Jan sah bereits zum fünften Mal auf die Bahnhofsuhr. Natürlich hatte sein Zug Verspätung. Der eisige Wind machte das Warten nicht angenehmer. Unschlüssig schlenderte er über den Bahnsteig, während er immer wieder auf die Laufanzeige schaute. Er sah sich das Schaufenster des Bahnhofkiosks an. Darin waren Esoterik- und Sprachzeitschriften, Koch-, Back- und Sportmagazine ausgestellt – und ein Stoffhase .
Moment, was hatte ein Stofftier da zu suchen? Jan betrachtete das Kuscheltier genauer: Es war ein kleiner weißer Hase mit Knopfaugen und Schlappohren, um dessen Bauch ein Band ging, das an seinen Armen mit Gummis befestigt war mit der Aufschrift:
Wer vermisst mich?
Jan sah das Stofftier lange an. Fast hätte er dabei seinen Zug versäumt, doch er schaffte es gerade so noch durch die Türe. Er ließ sich auf einen Sitz fallen, zog seine Beine an und klemmte sie zwischen sich und die Rückenlehne des Vordersitzes. Dabei dachte er noch lange an den Hasen. Er erinnerte Jan an ein Stofftier, das er als Kind einmal hatte. Allerdings wusste er nicht mehr, ob es ein Hase oder ein Lämmchen gewesen war, er sah nur noch weißes Fell und Schlappohren vor sich. Was solls, dachte er sich und schaltete die Musik auf seinem Smartphone an, stellte den Wecker seines Handys und schloss die Augen. Vielleicht konnte er ja die drei Stunden Fahrt schlafen.
Am Zielbahnhof stieg er aus und machte sich auf den Weg zum Haus seines Freundes Theodor und dessen Frau Frieda. Auch ihr gemeinsamer Freund Lars würde da sein.
Mit den dreien war Jan auf der Uni gewesen, sie hatten sich damals auch eine Wohnung geteilt. Seit zwei Jahren hatten sie sich nicht mehr gesehen. Der Job als Reisefotograf hatte Jan in eine andere Stadt, sogar rund um die Welt geführt, die anderen waren in ihrer Heimatstadt geblieben. Sie hatten ab und an miteinander geschrieben, aber kaum mehr als Floskeln und Small Talk ausgetauscht sowie die Versprechen, einander bald mal zu besuchen. Jan hatte sich schließlich selbst eingeladen und seine Freunde waren einverstanden. Jan freute sich schon sehr, die drei wiederzusehen. So musste es dem Kind gehen, wenn es seinen Stoffhasen wiederbekommen sollte.
Als er an der Tür klingelte, öffnete Theodor ihm und winkte ihn herein. Er begrüßte Jan mit Handschlag und Umarmung, sah ihn dabei allerdings nicht an und sagte auch nichts, so sehr war er noch in das Gespräch mit den anderen vertieft. Auch Frieda und Lars nickten Jan nur kurz zu, ohne ihr Gespräch zu unterbrechen, an dem sich nun auch Theodor wieder beteiligte. Jan nickte ebenfalls nur, bevor er in die Küche ging, um sich ein Glas Wasser zu holen. Er war erstaunt, wie ordentlich alles war. Die Arbeitsflächen der Küche und auch der Fußboden der gesamten Wohnung glänzten, beinahe kristallrein. Früher hatten sie alle immer ihre Sachen irgendwo hingeworfen. Aber sie hatten ihr Chaos beherrscht und sich wohlgefühlt. Hier und jetzt hatte jedes Ding seinen Platz, nichts lag wie zufällig herum, es war praktisch steril, wie in einem Museum mit dem Motto: so könnten Menschen leben.
Er setzte sich zu den anderen und begann zu erzählen: „Wisst ihr, ich habe heute am Bahnhof einen Stoffhasen gesehen. Ein Kind hat ihn wohl verloren und der Kiosk hat ihn ausgestellt, falls ihn jemand sucht.“
„Ja, das haben wir auch manchmal an unserem Bahnhof. Allerdings werden die Kuscheltiere eher weggeworfen als abgeholt. Danach fragt nie jemand“, sagte Frieda.
„Dem Kind wird er wohl sehr fehlen“, vermutete Jan.
„Kinder vergessen ihr Spielzeug recht schnell wieder“, meinte Theodor. „Es hat bestimmt schon ein neues Kuscheltier.“
„Aber -“
„Was bitte ist an einem Stofftier so interessant, dass man darüber reden müsste?“, unterbrach ihn Lars.
„Außerdem“, meinte Frieda, „unsere Tochter vergisst auch recht schnell ihre Sachen, die sie irgendwo liegen lässt.“
Jan stutzte. „Ihr habt eine Tochter? Ihr habt ja gar nichts erzählt.“
„Hat sich nicht ergeben“, sagte Frieda entschuldigend und warf Theodor einen Blick zu. „Als frische Eltern ist man ja immer gefordert.“
Jan nickte nur. Er wusste nicht, was er darauf noch sagen sollte. Er hörte den Gesprächen der dreien zu, als sie sich über ihre Bürojobs unterhielten. Er sah jedem von ihnen ins Gesicht, hörte ihre Worte und fühlte sich einsam. Sie waren jetzt Personaler, Steuerfachangestellte und Finanzberater. Alle vier hatten in ihrer Studienzeit den Traum vom Künstlersein, den jetzt nur Jan sich erfüllt hatte. Lars hatte das Schauspiel aufgegeben, Frieda das Malen, Theodor die Musik. Jetzt saßen sie in Großraumbüros.
„Dann wart ihr wohl auch nicht auf der Demo, die hier letzte Woche war?“, fragte Jan.
„Nein“, lachte Theodor, „aus dem Alter sind wir raus.“
„Was soll denn das heißen?“
„Man wird halt erwachsen“, sagte Lars.
„Konservativ und faul wohl eher“, murmelte Jan.
Frieda schlug auf den Tisch. „Jetzt hör aber mal -“
Theodor unterbrach sie, indem er einen Teller mit Schnittchen anbot: „Jemand ein Häppchen?“
Jan lehnte ab und still schweigend einigte man sich darauf, dieses Gespräch ruhen zu lassen und auf andere unverfänglichere Themen überzugehen. Jan hörte schließlich nur noch mit einem Ohr zu, während die anderen drei über die Vor- und Nachteile eines bestimmten Vans sprachen.
Das war es jetzt also. Das waren ihre Sorgen? Für die Kunst war keine Zeit und Muße mehr. Hatten sie noch Zeit für Jan? Passte er überhaupt noch in ihre Welt? Würden sie ihn vermissen? Würden sie ihn ersetzen?
Dann korrigierte Jan seine Gedanken. Hatten sie ihn vermisst? Hatten sie ihn bereits ersetzt? Jan blieb still, aber es fiel keinem der anderen auf. Er fragte sich, warum er noch hier war. Er fühlte sich fehl am Platz, nicht zugehörig und etwas zog ihn weiter auf seinem Weg. Er hatte ihnen nichts mehr zu sagen. Dann stand er auf, packte seine Sachen und ging zur Tür.
Doch Frieda war ihm gefolgt. „Wo willst du denn hin?“
„Nach Hause“, sagte Jan.
„Aber du kannst doch jetzt nicht einfach gehen. Wir haben uns so lang nicht mehr gesehen.“
„Weißt du“, fing er an, „heute als ich den Stoffhasen -“
„Fängst du schon wieder mit dem Stoffhasen an?“, lachte sie.
„Ach, um den Hasen geht’s doch gar nicht“, sagte er und ging.