von Martin Trappen
Der Junge stand regungslos vor dem Grab seiner Mutter und spürte kaum den Regen, der auf seinen Kopf niederprasselte. Er konnte nicht mehr sagen, welche von den Tropfen, die seine Wangen hinunterliefen, Tränen waren. Warum? Warum sie? Der Junge scherte sich nicht darum, dass seine Kleidung klatschnass wurde. War ich nicht immer brav? Geistesabwesend scharrte er mit seinen Schuhen in der Erde. War es am Ende meine Schuld? Hin und wieder trat er fester auf und verteilte so Kieselsteine und Matsch auf dem ansonsten gepflegten Grab. Wie es wohl so ist, zu sterben? Er bemerkte nicht, wie sich der Fremde näherte.
„Was hast du denn hier verloren, du Knirps?“ Der Junge erschrak und drehte sich um. Er konnte das Gesicht des Mannes nicht erkennen. In der einen Hand hielt dieser einen Regenschirm, mit der anderen stützte er sich auf einen Stock. „Du hast dir aber auch einen schlechten Tag ausgesucht. Was für ein Pisswetter.“ Der Junge presste die Lippen zusammen und wandte sich wieder dem Grab zu. Der Mann stellte sich direkt neben ihn, so dass der Regenschirm dem Jungen auch Schutz gab. „Moment“, sagte der Mann und streckte sein Gesicht näher zum Grabstein hin. „Das Grab war gestern noch nicht hier.“ Er schien die Grabinschrift lesen zu wollen. „Ich habe meine Brille vergessen. Was steht denn dort?“, fragte der Mann. Er bekam keine Antwort.
Ein paar Minuten standen die beiden schweigend da. Der Regen prasselte unentwegt weiter. „Ich setze mich jetzt auf die Bank dort hinten. Wenn du im Trockenen sein willst, kannst du dich gerne zu mir setzen.“ Der Mann stöhnte, als er die paar Schritte zur Parkbank zurücklegte und sich langsam hinsetzte. Dort legte er den Stock beiseite, nahm eine Pfeife aus seinem Mantel, stopfte sie und zündete sie an. Nachdem der Mann eine Weile vor sich hin gepafft hatte, begann der Junge wieder, Dreck und Matsch Richtung Grab zu treten. Er trat immer fester und fester, bis er schließlich anfing, alles auf dem Grab in Unordnung zu bringen: Er stieß eine Laterne um, so dass die Kerze herausfiel und im Regen erlöschte. Er trat eine weitere Kerze samt Halter um, riss sämtliche Blumen vom Grab und zertrampelte sie.
Schließlich verpasste er dem Grabstein einen Kick. Vor Schmerz schrie er auf und fiel rücklings in den Matsch. Währenddessen zog der Mann in Ruhe weiter an seiner Pfeife. Irgendwann stand der Junge auf, klopfte sich die Hose ab und hinkte hinüber zur Bank. Er setzte sich dicht neben den Fremden, damit er unter dem Schirm saß. Er hielt sein rechtes Bein fest, dass immer noch schmerzte. Jedes Mal, wenn der Mann an seiner Pfeife zog, konnte der Junge für einen kurzen Moment dessen Gesicht erkennen. Es war faltig, aber freundlich, traurig und doch entschlossen.
„Meine Mutter“, schniefte der Junge, während er mit nassen Ärmeln versuchte, sich die Tränen abzuwischen.
„Ich weiß“, sagte der Mann und reichte dem Jungen ein Taschentuch. Der Junge trocknete sich damit das Gesicht ab. „Es gibt nur zwei Menschen, für die ein Mann so ein Unwetter auf sich nehmen würde. Seine Frau und seine Mutter.“ Der Junge zerknüllte das Taschentuch in seinen Händen und stierte wieder auf das Grab. „Mit diesen Blumen dort hätte ich eben nicht tauschen wollen“, meinte der Mann.
„Ich wünschte, ich hätte noch mehr zum Kaputtmachen“, sagte der Junge und ballte seine Hand zur Faust.
„Ich kann dich verstehen. Ich wollte auch alles kurz und klein schlagen, als meine Dolores gestorben ist. Das Schlimmste ist, nicht zu wissen, auf wen du eigentlich wütend bist“, sagte der alte Mann.
„Ich bin auf den wütend, der meine Mutter umgebracht hat!“, blaffte der Junge.
„Wen meinst du? Die Ärzte?“, fragte der Mann.
„Nein, den Tod natürlich!“, sagte der Junge.
„Auf den kannst du nicht wütend sein. Der macht doch nur seine Arbeit“, sagte der Mann und nahm einen Zug aus der Pfeife.
„Ich kann wütend sein, auf wen ich will!“, schrie der Junge.
„Natürlich kannst du das“, der Mann stieß den Rauch aus, „aber es nützt nichts.“
„Wieso nützt das nichts?“, wollte der Junge wissen.
„Den Tod interessiert es nicht, ob du wütend bist“, sagte der alte Mann. „Er nimmt sich, wen er will, wann er will. Und du kannst gar nichts dagegen tun. Du musst dir jemanden aussuchen, der deine Wut auch spürt.“
„Und wen?“, fragte der Junge.
„Na, du selbst, natürlich“, sagt der alte Mann. Der Junge schaute ihn verwirrt an. „Irgendwann wirst du sehen, dass du nur auf dich selbst wütend bist. Du bist sauer auf dich, weil du nicht mehr Zeit mit deiner Mutter verbracht hast. Du bist sauer, weil du sie so einfach hast gehen lassen. Du bist sauer, dass sie dich verlassen hat.“ Der Junge fing an zu weinen und zu schluchzen. Der alte Mann rauchte ruhig weiter. Als der Junge nur noch schniefte, sagte der alte Mann: „Ich frage mich schon lange, wie es wohl ist, zu sterben.“ Der Junge wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, obwohl sie ihm immer noch die Wangen hinunterliefen. Er schnäuzte in das Taschentuch.
„Ich bin alt. Ich werde es bald erfahren.“
Der Junge schaute den alten Mann neugierig an.
„Sei froh, dass du noch so lange auf eine Antwort warten musst, Kleiner“, sagte der Mann und legte seinen Arm tröstend um die Schulter des Jungen, während der Regen unermüdlich weiter fiel.
Sehr berührend
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Oh Mann, das hat mich wirklich tief berührt. Und nachdenklich gemacht… Danke! 🙂
Liebe Grüße, Werner
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