Leseprobe: Am Ende bin ich

Bei lokalen Buchhändlern und online (z.B. bei Autorenwelt und RandomHouse) zu erwerben.

Aus dem Debütroman von Alexander Wachter

Vor 17 Jahren

Über meinem Bett hing ein großes Wimmelbild. Ein Wald mit seinen Bewohnern war darauf abgebildet: Ich entdeckte kleine Kaninchen, die neben ihren Eltern hoppelten und deren Namen mich ins Stolpern brachten, sah Dachse aus ihren Höhlen kriechen, noch bevor ich wusste, was ein Dachs war. Ich erkannte Rehe, die grasten, und Wildschweine, die sich im Dreck suhlten. Sie waren unterschiedlich, doch alle hatten ihre Familie.

»Das ist Papa Hirsch und Mama Hirsch«, sagte ich und deutete mit meinem Finger auf die Tiere.

»Und wo ist Baby Hirsch?«, fragte mein Papa, der seinen Arm um mich gelegt hatte. Ich suchte und fand ihn gleich daneben. »Da ist er«, sagte ich. »Findest du Mama Maus?«, fragte Papa, und ich fand sie sofort. Sie trank neben ihrem Mann und ihrem Kind aus einer Pfütze.

Gestern hatte meine Mutter eine Maus in unserer Garage totgeschlagen. Ich dachte an den leblosen Körper auf dem Betonboden.

»Alles in Ordnung, Schatz?«, fragte Papa. »Das stimmt nicht«, sagte ich und zeigte auf die Mäusefamilie. »Mama hat gestern Papa Maus tot gemacht. Jetzt sind Mama und Baby Maus alleine.« Papa beruhigte mich. »Du wirst sehen, bald kommt eine neue Papa Maus, und dann sind die drei wieder komplett.« Es ergab Sinn, doch mein Papa weinte plötzlich.

Er weinte auch noch am nächsten Tag, als wir in unserem Garten die neue Papa Maus entdeckten. Dabei schimpfte er mich immer aus, wenn ich traurig war.

Aurora
1

Die meisten Geschichten beginnen am Anfang, meine begann mit Aurora.

Wir hatten uns in einem Zugabteil kennengelernt. Der Zug bremste, und ihr Koffer fiel auf meinen Schoß. Sie entschuldigte sich, ich verliebte mich. Da waren ihre Augen, ihre Finger und ihr Lachen, das ich immer und immer wieder hören wollte. Wo sie denn aussteige, fragte ich sie. »In München«, antwortete sie. »Cool, ich auch!« Es knisterte. Beim Aussteigen hatte ich ihre Telefonnummer und sie all meine Gedanken.

Für unser erstes Date überraschte ich Aurora mit einer Rafting-Tour die Isar hinab. Sie war Schwimmerin im Verein, also passte es. In ausgebeulten Neoprenanzügen folgten wir dem Gruppenleiter zum Fluss. Sie griff nach meiner Hand. Ein Erfolg. Die Wellen schlugen gegen das Boot, ihre Muskeln trieben das Paddel hinein. Sie lachte viel. Den Wildwasser-Bereich wollte sie gleich noch einmal fahren, im Mildwasser schloss sie die Augen und lehnte sich gegen mich. Zweiter Erfolg. Auf dem Heimweg schlief sie an meiner Schulter ein. Ihr Kopf wippte mit den Stoßdämpfern des Busses. Dritter Erfolg. Das Highlight aber folgte beim gemeinsamen Abendessen, denn als Dessert gab es Tartufo und Aurora-Küsse. Beide süß, beide süchtig machend. Und wie die Eiscreme schmolz auch ich an ihren Lippen dahin.

Aurora war strebsam. Sie gewann Goldmedaillen im Schwimmen, trainierte mehrere Male die Woche. Ihre Grübchen sangen, wenn sie vom Schwimmen redete. An Land fühlte sie sich schwer und festgebunden, im Wasser aber war sie frei.

