von Annika Kemmeter
„Magen-Darm?“ Mit der Linken hielt ich das Handy an mein Ohr, während ich mit rechts versuchte, Fine einen Löffel Banane-Apfel-Dinkel-Brei in den Mund zu schieben. „Nein, natürlich, du musst zu Hause bleiben“, sagte ich. „Kein Problem, mir wird schon was einfallen … Danke. Und gute Besserung.“
Fine pustete mir den Brei entgegen. Zum Glück trug ich noch meinen Pyjama.
„Halt, bist du noch dran?“ Aber Fines Vater hatte schon aufgelegt, bevor ich ihn fragen konnte, ob ihm ein Ersatz einfiel. Erst jetzt stieg Panik in mir auf.
Das Bewerbungsgespräch war in zwei Stunden. Ich brauchte diesen Job. Ohne Job kein Anspruch auf einen Kitavollzeitplatz. Ohne Kitaplatz kein Job. Jetzt war genau das Zeitfenster, in dem ich Fine noch anmelden konnte. Außerdem wollte ich den Job, denn die Beschreibung traf so genau auf mich zu, als hätte ich mein Leben lang auf diesen Beruf hingearbeitet. Ich erfüllte alle Anforderungen und spannend klangen die Aufgaben auch. Die Firma wurde im Internet mit fünf Sternen für Arbeitnehmerfreundlichkeit bewertet. Ich musste diesen Job bekommen! Aber was machte ich bloß mit Fine?
Ich merkte erst, dass ich wie erstarrt auf meinem Stuhl gesessen hatte, als Fine anfing zu weinen. Ich hielt ihr das Fläschchen hin. Kurz war Ruhe. Tief einatmen. Nachdenken. Vielleicht hatte Anna eine Idee? Sie war meine beste Freundin und hatte schon einen achtjährigen Sohn. Anna hatte eine Idee. Sie schlug vor, mich in der City zu treffen und Fine für die Stunde, die das Gespräch dauern würde, zu übernehmen.
Die Anspannung fiel, ihre letzten Reste duschte ich unter warmem Wasser ab. Fine saß in ihrem Maxi-Cosi vor mir und lachte, wenn ich mit der Duschbrause in ihre Richtung gegen die Glasscheibe zielte.
Ich zog die Kleider an, die ich gestern rausgelegt hatte, als ich das Dröhnen der Müllabfuhr hörte. In der Küche stand der dicke Sack mit den Windeln und verpestete mit seinem Gestank die halbe Wohnung. Ich hedderte mich durch die Bluse, ließ Fine im Bad, packte den Sack und hiefte ihn die Treppe hinunter und raus zu den Mülltonnen.
Der Müllmann hatte die Tonne schon in der Hand, öffnete mir aber galant den Deckel, damit ich den Windelmüll noch reinwuchten konnte. Der Gestank aus der Tonne raubte mir den Atem. Er sagte etwas, aber Herr Werner, unser Nachbar aus dem Obergeschoss, zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Er verließ gerade das Haus und sein sperriges Paket verstopfte schon seit zwei Wochen meinen Flur. Ich lief zu ihm, um ihn zu bitten, es abzuholen, denn es war so schwer, dass ich es nicht zu ihm hochtragen konnte. Herr Werner schwang sich auf sein Rad. „Ich hole es heute Abend“, sagte er und winkte. Na hoffentlich!
Ich drehte mich um und sah den Müllmann, der die leeren Tonnen in unseren Hof zurückschob. Da traf mich der Schreck: Ich hielt meinen Schlüsselbund nicht mehr in der Hand. Ich hatte ihn zusammen mit dem schweren Windelsack in beiden Händen gehalten und jetzt war er weg! Mehrere Gedanken wirbelten gleichzeitig in meinem Kopf. Den Briefkastenschlüssel gab es nur einmal! Also jetzt gar nicht mehr. Fine war allein in der Wohnung! Die Haustür verschlossen! Ob sie schon schrie? Ich rannte zur Tonne, aber sie war leer. Wie lange braucht ein Schlüsseldienst? Mein Kopf dröhnte, oder war es nur das Müllauto? Der Müllmann war jetzt am Nachbarhaus, aber mir war klar, dass ich sowieso nichts mehr tun konnte. Der Schlüssel lag im Schlund des Müllwagens. Mit zugeschnürter Kehle rannte ich zur Tür und drückte alle Klingelknöpfe auf einmal. „Hallo?“, fragten zwei Stimmen gleichzeitig. „Julia Brandt, ihre Nachbarin. Ich habe meinen Schlüssel“, da summte es bereits und ich hechtete atemlos in meine offene Wohnung.
