habe sie gesehen. Sie hat mir versprochen, mir den Weg zu zeigen, wenn ich nächsten Vollmond nochmal zu ihr komme. Sie nimmt mich mit.“ Seine Augen waren so klar, wie Méadhbh sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. „Wer ist SIE?“, fragte Méadhbh, die versuchte mit dem Eifer ihres Bruders mitzuhalten. „Die Meerjungfrau, natürlich. Sie nimmt mich mit!“ Méadhbh packte ihren Bruder an den Schultern, damit er stehen blieb. „Wohin mitnehmen?“  „Zu meinem wahren Glück!“ „Und was ist mit deiner Frau?“ Darragh strahlte. „Die lass ich natürlich hier.“ Er umarmte seine Schwester und hob sie hoch. „Beim nächsten Vollmond. Ich kann es kaum erwarten.“

Die darauffolgenden Tage versuchte Méadhbh zu verstehen, was mit ihrem Bruder los war. Falls es sich wirklich um eine Meerjungfrau handelte, musste er Vorsicht walten lassen. Jeder wusste, dass man Meerjungfrauen nicht trauen durfte. Darragh war jedoch so überzeugt wie von sonst nichts in seinem Leben. Er hörte sogar auf zu trinken. Bier interessiere ihn nicht mehr, meinte er. Als der nächste Vollmond heranrückte, überreichte er die Bodhrán und den Fingerknochen seiner Schwester. „Die brauche ich nicht mehr, da wo ich hingehe. Leb wohl, Schwesterherz.“ Sie hielt in fest. „Ich könnte mit dir zu der Meerjungfrau gehen, wenn du möchtest.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Nein, lieber nicht. Die Meerjungfrau ist sehr schüchtern. Pass auf dich auf, Schwesterherz.“ Mit diesen Worten verließ er sie.

Méadhbh wurde in derselben Nacht von einer grenzenlosen Unruhe gepackt. Sie spürte so deutlich wie noch nie, dass ihr Bruder in sein Verderben lief. Nachdem sie sich aus dem Ehebett geschlichen und ihrem Sohn einen Kuss auf die Stirn gegeben hatte, packte sie die Bodhrán ein und eilte zum Lough Inagh.

Der Vollmond war hinter dicken Wolken verborgen und das Gelände war überflutet von gräulichen Schatten. Der Wind riss an Méadhbhs Kleidern und blies ihr den Straßenstaub ins Gesicht. Sie erreichte den Weg, der zu der Stelle führte, von der ihr Bruder ihr erzählt hatte, als sie einen schrillen Schrei vernahm, der unmittelbar neben ihr aus der Hecke kam. Falls der Schrei an etwas menschliches erinnerte, dann wohl am ehesten an eine Frau, die in Todesangst um ihr Leben flehte. „Oh, Himmel beschütz mich“, kam es Méadhbh über die Lippen. Sie wusste, was für ein Geschöpf es sein musste: eine Banshee. Dass sie hier war, konnte nichts Gutes bedeuten. „Darragh!“

Méadhbh rannte. Weg von dem Schrei und hin zum Lough Inagh. Das Wesen ließ sich jedoch nicht abschütteln. Méadhbh hörte Händeklatschen, begleitet von mehreren ohrenbetäubenden Schreien. Sie sah, wie ein dunkles Etwas sich im Gebüsch neben ihr bewegte, mit ihr Schritt hielt. Die blutleeren Arme in ihre Richtung gestreckt. Méadhbh achtete darauf, nicht zu stolpern. Sie erinnerte sich nicht, diese Schreie jemals selbst gehört zu haben, aber ihre Großeltern hatten ihr erzählt, dass das Haus von körperlosen Schreien erfüllt gewesen war, als ihre Eltern starben. Eine Banshee bedeutete, dass ein Tod unmittelbar bevorstand. „Oh nein, Darragh!“

Endlich erreichte Méadhbh die Stelle am Meer. Keine Spur von Darragh. Sie sah sein Wams auf den Felsen am Ufer liegen. Das windgepeitschte Wasser hatte sich bereits den Rest seiner Kleidung einverleibt.