Wir besuchten beide die Ludwig-Maximilians-Universität. Sie studierte Betriebswissenschaften. »Einmal mehr Geld verdienen als meine Eltern«, sagte sie. »Einmal in einem richtigen Haus wohnen.« Sie hatte Träume. Für die Wohnung ihrer Eltern schämte sie sich, für die Armut, die einem Plattenbau anhaftete. Es war offensichtlich, sie brauchte es nicht auszusprechen. Ich bemerkte es: an ihrer Art, andere Häuser und deren Gärten anzuschauen. Und daran, dass ich sie nicht bis vor ihre Haustür begleiten durfte. Zu meinem Studium sagte sie nichts. Mit Informatik konnte man gut Geld verdienen, das wusste sie und das genügte ihr.

Zu unserem nächsten Treffen schenkte ich Aurora eine Sonnenblume. Sie ragte aus ihrem Rucksack, als wir Hand in Hand durch den Englischen Garten spazierten. Im Schatten einer Buche breitete ich meine Picknick-Decke aus. Aurora hatte Hummus und Obatzten dabei, für das Gebäck war ich zuständig gewesen. Umgeben von Karomustern, eine knorrige Wurzel in meinem Rücken und Auroras Kopf auf meinem Bauch, redeten wir und vergaßen die Welt um uns herum.

Abends glühten Auroras Rücken und Schultern in einem schmerzhaften Dunkelrot. Der Bikinistreifen diente als Farbtonmesser. »Ich habe eine Aloe-Vera-Feuchtigkeitscreme bei mir zu Hause«, bot ich an. Sie drückte testend auf ihre brennende Schulter und mir dann einen Kuss auf den Mund. »Wie könnte ich da Nein sagen?«

Wir spazierten zu meiner Wohnung. Die gesamte Kaiserstraße war von Prachtbauten aus dem neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert gesäumt. Mein Studentenwohnheim bildete die einzige Ausnahme. Mit seiner Betonfassade und den rostigen Regenrinnen wirkte es wie eine Amphibie inmitten befellter Säugetiere.

Ich durchforstete meinen Badezimmerschrank nach der Feuchtigkeitscreme. »Du kannst von hier sogar den Englischen Garten sehen«, hörte ich Aurora sagen. Sie inspizierte meine Bücherregale und den Inhalt meines Kühlschranks. Sie kaute auf einer Karotte, als ich aus dem Bad mit der Creme in der Hand zurückkam. »Ich hab sie gefunden.« Aurora zog ihr Top aus, dann ihren BH. »Cremst du mich ein?«

Zittrige Finger am Creme-Tubenverschluss, schwitzige Hände auf ihren Schultern und an ihrem Rücken. Ich spürte ihre Haut, aufgeheizt von der Sonne, noch zarter als in meiner Vorstellung. Subtil unter dem intensiven Aloe-Vera-Geruch roch ich sie: Tannen und Rosen, warm und feucht, das Aurora-Aroma.

Sie fuhr mit ihrer Hand unter mein T-Shirt, ertastete meine Nippel. »Du bist dran.« Sie zog an meinem T-Shirt: aus. An meiner Hose: aus. Meinen Briefs: aus. Ich stand vor ihr, nur noch Socken am Leib. Sie begutachtete mich, fuhr meinen Rücken entlang zu meinem Hintern, legte ihre Hand an meine Brust. »Das wollte ich schon machen, als ich dich das erste Mal gesehen habe.« Ein Flüstern an meinem Ohr. Sie ging auf die Knie.

Danach lagen wir auf dem verschwitzten Laken, abgedeckt, Aurora in meinem Arm. Ihre Finger strichen mir die Haare aus der Stirn. Sie schaute mich an und lächelte – und mir wurde klar, dass ich mich verliebt hatte. Ich drückte sie fest, ließ sie meine Liebe spüren. »Ich mag deine Wohnung«, sagte sie. »Ich mag dich«, erwiderte ich. Sie rollte sich auf die Seite, ihre Brust gegen meine. Zwei Herzen, gemeinsam schlagend. »Du bist wirklich toll, Luca. Ich fühle mich wohl mit dir.« »Und ich mich erst mit dir!« Ich möchte sie für mich haben. »Ich habe dich wirklich gern, Aurora. Ich möchte es richtig machen mit dir.« Ihr Herzschlag wurde schneller. Es auszusprechen fühlte sich eigenartig an. Noch nie hatte ich diese Frage gestellt: »Willst du meine Freundin sein?«

Aurora lächelte. Es war ein anderes, mir unbekanntes Lächeln. Nervosität und Ablehnung sprachen daraus. Sie sagte viele Worte, ich hörte nur eines.