Fine spielte im Maxi-Cosi mit ihren Füßen. Die Socken hatte sie mal wieder abgezupft. Ich beugte mich hinab, gab ihr einen Kuss, zog ihr die Socken wieder an, richtete mich auf und sah im beschlagenen Spiegel, dass meine Haare noch nass und verstrubbelt waren. Geschminkt hatte ich mich auch noch nicht. Außerdem musste ich die Wickeltasche packen. Ich priorisierte und begann mit dem Wichtigsten: Zuerst suchte ich nach dem Ersatzschlüssel, dann sah ich nach, mit welcher Bahn ich fahren musste, um Anna pünktlich zu treffen, packte die Wickeltasche, machte mich an die Haare, sah auf die Uhr. Ich musste los! Ich warf mein Schminkzeug in einen kleinen Beutel und roch noch mal an Fines Windelpo, nur um sicher zu gehen. Die Windel war leer. Ich zog Fine den Außenanzug an, schnappte die Wickeltasche und meinen Rucksack. Kurz hielt ich inne, um sicherzugehen, dass ich alles hatte, dann schloss ich die Tür hinter mir. Sofort schloss ich sie wieder auf, rannte in die Küche und holte mein Handy.
Mit Fine im Kinderwagen eilte ich zur Bahn. Dort saß ein rotes Käppchen auf dem Haltestellenschild. „Haltestellenverlegung“ stand darauf. Ich sah mich um. Die Ersatzhaltestelle lag zwanzig Meter entfernt, auf der anderen Seite der vielbefahrenen Kreuzung. Ein Mann rannte gerade zur Bahn, die gnädig noch einmal die Tür für ihn öffnete. Pfeifend fuhr meine Bahn an mir vorbei. Bis die nächste kam, hatte ich zehn Minuten, also holte ich mir, um runter zu kommen, einen Kaffee beim kleinen Bäcker. Während ich ihn trank, verfluchte ich mich wegen der Dummheit mit dem Schlüssel. An der Ersatzhaltestelle gab es keine Bank, also stellte ich den Rucksack auf den staubigen Boden und wühlte darin nach meinem Schminkzeug. Ich wühlte noch mal, dann öffnete ich die Reisverschlüsse bis zum äußersten Rand und spähte hinein. Das Schminktäschchen war nicht drinnen. Ich musste es im Bad stehengelassen haben. Ich sah auf die Uhr. In fünf Minuten kam die Bahn, würde ich es noch mal nach Hause und zurück schaffen? Mit solchen Augenringen konnte ich nicht vorsprechen, die würden mir nichts zutrauen, außer heimlich auf der Arbeit meinen Schlaf nachzuholen.
Ich rannte, die Vorderreifen des Kinderwagens anhebend, damit sie nicht schlackerten, zurück. Fine blieb im Kinderwagen vor der Haustür, als ich die Stufen hinaufhechtete. Ich packte das Schminktäschchen, das unschuldig am Waschbeckenrand stand, und raste zurück. Ich hatte Seitenstechen, aber die Bahn fuhr gleich ab. Ich zwang mich, weiter zu rennen, bis zur Haltestelle, an der sich mittlerweile eine kleine Menschenansammlung gebildet hatte. Die Bahn war also noch nicht gekommen! Ein Glück! Wir standen ungeduldig und warteten. Ich versuchte meinen stoßenden Atem flach zu halten, der mir in der Stille der Wartenden übertrieben laut vorkam. Ich hatte Hemmungen, mein Deo auszupacken und es in der Öffentlichkeit zu benutzen, aber ich schwitzte und tat es trotzdem.
Irgendwann kam ein Passant die Straße hoch und erklärte uns, dass es einen Unfall gegeben habe. Die Bahn würde nicht kommen. Ich war die erste, die geistesgegenwärtig auf eines der beiden Taxis am Taxistand zusteuerte. Beide Fahrer schüttelten den Kopf. Sie hatten keinen Kindersitz dabei. Den zweiten beschwor ich hier zu warten. „Ich bin in fünf Minuten wieder da. Mit meinem eigenen Kindersitz. Fahren Sie nicht mit jemand anderem weg!“
Als ich zurückkam, war der Taxistand leer. Tränen der Wut stiegen auf. Ich fluchte und schaute auf die Uhr. Es wurde jetzt wirklich knapp, wenn ich Anna vor dem Bewerbungsgespräch noch treffen wollte. Ich schickte ihr eine Nachricht. „Das Schicksal hat sich gegen mich verschworen! Ich komme mit einem Taxi direkt zu dir, wenn ich eins finde!“ Ich hatte es kaum getippt, als ein Taxi angefahren kam.
„Sind sie die Mutter, die eben hier war?“
„Ja.“
„Mein Kollege hat mich gerufen. Ich habe einen Kindersitz.“
Ich hielt Fines Maxi-Cosi hoch. „Ich habe auch einen Kindersitz“, sagte ich. Verständnislos sah mich der Taxifahrer an. Ich öffnete wortlos die Tür, keine Zeit für Erklärungen, und befestigte den Sitz mit schnellen Handgriffen neben dem anderen im Auto. Dann setzte ich Fine hinein, faltete den Kinderwagen klein und ließ ihn vom Taxifahrer mitsamt meinen Taschen in den Kofferraum packen. Als wir losfuhren, ärgerte ich mich, weil mein Schminkbeutel nun im Kofferraum lag. Ich nannte Annas Adresse.