Méadhbh ließ sich neben dem Kleidungsstück auf die Felsen nieder und begann rasch auf der Bodhrán zu spielen. Sie entschied sich für eine Melodie, die sie normalerweise immer für ihren Sohn spielte. Es dauerte nicht lange, bis sich grüne Algen aus dem Wasser erhoben. Nein, keine Algen, sondern der Körper einer Meerjungfrau. Ihre Haut war von Schuppen überzogen, ihre Haare leuchteten giftgrün unter ihrer Haube, ihrer cochallin draíochta [kɒkɑlɪn dɹi:ktə]. Sie zog ihren Körper mit dem Geräusch schleimiger Pfropfen über die Felsen auf Méadhbh zu, die höllenroten Augen auf die Bodhrán gerichtet. Keine Lider, die hätten blinzeln können. Ein starker Gestank nach Fisch ging von der Meerjungfrau aus. Die cochallin draíochta pochte, während die fleischigen Tentakel der Haube, die zwischen den Kiemen am Hals der Meerjungfrau steckten, ihre Härchen aufrichteten.

Als die Meerjungfrau in Reichweite war, griff Méadhbh schlagartig nach der cochallin draíochta und riss sie ihr herunter. Die Meerjungfrau stieß ein blubberndes Röcheln hervor und versuchte ihr die Haube wieder zu entreißen, aber Méadhbh war schon einige Schritte vor ihr zurückgewichen. „Gib sie mir wieder. Ohne sie kann ich nicht zurück ins Meer.“ Méadhbh versicherte ihr, dass sie die Haube wiederbekomme, wenn die Meerjungfrau ihr verriet, wo ihr Bruder war. „Ich habe ihn in die Anderswelt gebracht, wie ich es ihm versprochen hatte. Der Zugang liegt am Grund des Lough Inagh.“ Die Meerjungfrau grinste und offenbarte ihre Sichelzähne. „Wenn du möchtest, kann ich dich zu ihm bringen.“

„Ich würde niema–“ Méadhbhs Antwort wurde von einem erneuten Schrei unterbrochen. Dieses Mal war er so nahe, dass er aus ihrem Inneren zu kommen schien. Méadhbh fasste einen Entschluss. Sie knäulte vor den ungläubigen Augen der Meerjungfrau die Bodhrán, den Schlagstock und die Haube zu einem Bündel zusammen und warf sich samt ihrer Kleidung in das raue Gewässer. Sie konnte noch hören, wie die Meerjungfrau rief: „Du hast mir versprochen, dass ich meine cochallin draíochta wiederbekomme“, aber da war Méadhbh schon untergetaucht. Sie würde der Meerjungfrau ihre Haube wiedergeben, sobald Darragh und sie wieder wohlbehalten an Land gekommen waren. Sie wollte nicht das Wagnis eingehen, von der Meerjungfrau getäuscht zu werden.

Méadhbh war schon immer eine großartige Schwimmerin gewesen, doch dieser See war außerordentlich tief. Zwischenzeitlich zweifelte sie daran, ob sie es überhaupt bis zum Boden des Sees schaffen würde. Was wäre, wenn die Meerjungfrau sie gar angelogen hätte und sich da unten gar kein Eingang in die Anderswelt befände? Diese und andere Gedanken gingen Méadhbh durch den Kopf, während sie durch die eisigen Tiefen des Sees schwamm. Gerade als sie glaubte, nicht mehr weiter zu können, sah sie, dass das Wasser unter ihr plötzlich heller wurde. Sie spürte, wie ihr Magen sich drehte und von einer Sekunde auf die andere durchbrach ihr Gesicht die Wasseroberfläche.

Sonnenlicht und ein warmer Wind empfingen sie, als Méadhbh ihre Lungen mit Luft füllte. Sie öffnete die Augen und erkannte, dass sie bis zur Brust in einem türkisblauen See stand. Ein Sandstrand bildete die Grenze zu einem außergewöhnlichen Wald. Die Blätter der Bäume vereinten in sich alle Farben des Regenbogens. Zuletzt bemerkte Méadhbh, dass genau vor ihr noch jemand im Wasser stand, der sie ungläubig anlächelte.

