Ein Tag von höchster Qualität

von Annika Kemmeter

Ich erkenne in den Wolkenformationen einen Engel. Ein Augenschlag und er verfliegt, verwischt, verschwindet. Ich habe ihn dir nicht zeigen können. Ist er überhaupt da gewesen?

Stille trotz Radio. Einmal sage ich zaghaft deinen Namen. Der Hall huscht in die Sofakissen, schmiegt sich in den Teppich, kriecht unter die Tapete. Ein Hall hinterlässt keine Zeichen. Ohne dich – habe ich da überhaupt eine Stimme?

Ich wickle mich in Daunen und Wolle, ein Frösteln ohne Frost. Der Winter lässt sich nicht mehr haschen. Wie ich. Wir beide vereint im Nichtsein. Er macht sich keine Mühe, vor meine Tür zu treten. Ohne ihn beginne ich zu schwitzen, aber zu leicht, um Flecken zu hinterlassen.

Den Weg durch den Wald endet am Friedhofstor. Schwarze Mäntel schleichen zwischen den Steinen. Ich trage schwarz, aber keine Trauer. Mich bewegt nichts. Ohne dich fehlt es an Kontur. Niemand spiegelt meine Gedanken. Ich bin unsichtbare Materie im unsichtbaren Raum.

Ich stelle die Witwe scharf, als ihre Hemmungen fallen. Lautes Weinen und stützende Arme. Sie fühlt, sie lebt ein letztes Mal. Ihr Mann sinkt hinab. Blüten fallen und Erde und begraben ihre Gespräche, Erfahrungen, Erinnerungen. Die Sicherheit gelebt zu haben. Und was soll noch kommen? Der Schnitt ist tief, sogar ich spüre ihn aus der Ferne. Wohliges Leid weht durch die Kühle herüber. Frischer Schmerz von höchster Qualität.

Am Abend kommst du nach Hause. „Wie war dein Tag?“, fragst du. Was ich erzähle, wird wahr. Ich entscheide mich für ein Lächeln. Es stirbt der Engel, es stirbt das Wort, es stirbt der Tod. Wer geht zuerst? Du oder ich? Und wenn du es bist, wie lebendig werde ich mich fühlen, für diesen einen Tag?

Image by sandid from Pixabay

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4 Kommentare Gib deinen ab

  1. Heute morgen hatte ich eine vergleichbare himmlische Erscheinung – am düsteren Regenhimmel zwei helle Flügelflecken – s ist dann ja auch gleich ein Gedicht draus entstanden…

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  2. Wolkenformationen werden und vergehen schnell. Leben ein klein wenig langsamer, gewinnen ein bißchen mehr Kontur. Aber leben vergeht, verweht ebenso – und entsteht neu, aus Tod Leben, aber natürlich nur wenn auch Leben stirbt. Ewiger Kreislauf, zumindest fast ewiger, schon die Alten kannten einen Bruch, ein Weltenende und eine Weltenschöpfung, aber auch die wieder als aufeinanderfolgende Reihung wie die kleinen Leben der Eintagsfliegen, der Menschen, der Eichenbäume auch.
    Wolken und Steine trauern nicht, wenn einer der ihrigen verschwindet. So glauben wir zu wissen. Elefanten und Bäume und manch anderes Lebewesen sehr wohl. Doch endlich löst sich alles in Vergessen.

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    1. annikakemmeter sagt:

      Vielen Dank für diesen poetischen Kommentar, Petra!

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      1. Immer gerne, danke für anregende Texte! Wie wohl Annika meine findet?

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