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von Victoria Grader
Im Gasthaus gegenüber von unserem Haus gibt es vier verschiedene Spielzeugautomaten. Meine Schwester Eva mag den am liebsten, der Plastikschmuck ausspuckt und ich kann mich oft nicht zwischen dem Kaugummi- und dem Flummiautomaten entscheiden. Nur mit dem Vierten können wir nicht so wirklich etwas anfangen: Darin befinden sich quadratisch verpackte, glitschige Plastikfolien, die man auseinander ziehen kann. Eva meint, das sind Verpackungen für bereits geschälte Bananen, die man etwas später noch essen möchte. Aber Bananen mögen wir beide nicht.
Für jeden Automaten braucht man einen Euro, für den mit dem Schmuck sogar zwei. Seitdem wir die Automaten entdeckt hatten, freuten wir uns ganz besonders, wenn eine Taufe, eine Hochzeit oder ein Geburtstag in dem Gasthaus gefeiert wurde. Fast jeder Gast hatte ein paar Münzen übrig. Wir achteten darauf, Tanten, Onkel und entfernte Verwandte einzeln nach eine Münze zu bitten. Dann bedienten wir uns an den Automaten und versteckten unsere Beute in der Tasche unserer Mutter, bis wir zu Hause waren und alles aufteilten.
Vor ein paar Tagen hatte Papa bei der Konfirmation unserer Cousine ein Taschentuch gebraucht und in Mamas Tasche herumgekramt. Nach ein paar Sekunden war sein anfänglich erstauntes Gesicht dunkelrot vor Wut geworden. Das Häufchen Plastikkugeln in seinem Schoß zeigte uns deutlich, was ihn so verärgerte und zu Hause erlebten wir deshalb ein Donnerwetter. „Ihr verwöhnten Bälger nehmt die Gäste aus wie Weihnachtsgänse, anstatt euer eigenes Geld zu sparen? Na wartet, den Wert des Geldes werdet ihr schon noch verstehen lernen. Ab jetzt ist für euch nichts mehr kostenlos in diesem Haus!“, sprach er und führte ein strenges Geldsystem zuhause ein. Er holte eine Hand voll Murmeln und legte die Preise für eine Tube Zahnpasta, eine Rolle Klopapier, eine Mahlzeit und eine Packung Kekse fest: All das bekamen wir für eine Murmel. Und für eine Stunde Hausarbeit bekamen wir zwei Murmeln. Das Schlimme war, dass er davon nicht abwich und wir seitdem für unser Abendessen eine halbe Stunde schuften mussten, und noch mal eine halbe Stunde, wenn wir eine Nachspeise wollten. Wir mussten also mindestens 2 Stunden am Tag im Haushalt helfen, wenn wir so leben wollten wie bisher. „Seid froh, dass ihr den Strom und das Wasser nicht berechnet bekommt“, sagte mein Vater, als wir uns beschwerten.
„Ich hab keine Lust mehr, mein Klopapier selbst zu bezahlen“, brummte Eva mir eines Nachts schlaftrunken zu, nachdem wir das Licht gelöscht hatten und beide in unsere Stockbetten geklettert waren. „Es muss doch eine andere Möglichkeit geben“, gähnte sie. Als sie schon schnarchte, grübelte ich noch ein bisschen, bis ich einen Plan hatte, den ich schon am nächsten Morgen in die Tat umsetzte.