„Méadhbh!“, rief Darragh und schloss sie in eine Umarmung. „Du bist auch hier? Oh, dieser Ort ist wahrhaftig vollkommen!“ Zusammen liefen die Geschwister zum Ufer und erforschten das Festland. Und welch‘ Wunder erwarteten sie: Die Sonne stand zu jeder Zeit knapp über dem Horizont, denn schließlich wusste jeder, dass die Abenddämmerung das schönste Licht verströmte. Es gab Früchte in allen Formen und Farben, die auf Bäumen und Sträuchern wuchsen. Gefrorene Flüsse, die bergauf flossen und Steinbrocken, die erschreckt zusammenzuckten, wenn man sie berührte. Die Welt war bevölkert von verschiedensten Lebewesen. Neben springenden Faultieren und tanzenden Borkenkäfern hatten die Geschwister die Gelegenheit, schildkrötenspielenden Harfen zu lauschen, die nur alle Jubeljahre vor Schaulustigen auftraten. Von allen Pflanzen und Geschöpfen waren die Feen dafür verantwortlich, für Harmonie in dieser Welt zu sorgen. Die meisten waren zerbrechliche kleine Wesen, gerade einmal hüfthoch, aber je älter und bedeutender die Feen zu sein schienen, desto größer wurden sie. So begegneten die Geschwister mitunter auch einer Fee, die größer und beleibter war als sie selbst.

Darragh und Méadhbh verbrachten viele Stunden damit, die Welt zu erforschen. Sie bestiegen blühende Berge, wanderten durch Bernsteintäler und entdeckten ein Dorf in den Wolken. Wie lange sie die Welt erkundeten, konnte keiner von beiden sagen, da die Uhrzeit sich nie änderte und sie auch keinen Schlaf mehr brauchten. Hunger und Durst litten sie nur, wenn sie etwas zu essen oder zu trinken in die Hand nahmen. Alle irdischen Sorgen waren vergessen.

Nach einiger Zeit kamen die Geschwister auf eine große Lichtung, auf der gerade ein Festessen der Feenkönigin stattfand. Die Königin übertraf alle anderen mit ihrer Leibesfülle. Sie saß auf ihrem gläsernen Thron und wippte im Rhythmus der Musik. Die Tafel vor ihr strotze vor fantastischen Genüssen und die Gäste aßen und tanzten ausgelassen. Jede Bewegung der Feen schien meisterhaft aufeinander abgestimmt zu sein. Noch während die Geschwister versuchten, all diese Eindrücke aufzunehmen, zog sie eine Fee in die Reihen und ehe sie sich versahen, waren auch sie ein Teil des Tanzes, des Rhythmus‘ und des harmonischem Ganzen.

Sie tanzten für viele Tage, bis Méadhbh letztendlich von einem Gefühl der Sehnsucht erfüllt wurde. Einer Sehnsucht, die kein Essen und keine Musik der Welt befriedigen konnte. Sie vermisste ihren Ehemann und ihren Sohn. So begab sie sich zu der Königin und fragte, ob es möglich sei, wieder in ihre Welt zurückzukehren. Die Königin lachte und der Wein rann ihr aus der Nase. „Natürlich kannst du wieder gehen, meine Törichte. Auf demselben Weg, wie du hergekommen bist. Nimm dir davor jedoch einen Zweig von diesem Weißdornbaum. Sein Zauber wird dir den Durchgang gewähren. Aber bleib doch noch ein wenig. Wir genießen deine Gesellschaft sehr.“ Méadhbh wollte dennoch in ihre Welt zurück. Die Königin überzeugte sie letztlich davon, ihnen als Abschiedsgeschenk wenigstens noch ein Lied vorzuspielen.

Méadhbh zog folglich ihre Bodhrán und den Fingerknochen aus der Tasche und begann zu spielen. Im selben Augenblick jedoch, in dem der Knochen die Haut der Bodhrán zum ersten Mal traf, verdüsterte sich der Himmel und alle Heiterkeit versiegte. Die Königin schrie auf. „Wie kannst du es wagen auf einer Bodhrán aus Enbarrs Haut zu spielen. Mit Nuadas Fingerknochen als Schlagstock. Du verpestest unsere Welt, du Scheusal!“

Geistesgegenwärtig riss Méadhbh zwei Zweige von dem Weißdornbaum und zog ihren Bruder mit sich, als die Königin in blinder Wut anfing, alles und jeden zu verwünschen. Ihre Zauber flogen durch die Luft und verwandelten alles, was sie berührten. Pflanzen wurden zu leblosen Gegenständen und Lebewesen zu dummen Tieren. Rings um sie herum konnten Méadhbh und Darragh Feen sehen, denen Hufe und Euter wuchsen oder die sich gar in Kaulquappen verwandelten.