»Nein.«

[[…     … …]]

Aurora
4

Verliebtsein war ein wunderschönes Gefühl. Als würden Geburtstag und Weihnachten auf einen Tag fallen. Jeden Tag. Wochenlang. Es war eine Naturgewalt, der man sich mit Freude ergab – manchmal sanft und lau, oft tosend und ungestüm. Vermutlich biologisch bedingt, vermutlich vergänglich, aber, ach, so schön.

Zurück in München schlief Aurora oft bei mir. Mein Bett war kleiner hier, wir stapelten. Viermal Sex am Tag reichte uns nicht. Unsere Lippen schmerzten, aber ich bekam nicht genug von ihr. Neben ihr zu sein und sie nicht zu berühren: reine Folter. Noch schlimmer war es nur, sie nicht zu sehen.

Wenn wir nicht beieinander waren, schrieben wir uns Nachrichten: über interessante Menschen, die wir auf der Straße gesehen hatten, lustige Dinge, die uns selbst oder Freunden passiert waren, oder humorvolle Memes aus dem Internet.

Sie schrieb: »Wie nennt man einen trainierten Waschbären?«

Ich schrieb: »Keine Ahnung. Wie denn?«

»Na, eine Waschmaschine.«

Ich schickte viele Lachsmileys.

Unsere digitalen Gespräche blieben locker, über ernste Themen redeten wir persönlich. Wobei Aurora ernste Themen ungern besprach. Oft konnte sie keine Worte für das finden, was sie sagen wollte. Sie drückte ihre Gefühle nonverbal aus. Gefiel ihr mein Hemd nicht, hob sie die Augenbraue. Mochte sie es, strich sie mir über die Brust. Keine Worte, dennoch verstand ich sie.

Sie zeigte mir ihre Lieblingsmusik, schickte mir Lieder, die ich mir anhörte, wenn ich alleine im Bett lag. Von Mozartsinfonien zu Boogie-Woogie-Templates, von Filmmusik zu Techno-Beats war alles dabei. Da sie kaum über Persönliches sprach, glaubte ich, sie teile mir ihre Gefühle mithilfe ihrer Liedempfehlungen mit. Aufmerksam lauschte ich den Texten und suchte nach offensichtlichen Bedeutungen. Ich interpretierte Zeilen: Stuck in a rut you can’t get out klang nach einer Aufforderung zur Aufmunterung, Only you can make me come alive nach einer Liebeserklärung. Ich nahm alles von ihr, das sie bereit war zu geben.

Aurora hinterließ Spuren in meinem Leben, die man sah: frisches Gemüse in meinem Kühlschrank. Lockige Haare in meiner Wohnung. Kratzspuren auf meinem Rücken. Vieles sah man nicht: Die Sensation der Berührungen ihrer Fingerkuppen an meinem Körper. Die Unruhe, wenn sie nicht bei mir war. Die Gewissheit, alles zu erreichen, solange sie bei mir war. Sie spornte mich an.

Wir joggten, radelten, spielten Tennis, Bowling und Golf, tauchten im Starnberger See und wanderten auf den Schafreuter. Mit Aurora mitzuhalten: unmöglich. Dennoch versuchte ich es. Je anstrengender, je abenteuerlicher, je riskanter, desto glücklicher war Aurora. Ihre Leidenschaft steckte mich an.

Ob hoch zur See oder im Gebirge ‒ mit ihr wollte ich überall hingehen. Bald warfen meine Zehen Blasen, meine Knie waren aufgeschürft, meine Finger aufgekratzt und meine Arme voller blauer Flecken. Auf meinen Schultern schälte sich die Haut wegen des Wanderrucksacks, und um mein rechtes Bein schlängelten sich Pusteln. »Du stellst dich aber auch an«, sagte Aurora, als ich zusammenzuckte, während sie mir eine Salbe auf die Eiterbläschen schmierte. Sie massierte den Wirkstoff in meine Wade ein. »Deine Muskeln sind echt groß geworden.« Ich gefiel ihr immer besser, was mir große Freude bereitete.