In der Schule erzählte ich der dicken Angelika, dass mein Papa jede Menge Schokoladenkekse verkaufte – und zwar für Murmeln. Am Tag darauf brachte sie zwei Hände voll Murmeln mit. „Wie viele Murmeln möchte dein Papa für eine Packung Kekse?“, fragte sie. Ich überlegte kurz und sagte: „Zwei Stück.“ Also gab sie mir zwölf Murmeln und ich musste nur noch zusehen, dass ich sechs Packungen Kekse dafür bekam. Damit mein Papa nicht misstrauisch wurde, löste ich erst mal nur zwei Packungen Kekse am Tag ein und konnte Angelika drei Tage später alle Packungen bringen. „Hat mich gefreut, Geschäfte mit dir zu machen“, sagte sie und riss die erste Packung sofort auf. Ich nickte. „Das kann ich nur zurückgeben. Empfehl‘ mich weiter!“
Nach ein paar Wochen lief das Geschäft ganz von alleine. Mehrere Kinder brachten ihre Murmeln zu mir und ich belieferte sie mit Waren. Tatsächlich gingen Klopapier und Zahnpasta ganz gut: Denn es gab jede Menge Streiche, die man damit treiben konnte. Irgendwann ernannte ich die dicke Angelika zu meiner Vertriebsleiterin. Ich bekam nun drei Murmeln pro Gegenstand und sie eine. So verdiente ich ganz ordentlich dazu und konnte mir einen Hamstervorrat von Süßigkeiten auf dem Dachboden anlegen. Ich musste immer weniger arbeiten, aber hatte stets mehr Murmeln als Eva. Irgendwann wurde sie misstrauisch und auch meine Mutter wunderte sich, aber keiner der beiden sagte ein Wort zu meinem Vater. Das konnte nur so lange gut gehen, weil allein meine Mutter die Murmeln nach der Hausarbeit herausgab und wir diese dann nicht bei ihr, sondern bei meinem Vater gegen Waren eintauschen konnten. Er selbst half nämlich nie im Haushalt und war in der Freizeit meistens mit seinem Auto beschäftigt. Eva verpetzte mich zwar nicht, aber zwickte mich, nachdem sie mit einer Kekspackung und ich mit fünf in den Armen vom Keller hochkam, wo Papa nicht nur sein Auto, sondern auch das immer schon üppige Warenlager hatte. „Sag schon, wie hast du das angestellt? Du kleiner Mistkerl! Wie bist du an all die Murmeln gekommen?“ „Das wirst du noch früh genug erfahren“, deutete ich geheimnisvoll an. „Und jetzt lass mich in Ruhe.“
Eines Nachmittags saßen wir zu Tisch beim Sonntagsbraten und ich verkündete feierlich: „Irgendwann kommt wohl jeder hart arbeitende Mensch zu diesem Punkt: Das Leben ist kurz und ich, ich für meinen Teil, habe genug geackert. Ab heute werde ich nicht mehr abspülen, staubsaugen oder die Wäsche aufhängen. Ich denke, ich setze mich zur Ruhe.“ Mein Vater sah verdattert von seinem Teller hoch und auch Eva wirkte verwirrt. „Und wie willst du es schaffen, weiterhin an diesem Tisch zu essen?“, grinste mein Vater und gluckste meiner Mutter amüsiert zu. „Das schaff ich schon“, antwortete ich und zuckte mit den Schultern. „Ich hab nämlich mittlerweile den Wert des Geldes verstanden.“ Dann legte ich meine Gabel beiseite. „So?“, fragte mein Vater und zog eine Augenbraue hoch. Fein säuberlich faltete ich meine Serviette und rückte das Armband aus Murmeln zurecht, dass ich mir vor Kurzem gebastelt hatte. „Die Menge des Geldes zeigt nämlich nur, wie klug der Besitzer ist, Papa. Das weiß ich jetzt.“ Ich legte den Kopf schief und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Die Dummen arbeiten dafür und die Schlauen finden andere Dumme, die dafür arbeiten.“ Als sein Gesicht die Farbe von Himbeerkompott hatte, nahm ich die Beine in die Hand und flüchtete auf den Dachboden. Zum Glück ist mein Überleben hier für die nächsten paar Tage gesichert. Ich warte noch ein bisschen, bis er sich beruhigt hat. Und dann werde ich ihn mir im richtigen Moment beiseite nehmen und es ihm nochmal erklären. Bis auch er den Wert des Geldes verstanden hat.
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