„Es gab einen Unfall an den Gleisen“, sagte der Taxifahrer und nickte zu der langen Autoschlange vor uns. „Ich kann das umfahren.“
„Bitte!“
Er blinkte und fuhr einen scharfen U-Turn, dann sauste er in eine kleine Einbahnstraße und bremste scharf. Vor uns stand das Müllauto, in dem sich Fines Windeln und mein Schlüsselbund befanden. Es dauerte zwölf Minuten, bis wir überholen konnten. „Sorry“, sagte der Taxifahrer.
Fine begann zu schreien. Ich war mir sicher, dass auch der Taxifahrer roch, was der Grund dafür war. Wenn andere Kinder schrien, störte mich das nicht. Wenn Fine schrie, wurde mein Gehirn in Panik-Modus versetzt. An einer roten Ampel sprang ich aus dem Auto, um die Wickeltasche aus dem Kofferraum zu holen. Dann saß ich wieder auf dem Beifahrersitz und fragte mich, wie ich sie wickeln sollte. Denn zwischen den beiden Babyschalen war auf der Rückbank kein Platz dafür. Außerdem hätten wir dafür anhalten müssen. Also blieb ich mit der Tasche auf dem Schoß sitzen und hörte Fines Gebrüll tatenlos zu. Wenn ich wenigstens die Schminktasche geschnappt hätte, statt die Wickeltasche! Die Zeit verstrich und wir kamen kaum vorwärts. Ich rechnete aus, dass ich es nicht mehr pünktlich schaffen konnte, wenn ich erst zu Anna fuhr. Also rief in sie an und fragte, ob sie zu meiner potentiell neuen Firma fahren und Fine dort abholen konnte.
„Das wird knapp“, sagte Anna.
„Ich schaffe es nicht erst zu dir, dann bin ich hundertprozentig zu spät.“
„Ich kanns versuchen“, sagte Anna. Fine schrie die ganze Zeit. Mein Geischt war heiß, meine Hände kalt. Ich war sicher, dass ich rote Flecken im Gesicht hatte, verzichtete aber darauf nachzusehen.
Ich teilte dem Taxifahrer die neue Adresse mit und befahl mir tief durchzuatmen statt weiter die Wickeltasche zu zerquetschen. Eine Welt, in der Omas nicht mehr arbeiten müssten. Eine Welt, in der Kinder während Bewerbungsgesprächen selbstverständlich im Nebenraum betreut werden. Ich schüttelte den Kopf. Eine Welt ohne Magen-Darm. Statt zu träumen sollte ich mich auf das Bewerbungsgespräch vorbereiten. Die Minuten verrannen, aber immerhin ging es vorwärts. Zwei Minuten vor meinem Termin kamen wir an. Der Taxifahrer hob den Kinderwagen heraus, ich nahm die verheulte Fine samt Autositz heraus. Den Rotz hatte sie über das ganze Gesicht bis in ihre Haare geschmiert. Anna war noch nicht da.
Ich hob Fine aus dem Sitz und fühlte etwas Warmes, Feuchtes an meinen Fingern. Ihre Kackawindel war übergelaufen. Hatte ich Wechselsachen eingepackt? Ich glaubte schon. Fine sah mich beleidigt an und schluchzte. Ich wollte sie im Bürogebäude wickeln, wusste aber nicht, wie ich mit ihr, die ich so weit wie möglich von mir entfernt hielt, mit dem Wagen, den Taschen und dem Maxi-Cosi in das Gebäude gelangen sollte. Ich fühlte mich plötzlich unendlich schwach und hohl. Eine Frau im Kostüm ging an mir vorbei und steuerte den Eingang an. Ich nahm mich zusammen: „Entschuldigung, können Sie mir kurz helfen?“
Sie schüttelte unverbindlich lächelnd den Kopf und ging hinein. Dabei stieß sie mit einer anderen Frau zusammen, die darüber freundlich lachte und ihr die Tür aufhielt. Sie sah mich und fragte, ob sie mir helfen könne.
„Das wäre großartig!“, sagte ich.
Sie trug den Maxi-Cosi die Treppen hinauf und dann den Kinderwagen, die Wickeltasche und meinen Rucksack. Schließlich hielt sie mir die Tür auf.
„Sie sind meine Rettung“, sagte ich. „Arbeiten Sie hier?“ Vielleicht würde sie meine Kollegin werden?
„Noch nicht. Aber ich hatte gerade ein Bewerbungsgespräch, das super war. Also vielleicht bald!“ Sie strahlte. „Und Sie?“
Ich lächelte tapfer. „Wahrscheinlich nicht“, sagte ich, und sah im Augenwinkel einen Mann auf mich zukommen. Er winkte der anderen freundlich zu und streckte mir die Hand entgegen, die ich, die stinkende Fine in den Händen, nicht ergreifen konnte.
„Frau Brandt?“, fragte er.
„Das bin dann wohl ich“, antwortete ich.