Zusätzlich zum Sport, den wir gemeinsam ausübten, tauchte Aurora ab. Sie trainierte mehrere Male die Woche für Schwimmwettkämpfe. Bei den Trainings war ich nicht geduldet, doch an Wettkampftagen saß ich im Publikum und feuerte sie an. Ihre Eltern kündigten sich stets an, waren bislang jedoch nie aufgetaucht.

Gegen Aurora wirkten andere Mitstreiter ungelenk, ihre Arme teilten das Wasser mühelos, mit ihrem Fußschlag ließ sie alle hinter sich zurück. Sie würde bald die Deutsche Meisterschaft schwimmen, hatte sie mir gesagt. »Habe jetzt endlich die eine Minute auf hundert Meter Kraulen hingelegt. Jetzt muss ich die Zeit nur noch bei einem Wettkampf schwimmen.« Heute kam sie bei 00:58 an. Die Menge jubelte, die jungen Männer lautstarker als die anderen. Bei der Siegerehrung winkte sie ihnen vom Podium aus zu, mich sah sie in dem Gedränge nicht, obwohl ich ihren Namen rief.

Später folgte ich dem Pfad aus nassen Fußabdrücken zu den Umkleidekabinen. Selten hatte sie so erschöpft ausgesehen. Ihre Eltern waren wieder nicht aufgetaucht. »Aber, Schatzi«, sagte Aurora mit neuer Kraft in der Stimme. »Ich hab’s geschafft.« Ich nahm ihre Tasche für sie. »Ich habe nie daran gezweifelt.« Sie legte ihren Kopf an meine Schulter, als wir zur U-Bahn spazierten und den beginnenden Regen ignorierten.

Die Regenfälle hielten mehrere Tage an. Sobald die ersten Sonnenstrahlen durch die Wolkenkrone fielen, unternahmen wir eine Radtour die Isar entlang. Aurora hätte mit ihrem Tempo den Tour de France-Siegern imponiert. Ich stieg in die Pedale, spürte das geriffelte Metall in meine Gummisohlen drücken. Grober Kies klapperte in meinen Speichen. »Da vorne links«, rief ich Aurora zu, die abbog und dem Weg folgte, der vor einem Maschendrahttor endete. Einige Male war ich bereits durch den Münchner Rosengarten spaziert – alleine oder mit einem Date. Noch nie mit Aurora.

Ich stellte uns Stühle inmitten zweier Rosenbeete. Wir erfreuten uns an den Blumen, deren schwere Köpfe sich nach Tagen im Regen der Sonne entgegenstreckten. Das Aurora-Aroma vermischte sich mit dem Duft der Rosen, wurde intensiver. »Ich liebe es hier«, sagte ich. Aurora zog mich an meinem T-Shirt zu ihr, dann flüsterte sie: »Ich liebe dich.«

Es war das erste Mal, dass sie es zu mir sagte, und es bedeutete die Welt für mich. Wir schmusten, meine Wirbelsäule kribbelte, meine Pusteln juckten. »Ich liebe dich auch«, sagte ich. Sie lachte. »Das weiß ich.«

Zum ersten Mal nahm Aurora mich mit zu sich nach Hause. Alles war klein und hatte seinen Platz. Wo ich mich auch hinwandte, überall empfing mich Auroras Geruch. Ihre Eltern waren weg, sie wusste nicht, wann sie wiederkamen. Wir legten uns in ihr Bett, dicht aneinandergekuschelt. Sie zeigte mir ein Fotoalbum. Die Seiten rochen staubig und knisterten beim Umblättern. Auf dem ersten Bild liegt Aurora in ihrer Krippe, noch winzig und unförmig. Ich blätterte zur nächsten Seite. Aurora schaut zu der Person hinter der Kamera, mit winzigen Schwimmflügeln und fehlenden Schneidezähnen. Auf einem anderen Foto konzentriert sich Aurora auf das Notenblatt vor ihr und schlägt die Klaviertasten an. Knister. Aurora präsentiert stolz einen großen Fisch in ihren Händchen. Knister. Aurora umarmt ihren Vater, auf ihrer Wange glitzert ein Schmetterling. Knister. Aurora steht auf dem Siegerpodest und erhält eine Medaille. Knister. Aurora mit Pickeln im Gesicht und demselben Lachen, das ich so liebte, seilt sich von einer Bergwand ab. Knister. Aurora unter einer großen Sechzehn mit Girlanden um den Hals. Knister. Aurora im Abendkleid. Knister. Aurora mit Freunden am Strand. Knister. Aurora im Handstand.