Die Königin war ihnen immer noch dicht auf den Fersen, als sie den türkisblauen See endlich erreichten. Sie stürzten sich hinein. Méadhbh sah, wie einige Zauber knapp neben ihnen im Wasser vorbeischossen, selbst als sie schon metertief geschwommen waren. Sie vergewisserte sich stets, dass Darragh noch bei ihr war. Tiefer und immer tiefer schwammen sie, bis Méadhbh spürte, dass sich ihr Magen wieder drehte und sie unvermittelt durch die Wasseroberfläche brach.

Nach der angenehmen Wärme der Anderswelt kam ihr die Nacht unverhältnismäßig kalt vor. Sie hörte ihren Bruder hinter ihr auftauchen und nach Luft schnappen, als sie zum Ufer schwamm. Von der Meerjungfrau war keine Spur zu sehen.

Kaum am Ufer angekommen, durchfuhr ein markerschütternder Schrei die Nacht. Auf der Hügelkuppe über ihnen sah Méadhbh die Banshee im hellen Mondlicht stehen. Sie war eine dürre Frau mit langem Haar, das um ihre Schultern wehte. Sie trug etwas, das aussah wie ein zerissenes Tuch. Ihr Gesicht war zerfurcht von Jahren der Trauer, ihre Augen ein schwarzer Abgrund. Die Banshee hob einen Arm und deutete auf Darragh, der sich gerade die letzten Meter ans Ufer kämpfte; dann wimmerte und schrie sie erneut auf, dass einen jeglicher Mut verließ.

„Wo ist dein Weißdornbaumzweig?“, rief Méadhbh ihrem Bruder zu. Dieser sah an sich herunter und erkannte, dass er Hufe anstelle von Händen hatte. Ein letzter Zauber hatte ihn wohl doch noch getroffen und er hatte den Zweig nicht mehr festhalten können. Als Darragh den Fuß auf festes Land setzte, durchfuhr ihn ein Schauder, dann zerfiel er vor den Augen seiner Schwester zu Staub.

Méadhbh wollte ihren Augen nicht glauben. Sie begriff nicht, was passiert war oder weshalb. Sie selbst hatte den Weißdornbaumzweig nach wie vor in der Hand und wagte es auch nicht, ihn aus der Hand zu legen. Sie sah zu dem Hügel hoch, aber auch die Kreatur war verschwunden.

Méadhbh begab sich auf den Weg zu ihrem Haus, sie stellte jedoch schon bald fest, dass sich etwas verändert hatte. Die Straße verlief anders, als sie diese in Erinnerung hatte. Neue Häuser waren errichtet worden und alte verschwunden. An der Stelle, an der sie vor kurzem erst einen kleinen Setzling gepflanzt hatte, ragte nun eine alte Weide in den Himmel. Auch Méadhbhs Anwesen hatte sich verändert. Das Haus war größer geworden. Sie blickte durch das Fenster ins Innere des Hauses und erkannte eine fremde Familie, die darin wohnte. Ein fremdes Kind, das auf dem Boden saß, wo ihr Sohn doch gerade erst gespielt hatte. Sie musste länger in der Anderswelt gewesen sein, als ihr schien. Eine Tafel am Zaun des Anwesens bestätigte ihre Vermutung. Sie war über 200 Jahre in der Anderswelt gewesen.

Méadhbh setzte sich an der Hügelkuppe am Lough Inagh nieder und betrachtete den See. Sie fühlte jemanden neben sich stehen und wusste, dass es die Banshee war, die nun für sie gekommen war. Dieses Mal schrie die Kreatur nicht, sondern stille Tränen rannen ihr Gesicht hinunter. Es gab niemanden mehr, der um Méadhbh trauern würde, also musste sie auch nicht gehört werden. Méadhbh hob den Kopf und erwiderte still den Blick der Kreatur. Für einen Moment glaubte sie, einen Ansatz von Freude in dem von Trauer zerfurchten Gesicht zu erkennen. Sie ließ den Zweig aus ihrer Hand gleiten und spürte die Last der Jahrhunderte über sie hereinbrechen, bevor der Wind durch ihre Fasern drang und sie als Staub auf den See hinaustrug.

Es heißt, noch heute könne man an manchen Tagen die Banshee auf dem Hügel stehen sehen. Anstelle eines Omens für einen bevorstehenden Tod, gedenke sie ihrer verwandten Seele, Méadhbh O‘Keeffe. Wem sein Leben lieb ist, sei an dieser Stelle geraten, ihr Gedenken nicht zu stören.

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