Ich lernte, wie ihre Eltern aussahen und dass ihre Mutter kein Geld für Kindersachen, aber für Schönheitsoperationen hatte. Aurora gewährte mir Einblick in einen Teil ihres Lebens, den ich bislang nur erahnen konnte. Sie machte sich damit verletzlich. Ich fühlte mich ihr näher als je zuvor.

Aurora schlief ein. Meine Augen blieben offen und auf ihr. Ich versprach mir, ich würde immer für sie da sein. Ich würde sie nie verletzen.

Leider versprach sie mir das nie.

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Aurora
9

Verliebtsein: eine unschuldig klingende Betitelung grenzenlosen Wahns. De facto: ein furchtbares Gefühl. Verliebte waren depressive Junkies, die händeringend nach ihrem nächsten Fix suchten. Sich ihrer eigenen Erbärmlichkeit nicht bewusst, sich dieser Sucht hoffnungslos ausliefernd. Jeder Streit mit der geliebten Person: eine Tragödie. Jede Versöhnung: eine Einkehr ins Nirwana mit der Hoffnung auf Glück und Zufriedenheit.

Also hoffte ich. Ich hoffte wider meine Intuition und lud Aurora nach Eglheim ein. Ob Nirwana oder Tragödie wusste ich nicht. Wie konnte ich ihr verzeihen, ihr das Vertrauen schenken, das nicht mehr existierte? Es gab zehntausende Arten, Liebe zu zeigen, stattdessen betrog sie mich. Wenn ich nur verstehen würde, warum sie es getan hat. Dann könnte ich verzeihen. Es zehrte an mir. Ich wälzte mich in meinem Bett, schweißüberströmt und frierend, meine Laken so verheddert wie meine Gedanken. Ich war ein Junkie, meine Spritze war leer – dennoch stach ich mich ohne Unterlass. Aurora sagte mir, sie liebe mich. Wie konnte man jemanden von ganzem Herzen lieben und trotzdem mit einer anderen Person intim werden?

Bene klopfte an meine Zimmertür, ich antwortete ihm nicht: Er ging. Henrik klopfte, ich blieb still: Er ging. Meine Mutter klopfte, wartete nicht auf eine Antwort und öffnete die Tür. Sie riss die Vorhänge auf und setzte sich an mein Bett. Mit gerunzelter Stirn fragte sie mich: »Was ist mit dir los?«

Plötzlich brach es aus mir heraus, und ich weinte hemmungslos. Meine Mutter blieb bei mir, hielt mich fest, auch als ich dachte, der Schmerz würde mich zerreißen. Sie stellte die richtigen Fragen, auf die ich wie immer keine Antworten hatte: »Ist sie das wirklich wert, Schatz?«, »Warum lässt du das mit dir machen?« und: »Wo soll das mit euch hinführen?«

Das Schluchzen half: Meine Gedanken ordneten sich, ich atmete wieder freier. Ich erklärte mein Handy zur Sperrzone. Es stresste mich, jede Minute eine Nachricht von Aurora aufblinken sehen zu können. Jede Minute darauf zu hoffen.

Von Markus’ Grillfest erfuhr ich erst, als er persönlich vorbeikam. »Du hast die Nachricht nicht angeschaut.« Madlene hatte er ausnahmsweise zu Hause gelassen. Er erzählte mir von den sieben Kilo Fleisch, die in seiner Tiefkühltruhe darauf warteten, auf den Grill geschmissen zu werden. »Würde uns freuen, wenn du kommst.« Früher hätte er meine verquollenen Augen bemerkt und mich gefragt, warum ich mein Handy nicht dabeihabe. Heute interessierte es ihn nicht mehr. Seine Madlene regierte seine Gedanken wie Aurora die meinen. »Ich bin zurzeit kein guter Partygast, Markus.« Er hörte mich nicht. »So viele Leute haben wir nicht eingeladen. Wird ein chilliger Abend«, sagte er.

Ich wollte hingehen, ich wollte nicht hingehen. Schlussendlich drängten mich die mitleidigen Blicke meines Bruders aus dem Haus.

Madlene empfing mich überschwänglich. »Luca, schön, dass du da bist. Setz dich hin, wir bringen dir gleich was zu trinken.« Sie reichte mir einen Plastikbecher mit meinem Namen darauf – Plastikteller und Besteck lagen auf den Tischen bereit. Ich grinste beim Gedanken an Sarah, die sich bei dem vielen Plastikmüll totärgern würde. Ich hatte Sarah noch nichts von Auroras Betrug erzählt. Vermutlich würde sie sich auch darüber totärgern. »Möchtest du ein Bier?«, fragte Madlene. Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte sie mir eine Flasche Bier in die Hand und wies mich in eine Richtung. Ich setzte mich auf eine Bierbank, die spürbar in den Rasen einsank.

Madlenes Freundinnen waren die einzigen Gäste außer mir. Sie versuchten, mich in ihre Unterhaltung miteinzubeziehen, gaben aber bald auf. Markus löste sich kurzzeitig vom Grill und brachte uns die ersten Fleischstücke. Für die Hälfte der Freundinnen gab es Seitanburger. »Dir kann ich wenigstens ein ordentliches Stück Fleisch geben.« Markus stieß mit mir an. »Die anderen sollten auch gleich da sein. Sie hatten noch ein Spiel.« Offenbar hatte er unsere ehemaligen Volleyball-Kollegen eingeladen. Ich hoffte, dass Noah nicht dabei sein würde.

Doch natürlich war er der Erste, der seinen Kopf durch die Tür streckte. Seine Sporthose war so kurz – genauso gut hätte er keine anziehen können.

»Luca«, sagte er. Wir begrüßten uns mit einem knappen Handschlag. «Ich habe mich schon gefragt, ob du auch hier bist.« An Madlene gerichtet fuhr er fort: »Wie geil es hier riecht. Ich freu mich schon so auf das Essen.« Noch bevor er saß, hatte Noah ein Stück Rindfleisch im Mund.

Er presste sich neben mich auf die Bank, obwohl kaum Platz war. In einer ruhigen Minute taxierte er mich. »Ich habe gestern Nacht von dir geträumt«, flüsterte er, während er sich eine Portion Couscous-Salat auf den Teller schöpfte.

»Worum ging’s?«

Beiläufig legte Noah seine Hand auf meinen Oberschenkel. »Ich denke, das weißt du schon.« Er gluckste und verschluckte sich beinahe. Schau, Aurora, er findet mich attraktiv. Ich lachte auch, doch es schmeckte nicht.

»Was macht deine Freundin eigentlich heute Abend?«, fragte Noah. »Wieso ist sie nicht hier?« Ich schob seine Hand von meinem Schenkel und stand auf.

Nach meinem achten Bier wollte Markus mir keines mehr bringen. Also holte ich es mir selbst. Mit der Bierflasche in der Hand suchte ich nach dem Flaschenöffner. Für einen Moment fühlte ich meine Hosentasche vibrieren, doch mein Handy lag zu Hause. Hat Aurora noch mal geschrieben? Ich musste nach Hause und nachsehen. Ich setzte ein Alibi-Grinsen auf, torkelte durch den Garten zum Tor und rammte mit der Schulter dagegen.

»Luca, alles okay bei dir?« Noah stellte mich gerade. »Gib mir die Bierflasche. Denkst du nicht, du hast genug?« Markus war auch da. Er redete viel zu laut: über mich, über Alkohol, über Madlene … Was interessierte mich Madlene? Ich musste auf mein Handy schauen.

»Ich gehe jetzt nach Hause«, kündigte ich an. Noah begleitete mich. »Ich wohne nebenan, das schaffe ich auch alleine.«

»Klar schaffst du das, aber ich komme trotzdem mit.« Ich spürte Noahs Hand auf meiner Schulter. Noah gefalle ich. Er würde am liebsten mich küssen, keinen anderen Kerl.

»Was?«, fragte Noah.

»Ich habe nichts gesagt«, erwiderte ich.

»Doch, hast du. Und klar gefällst du mir. Sonst wäre ich jetzt nicht hier bei dir, sondern mit den anderen. Geht es dir wirklich gut?« Ich kramte meinen Haustürschlüssel hervor. »Oh, das freut mich zu hören«, sagte ich und ignorierte seine Frage. Er half mir, das Schlüsselloch zu finden.

Die Räume waren dunkel, sogar meine Mutter schlief schon. Fern von möglichen Blicken wanderten Noahs Hände, er fasste mich an der Hüfte, zog mich zu sich. Hat Aurora sich auch so gefühlt? Sein Atem schlug gegen meinen Hals, raue Fingerspitzen fuhren über meine Wangen. »Soll ich aufhören?«, flüsterte er mir ins Ohr, biss in mein Ohrläppchen. Ich legte eine Hand auf seine Brust, bemerkte die feinen Härchen darauf. Ich will es verstehen. Süßer Barbecue-Geruch in meiner Nase, seine übertriebene Körperwärme an meiner Haut. Ich muss es verstehen! Ich küsste ihn.

Als er gegangen war, weinte ich. Meine Mutter fand mich auf der untersten Treppenstufe. Sie zog mir die Schuhe aus, fragte mich, ob etwas passiert sei. Ich konnte ihr unmöglich von Noah erzählen, dann wüsste sie, was für ein furchtbarer Mensch ich war. Ich ekelte mich vor mir selbst. Ich duschte, putzte mir die Zähne, wusch meinen Mund aus – der Barbecue-Gestank verschwand nicht. So schlimm fühlte es sich an, jemanden zu hintergehen, den man liebte. Warum machst du es dann, Aurora? Warum machst du es dann?

Am Samstag versteckte sich die Sonne hinter dichten Wolken. Aurora scherte das nicht: Sie trug ein weißes Blumenkleid. Ein Träger rutschte ihr ständig von der Schulter. Sie unterbrach ihren Redefluss, wenn sie ihn hochzog. »Luca, ich möchte noch einmal sagen, wie leid es mir tut. Dass du dich so … « Sie zog ihren Träger wieder hoch. » … so schlecht gefühlt hast wegen mir. Ich hab Mist gebaut. Das hast du nicht verdient. Kannst du … « Träger nach oben. »… kannst du mir verzeihen? Bitte verzeih mir. Ich liebe dich. Ich hoffe, du weißt das!«

Wir aßen zu Mittag: Meine Mutter und Bene saßen mit am Tisch. Henrik steckte in Arbeit fest, daher übernahm Aurora seinen Platz. Meine Mutter war außergewöhnlich freundlich zu Aurora. Sie stellte ihr viele Fragen, wirkte interessiert. Bene hingegen beobachtete Aurora und sagte wenig. Ich wusste nicht, was ich reden sollte, und war froh, dass wir nicht alleine miteinander waren. Als meine Mutter uns abends Gute Nacht wünschte, umarmte sie Aurora wie zum Abschied. In ihrem Kopf war der Ausgang unseres Gesprächs bereits klar.

Aurora saß vor mir, redete, entschuldigte sich. Sie weinte nicht. Vielleicht kam ihr rutschender Träger dazwischen. Ich hatte Aurora noch nie so viele Worte auf einmal sagen hören. Wieso musste sie erst das Gefühl haben, sie könnte mich verlieren, bevor sie mit mir sprach?

Ich wollte sie in den Arm nehmen, sie meine Liebe spüren lassen – aber was dann? Ihre Worte waren zu spärlich und kamen zu spät. Ich zweifelte an ihrem Wahrheitsgehalt. Auch daran, dass es nie wieder passieren würde. »Ich kann heute Nacht auf der Couch schlafen und morgen wieder nach Hause fahren«, sagte sie und legte sich auf die Couch.

Ich löschte das Licht.

Mein Herz pochte, die Dunkelheit legte sich mit kalten Fingern um meinen Hals und drohte mich zu ersticken. Würde sie einfach verschwinden? Wie mein Vater nach der Scheidung meiner Eltern. Ich hatte geglaubt, mein Leben würde immer bleiben, wie es war. Damals täuschte ich mich. Heute kannte ich die Welt ein wenig besser. Doch eine Welt ohne Aurora, ohne meine Aurora: unvorstellbar.

Außerdem hatte ich sie genauso hintergangen wie sie mich. Wie konnte ich über sie urteilen? Sie betrog mich, um mit jemand anderem zusammen zu sein. Ich betrog sie, um mit ihr zusammen bleiben zu können – aber war da wirklich ein Unterschied?

.. … ..

Am Ende bin ich erschien am 23. März 2020 im Diederichs-Verlag.

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